„Notizen eines Weltbürgers“ von Ryszard KapuscinskiGELESEN

„Notizen eines Weltbürgers“ von Ryszard Kapuscinski

Der Autor hat als Korrespondent Asien und den Mittleren Osten, Afrika und Lateinamerika bereist. Dabei kam er den Menschen so nah wie kaum ein anderer, weil er sie nicht nur beobachtete, sondern eine Zeitlang mit ihnen lebte. Heute gilt Kapuscinski vielen als einer der bedeutendsten Reporter des 20. Jahrhunderts.

Von Juliane Inozemtsev

„Notizen eines Weltbürgers“ von Ryszard Kapuscinski  
„Notizen eines Weltbürgers“ von Ryszard Kapuscinski  

W enn ihm jemand erzähle, dass er ein Buch in einem Zug ausgelesen habe, dann sei das kein Lob für das Buch, sagte der große polnische Journalist und Autor Ryszard Kapuscinski. Ein gutes, wichtiges Buch, davon war er überzeugt, lese man langsam, nachdenklich, immer wieder die Lektüre unterbrechend und über das soeben Gelesene nachdenkend. „Wenn jemand schreiben oder sagen würde: die Lektüre dieses Buches braucht viel Zeit und Mühe, (...) das wäre in meinen Augen ein richtiges Lob.“

Ob er auch beim Zusammenstellen seiner „Notizen eines Weltbürgers“ so dachte, bleibt sein Geheimnis. Fest steht, dass es tatsächlich ein Buch ist, dass dem aufmerksamen Leser Mühe bereitet, zumindest mehr, als man es wahrscheinlich von Tagebucheinträgen, Gedankensplittern, persönlichen Erinnerungen und Beobachtungen erwarten würde. Doch gerade deshalb ist es ein Erlebnis.

Einer der überzeugendsten Reporter des 20. Jahrhunderts

Kapuscinski wurde 1932 in der ostpolnischen Stadt Pinsk geboren, die heute zu Weißrussland gehört. 1945 zog er mit seiner Familie nach Warschau – in jene Stadt, die ihm zur Heimat wurde. Ab den Fünfziger Jahren reiste er als Korrespondent nach Asien und in den mittleren Osten, später auch nach Afrika und nach Lateinamerika. Dabei kam er den Menschen so nah wie kaum ein anderer, weil er sie nicht nur beobachtete, sondern eine Zeitlang mit ihnen lebte. Heute gilt Kapuscinski vielen als einer der bedeutendsten Reporter des 20. Jahrhunderts.

Seine im Laufe vieler Jahre entstandenen Notizen sind im Februar 2007 erstmals in deutscher Sprache im Eichborn Verlag erschienen – wenige Tage nach dem Tod des Autors. In Polen hatte der Autor seine Aufzeichnungen bereits einige Jahre zuvor unter den Titeln „Lapidarium IV“ und „Lapidarium V“ veröffentlicht – eine charmante Untertreibung. Übersetzt hat sie Martin Pollack. Ihm verdankt der Leser die Illusion, Kapuscinski hätte seine Notizen auf Deutsch gemacht.

Ein Reisender, mit dem Ziel die Welt zu übersetzen

Beim Lesen hat man das Gefühl, als begleite man einen Reisenden, der sein Ziel – das „Übersetzen der Welt“ – zwar genau kennt und dennoch viele Umwege in Kauf nimmt, um die Welt auch verstehen zu lernen. Quell seiner Erkenntnisse sind historische Ereignisse ebenso wie alltägliche Begebenheiten, Geschichten aus der weiten Welt ebenso wie Episoden, die sich vor der Haustür in Warschau zugetragen haben.

Eben noch saß er mit Sergej Iwanowitsch Selajew, Oberst im Ruhestand und „Held der Sowjetunion“, im Zug von Moskau nach Riga und ließ sich erzählen, wie dieser im Zweiten Weltkrieg mitten im Gefecht in ein Baumloch fiel und später dafür ausgezeichnet wurde, dass er vermeintlich als Einziger die Stellung gehalten hatte.

Schon findet sich Kapuscinski, und der Leser mit ihm, in der Ausstellung des afrikanischen Malers Tingatinga im Ethnografischen Museum in Warschau wieder. „Tingatinga war ein großes malerisches Talent (...)“, schreibt Kapuscinski, der ihn aus Daressalam kannte, als Tingatinga in den 60er Jahren dort Straßenhändler war. „Er malte die bunte, üppige, oszillierende Welt Afrikas.“ Aus dem Katalog der Ausstellung erfährt er, dass Tingatinga 1972 versehentlich in Daressalam von der Polizei erschossen wurde, als diese Schüsse auf einen fliehenden Straßendieb abgab.

Ein Leseerlebnis aus Fragmenten

Obgleich Kapuscinski der Meinung war, man könne niemals Ethnograf seines eigenen Stammes sein, weil man nur von außen verstehen könne, beschreibt er seine Landsleute wunderbar treffend und dabei liebevoll-stichelnd: „In der Tramwaj Nr. 15, die nach Ochota fährt, kommt es zu einem Streit. ‚Was drängeln Sie so, gute Frau?! Sie könnten sich wenigstens entschuldigen!“

‚Ich? Entschuldigen? So ein Bauernlümmel!’ ‚Bauernlümmel? Sie sind es, der das Stroh noch aus den Stiefeln schaut! Meine Familie war schon im 14. Jahrhundert in Warschau gemeldet...’. In diesem Ton geht es weiter. Wenn jemand in Warschau einen Menschen wirklich verletzen, lächerlich machen und niederträchtig behandeln möchte, dann reibt er ihm seine bäuerliche Herkunft unter die Nase(...).“

Bei einigen Passagen mag sich der Leser fragen, was Kapuscinski dazu bewogen haben könnte, zwischen kostbare, weise Sätze auch scheinbar Nebensächliches zu stellen. So schreibt er einen – wenn auch kurzen – Abschnitt über eine Schmetterlingsart namens Monarch, die in Kanada lebt und jedes Jahr nach Mexiko wandert, wo sich die gelben Falter, mit schöner schwarzer symmetrischer Zeichnung, in Tannenwäldern sammeln.

Doch die Antwort darauf gibt der Autor selbst. Eine zu große Anhäufung von Kostbarkeiten, von Konzentration der Sprache oder Verdichtung von Bildern in einem Buch sei „wie ein Kuchen, der nur aus Rosinen besteht“ – ungenießbar, unverdaulich oder, im Falle eines Buches, unlesbar.

Kapuscinskis Buch ist ganz und gar nicht unlesbar. Es ist ein Leseerlebnis. Dennoch bleiben seine Notizen Fragmente und können die ausführlichen Reportagen des Weltbürgers nur ergänzen.

*

Rezension zu: „Notizen eines Weltbürgers“ von Ryszard Kapuscinski, Eichborn Verlag Frankfurt/Main, 2007, 304 Seiten, 19,90 Euro. ISBN: 3-821-85756-0

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