Nicht ohne meinen LeibwächterKAUKASUS

Nicht ohne meinen Leibwächter

Im nordkaukasischen Inguschetien haben Menschen einen Preis. Nur mit bewaffnetem Schutz bewegen sich Ausländer durch das Land.

Von Andrea Jeska

EM – Wenn Gott auch Inguschetien schuf, dann war es ein Fehler im Betriebssystem der Schöpfung. Ein unbeachteter „default“, in dessen Folge Chaos und Not entstanden, die durch kein Reparaturprogramm gemildert werden.

Am Fuße des Kaukasus gelegen bildet Inguschetien den südlichen Rand der russischen Föderation. Seit Zar Iwan der Schreckliche Mitte des 16. Jahrhunderts im Nordkaukasus die Kosakenfestung Tarki errichten ließ, ist dieser Rand ein Dorn in Rußlands Fleisch. Den russischen Kolonisierungsbestrebungen begegneten die Kaukasier mit erbittertem Widerstand und einem Unabhängigkeitsbeharren, das seinesgleichen sucht. Die Muridenkriege unter dem Dagestaner Imam Schamil forderten im 19. Jahrhundert Tausende von Toten, und selbst als Schamil 1859 verhaftet und der Kaukasus eingenommen war, gelang es nicht, ihn zu befrieden. Noch immer sind Partisanen, Attentäter und Geißelnehmer die Waffen der Bergvölker – und die Schrecken der Russen.

Inguschetien scheint wie aus Zeiten, in denen die Moderne nicht einmal morgendämmerte. In der winzigen Republik von 3.600 Quadratkilometern Größe verbrüdern sich uralte Traditionen wie Clanwirtschaft und Blutrache mit einer aus Not, Gier oder einfach Charakter entsprungenen Abwesenheit zivilgesellschaftlicher Grundlagen. Es gibt keine Regeln außer jenen, in denen es um Ehre und Mannhaftigkeit einerseits, Geld und Einfluß andererseits geht. Es gibt keine Gesetze, es gibt nur Deals, in Hinterhöfen und an dunklen Ecken ausgehandelt. In Inguschetien zählt ein Menschenleben soviel wie der Preis, der sich dafür erzielen läßt und Ausländer werden in den höheren Kategorien gehandelt.

In der Zone

„Nicht ohne meinen Leibwächter“ wäre ein Hollywood-Titel, der in Inguschetien Erfolg haben könnte. Bodyguards sind alltägliche Realität. Ob Nichtregierungsorganisation (NGO), Geschäftsmann, Politiker oder Clanchef, die Bewegungsfreiheit aller ist an Männer mit Maschinenpistole gebunden. Die Bewachung gefalle ihm nicht, sagt ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation „World Vision“. Noch weniger aber gefiele es ihm, durch Kopfabschneiden zu sterben.

Inguschetien ist das Nachbarland von Tschetschenien und als solches Teil der Zone –Sperrzone, Todeszone, Zone der verbrannten Erde. In dieser Zone werden Abstände nicht mehr nach Kilometern bemessen, sondern nach der Anzahl der Militärposten, der „checkpoints“, die man durchfahren muß. Die Länge einer Reise errechnet sich aus der objektiven Wartezeit an diesen Posten plus der jeweiligen Laune des Grenzpostens. Wer nach Tschetschenien will, rechnet zu dieser Zeit noch die Verzögerungen hinzu, die durch Gefechtsfeuer entstehen können, und zu den Reisekosten, jene, die anfallen, wenn die entsprechenden Dokumente nicht in Ordnung sind.

In dieser Zone gibt es kein Recht auf Unversehrtheit. Entführungen haben eine lange Tradition. Dienstpersonal wurde früher gerne durch Verschleppungen rekrutiert und fristete in einsamen Bergdörfern für immer verschwunden ein Sklavendasein. Verschleppt wurde auch, um Konkurrenten aus dem Weg zu räumen oder Rache zu nehmen. Noch immer beliebt sind Verschleppungen schöner Jungfrauen zwecks Heirat. Einmal entehrt bleibt den Frauen in der islamischen Gesellschaft ihres Landes keine Wahl, als ihren Entführer zu heiraten.

Der Sozialismus befriedete die Entführerszene im vergangenen Jahrhundert vorübergehend. Und es ist schwer nachzuvollziehen, ob es der Einfluß der Ideologie war, der die den Nordkaukasiern unterstellte archaische Wildheit eindämmte, die Macht der sowjetischen Gesetze oder die Nachwehen der Deportation der Inguschen und Tschetschenen im Zweiten Weltkrieg. Von dem Schock, seines kulturellen und historischen Erbes beraubt worden zu sein, hat sich das wainachische Volk, wie sich die Inguschen und Tschetschenen ethnisch bezeichnen, bis heute nicht erholt.

Erst der Tschetschenienkrieg (1994-96), in dessen Folge Moskau die Kontrolle über den Nordkaukasus verlor und etliche Hilfsorganisationen nach Inguschetien kamen, hat Menschenraub wieder in Mode und zu ganz neuen Ausmaßen gebracht. Heute wird in Inguschetien und im benachbarten Tschetschenien im großen Stil entführt. Dabei geht es kaum um Geld, selten sind Banditen die Täter. Von 431 Entführungen, die im vergangenen Jahr in Inguschetien und Tschetschenien offiziell registriert wurden, erfolgten nach Ansicht der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“ die meisten im Rahmen der russischen Zachistki. Zachistki sind Säuberungsaktionen, bei denen die russischen Soldaten Haus für Haus durchkämmen und jeden mitnehmen, der ihnen verdächtig vorkommt. 127 der Entführten tauchten lebend wieder auf, 47 waren ermordet worden, von 247 fehlt jede Spur. Laut Memorial ist die Zahl der tatsächlichen Entführungen dreimal so hoch, die der Ermordungen mindestens viermal.

Über die Gründe der Entführungen zuckt man auch in Inguschetien die Schultern. Der Befehlshaber der russischen Truppen im Nordkaukasus, Valery Baranow, verneint die Beteiligung seiner Soldaten. Die Geißelnahmen gingen einzig auf das Konto einheimischer Krimineller, behauptet er.

Ausländer im Visier

Wer und warum auch immer: Die inguschetische Provinzregierung jedenfalls sah sich gezwungen, den Hilfsorganisationen den bewaffneten Schutz von Soldaten und Polizisten aufzuerlegen. Ein Übereinkommen, von dem die Regierung profitiert, indem sie das Gehalt für die zur Hilfsorganisations-Leibgarde aufgestiegenen Sicherheitskräfte einspart und an deren „Leihgebühr“ darüber hinaus verdient. Außerdem hat der russische Geheimdienst FSB die Ausländer auf Schritt und Tritt im Visier. Andererseits scheint die Bewachung erforderlich, denn es gibt im Kaukasus Fälle entführter Mitarbeiter von Hilfsorganisationen.

Nicht vergessen ist in nordkaukasischen Hilfskreisen auch das angeblich authentische Video, auf dem tschetschenische Rebellen mit den Köpfen von Ausländern Fußball spielen.

Eine Unterscheidung zwischen politischen und rein finanziell motivierten Verbrechen fällt in Inguschetien schwer. Die Zahl der Nachnamen ist gering, es gibt eine handvoll Clans und mehr nicht. In diesen Clans blüht Günstlingswirtschaft, ist die Vernetzung der Familienmitglieder so eng, daß keiner unschuldig bleibt, wenn einer sich schuldig macht.

Durch einen geschickten Kniff der russischen Jurisprudenz ist die kleine Kaukasusprovinz zur Steuerfreizone geworden. Damit hat Moskau sich die Dankbarkeit der Bevölkerung gesichert. Als der Krieg im Nachbarland Hunderttausende obdachlos machte und der Grundlagen einer menschenwürdigen Existenz beraubte, wurde aus der Freihandelszone auch eine Brutstätte für Kleinkriminelle, Hasardeure, Halsabschneider und Menschenhändler, ein Königreich für Wodka-, Waffen- und Erdölschmuggel. Verschwendet ist kriminelles Talent, das dort nicht zur Entfaltung gelangt. Der heute mögliche Reichtum jedenfalls schien undenkbar, als vom sozialistischen System erzwungene Ruhe herrschte und die geophysische Beschaffenheit der kaukasischen Republik zu nichts anderem taugte als zur Aufzucht von Kühen und Schweinen.

Man muß nicht nach Tschetschenien fahren, um die Grausamkeit, mit der dort der Krieg geführt wird, ermessen zu können. Ein Teil Tschetscheniens ist nach Inguschetien gezogen. Die Zahlenangaben darüber, wie viele Flüchtlinge 1999, als der zweite Tschetschenienkrieg begann, vor den russischen Bomben mit Bussen, Lastwagen und Autos, in riesigen Kolonnen ins Bruderland flohen, schwanken. Je nachdem, wer gezählt hat. Die russische Regierung spricht von 100.000 Menschen, die Hilfsorganisationen haben 200.000 gezählt, fast soviel, wie Inguschetien Einwohner hat. Den Daten des vergangenen Jahres zufolge sind davon 6.000 geblieben, die in Armut und Hoffnungslosigkeit auf den Tag warten, an dem sie in ihre Heimat zurückkönnen.

Behausungen aus Preßholz- und Pappkarton

Die Geschichten, die man in den inguschetischen Lagern hört, ja, die Lager selbst, menschenunwürdige Elendsbehausungen, reichen als Zeugen des tschetschenischen Schreckens. Morde, Folter, Vergewaltigungen, Massenerschießungen, nächtliche Durchsuchungen, Verschleppungen – die ganze traurige Saga eines Volkes, dem Vernichtung droht, und niemand will davon wissen. Scharen von Journalisten und Hilfswilligen sind gekommen, haben Notizen gemacht. Und niemand will etwas ändern. „Mein Sohn ist verkrüppelt, er braucht eine Operation.“ – „Meine Kinder haben Hunger.“ – „Meine Tochter spricht nicht mehr.“ – „Ich habe drei Söhne verloren.“ Geschichten von Verwandten, die sich auf den Weg in ein vermeintlich sicheres Europa machten und von denen man nie mehr hörte. Von Söhnen, die gegen die Russen kämpfen wollten und deren Überreste die Mütter identifizieren mußten. Mit gepreßtem Atem erzählt, mit langen Pausen, mit müden Gesichtern, mit Händen, die sich umeinander schlingen und doch keinen Halt finden.

In den surreal anmutenden Behausungen ohne Wärme und Sonnenlicht –, in Wohnwagen, ausrangierten Eisenbahnwaggons, in Preßholz-Pappkarton-Wellblech-Plastik-Hütten sind die Legenden der Verzweiflung so groß, daß kaum Platz für ein Leben bleibt. Arbeitslosigkeit, Geldmangel, Heimweh. Altare mit verschwommenen Fotos junger Männer, schwarzes Band ist darum gewunden. Frauen, die nichts mehr hoffen. Familienväter, die ihre Familie nicht mehr schützen, ernähren können, die aufgehört haben, sich als Männer zu fühlen, und hilflos zusammengesunken sich der Not ergeben haben. Und Männer, deren Augen hart sind, die ihren Frauen das Reden verbieten und die Fremden davonjagen. Nimmt man die langen Kolonnen aus Militärfahrzeugen hinzu, die sich an Inguschetiens einziger Stadt Nasran vorbei zur tschetschenischen Grenze bewegen, lauscht man dem gelegentlichen Gefechtsfeuer bei Nacht, reicht das vielleicht noch nicht, um die Ausmaße des Alptraums zu kennen. Wohl aber für kaltes Entsetzen und Verständnis der Angst, aus der die Sehnsucht nach bewaffnetem Schutz entsteht.

Vom Krieg in Tschetschenien hat Inguschetien so offensichtlich profitiert, daß man peinlich berührt ist. Nasran, einst eine Ansammlung von Schweinekolchosen, ist auch heute im Zentrum nicht mehr als ein diffuses Konglomerat aus Baracken, schlammigen Straßen, hungrigen Katzen. Doch die aus rot gebranntem Ziegel erbauten Einfamilienheime, die sich in Neubausiedlungen um das Zentrum gruppieren, sind Villen mehr als Häuser, mit riesigen Bogenfenstern und verschnörkelten Türmchen.

Zerstörte Traditionen

Auch Alikhan, Chef einer sechsköpfigen Leibwächtermannschaft, profitiert vom politischen und menschlichen Chaos. Für ihn bedeutet die Angst vor Entführungen Privilegien: ein gutes Gehalt und Einblick in die Welt der Ausländer. Das Verhältnis zu seinen Schützlingen ist ein enges. Man ißt zusammen, diskutiert beim Tee, zeigt die Fotos der Kinder. Es beschäme ihn, sagt er, daß Fremden in seinem Land nicht mehr die traditionelle Gastfreundschaft gewährt werde, sie sich mit Pistolen beschützen lassen müßten. Die Inguschen seien ein freundliches Volk, Gäste zu bewirten, sei eine Freude und Ehre. Der Krieg habe die Traditionen zerstört und auch die Bruderschaft mit den Tschetschenen. Am Anfang sei man noch gerne zu Hilfe geeilt, habe fast jede Familie eine tschetschenische Flüchtlingsfamilie aufgenommen. In der Endlosigkeit des Konflikts sei die Hilfsbereitschaft aber an ihre Grenzen geraten. „Ich sage es nicht gerne, aber die meisten Leute hier wären froh, wenn die Flüchtlinge endlich gehen würden.“ Dieser Wunsch ist bereits dabei, erfüllt zu werden. Tschetschenien sei befriedet, die Flüchtlinge könnten zurückkehren, heißt es aus Moskau. Die Lager sollen ausnahmslos geschlossen werden.

Noch ist Inguschetien zu 85 Prozent von Rußland abhängig. Der europäische und amerikanische Drang zu den Ölquellen des Kaukasus aber hat sich herumgesprochen. Weil Nasran, in dessen Basar alle naselang eine Bombe explodiert, ein gefährliches Pflaster ist, mehr noch im Hinblick auf die kommenden Reichtümer, hat die inguschetische Regierung ihren Sitz nach Magas verlegt, wo auch der Flughafen liegt. Noch ist die Hauptstadt Magas nicht viel mehr als eine flache Ebene, in der einige Häuser der aufstrebenden Geldelite des Landes und zwei Regierungsgebäude stehen. Im monumentalen Palaststil hat Präsident Murat Sjasikow dort seinen Sitz und ein Parlamentsgebäude bauen lassen. Unter Hinweis auf die 150 Millionen Tonnen Rohöl, die Inguschetien im Jahr fördert, gibt sich Premierminister Timur Mugoschkow selbstbewußt. „Bis 2015 werden wir mit Hilfe westlicher Investitionen die Zuschüsse aus Moskau auf Null gebracht haben.“ Auf die Frage, ob das bedeute, Inguschetien wolle sich auf eigene Füße stellen, findet er eine kryptische Antwort: Sein Land werde in Zukunft nicht nach mehr Unabhängigkeit streben als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Man habe allerdings keinerlei Ambitionen, den tschetschenischen Weg zu gehen.

Kaukasus Russland

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