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Tschetscheniens Nachbarländer wollen die Fluchtlinge nicht länger haben. Eine Alternative aber gibt es nicht.

Von Andrea Jeska

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Flüchtlinge in Tschetschenien  

EM – Nach der Ermordung des tschetschenischen Präsidenten Achmed Kadyrow hat sich die Lage für die tschetschenische Bevölkerung weiter verschlechtert. Schon zu Regierungszeiten Kadyrows hat sich nach Aussage des Vorsitzenden der deutsch-kaukasischen Gesellschaft, Ekkehardt Mass, die Zahl der aus Tschetschenien flüchtenden Menschen verzehnfacht. Anders als in den vergangenen fünf Jahren zieht der Strom der Flüchtlinge nicht mehr in die benachbarten Länder Georgien, Inguschetien oder Aserbaidschan, sondern nach Westeuropa. Laut Informationen der Gesellschaft für bedrohte Völker kommen allein in Deutschland jede Woche 50 Tschetschenen an, um von hier nach Frankreich, Belgien oder Norwegen weiter zu reisen, wo sie sich politisches Asyl erhoffen. Flüchtlingsorganisationen gehen davon aus, daß in Europa zur Zeit etwa 50.000 Flüchtlinge aus Tschetschenien leben, davon in Deutschland rund 5000.

Seit Beginn des 2. Tschetschenienkrieges im Jahr 1999 sind mehrere Hunderttausend Menschen obdach- oder heimatlos geworden. Die einen gingen über die Berge und nahmen mit, was sie tragen konnten. Sie schleppten die Kinder zum Paß hinauf, schleiften die Alten hinter sich her. Als sie nach drei Tagen auf der anderen Seite das georgische Pankisi-Tal erreichten, waren sie froh, zumindest überlebt zu haben.

Mit Kampfflugzeugen gegen Flüchtlingstrecks

Die anderen flohen über Land ins benachbarte Inguschetien. Die Russen hatten ihnen einen Korridor versprochen, aber als sie in einer langen Wagenkolonne aus ihrem zerstörten Land auszogen, flogen Kampfflugzeuge heran und bombardierten den Treck. Viele starben, andere erreichten in Panik und ohne ihre Habe Inguschetien. Sie krochen überall unter, wo ein Dach und Wände ihnen Schutz boten. Über 200.000 waren es schließlich, fast mehr als Inguschetien Einwohner hat.

Manche aber blieben in ihrem Land aus Trümmern, erduldeten die Nähe des Todes. Sie versteckten sich in Kellern, richteten es sich in den Ruinen ein. Sie lebten ohne Wasser und Strom, sie fürchteten sich vor den russischen Bomben und wehe, es klopfte an der Tür. Wen die Russen mitnahmen, den sah man selten wieder.

Seit der russische Staatspräsident Putin seinen Krieg gegen Tschetschenien zum Teil des internationalen Kampfes gegen Terrorismus erklärte und der Westen ihm nicht widersprach, sind die Refugien für die tschetschenischen Flüchtlinge rar geworden. In Inguschetien haben die Behörden auf Weisung aus Moskau in den vergangenen zwei Wintern die Flüchtlingslager Bela, Alina und Zatsita schließen lassen. Vermutlich zehntausende Menschen wurden obdachlos.

Auch die Tschetschenen im georgischen Pankisi-Tal betrachten ihre Zeit dort als abgelaufen. Seit Michail Saakaschwili Staatspräsident von Georgien ist, mehren sich unter den Flüchtlingen die Ängste, sie könnten der Preis für Saakaschwilis Annäherung an Moskau sein. Das Pankisi-Tal ist seit Jahren ein Zankapfel zwischen Georgien und Rußland. Die russische Regierung behauptet, tschetschenische Widerstandskämpfer nutzten Pankisi als Basislager, sogar ein Trainingslager von El-Kaida gäbe es dort. Moskau verlangt daher die Abschiebung der tschetschenischen Flüchtlinge – Repatriierung lautet der offizielle Begriff, den Präsident Putin verwendet.

Die Befürchtungen der Flüchtlinge sind nicht unbegründet. Kurz nach Saakaschwilis Ernennung zum Präsidenten verschwanden zwei junge Tschetschenen in Tiflis und tauchten in russischem Polizeigewahrsam wieder auf. Zudem macht sich Saakaschwili immer mehr die Sichtweise des Kremls zu eigen, wonach der Tschetschenien-Konflikt ein terroristischer Kampf fanatischer Wahhabiten gegen das säkulare Rußland ist. „Wir werden Pankisi nicht den Wahhabiten überlassen, sondern strengste Maßnahmen gegen sie ergreifen,“ sagte der georgische Präsident kürzlich auf einer Pressekonferenz.

„Jagd auf Politiker und Menschenrechtler“

Auch in der Hauptstadt Grosny und in den Dörfern Tschetscheniens wurde das Bleiben nach der Wahl des Anfang Mai ermordeten tschetschenischen Präsidenten Achmed Kadyrow gefährlicher. Nach Informationen aus Tschetschenien nahmen die nächtlichen Hausdurchsuchungen und Verhaftungen unter Kadyrow drastisch zu, wurden immer mehr Massengräber entdeckt. Die deutsch-kaukasische Gesellschaft berichtete auf ihrer Netzseite von einer dramatischen Verschlechterung der humanitären Verhältnisse „Die Mordkommandos Achmed Kadyrows und seines Sohnes Ramsan machten gezielt Jagd auf Politiker und Menschenrechtler und deren Verwandte. Nach Berichten der Menschenrechtsorganisation Memorial verschwinden jede Woche 10 bis 15 Menschen. Sie landen in Filtrationslagern, werden geschlagen und gefoltert. Allein im Januar konnte Memorial die Verschleppung von 45 Personen feststellen, mehr als die Hälfte wurde schwer mißhandelt und getötet.“

Dem Wunsch, Georgien zu verlassen, steht die Frage nach dem Wohin entgegen. Seit 2003 haben nur 38 Flüchtlinge aus dem Pankisi-Tal Aufnahme in Kanada, Schweden und Finnland gefunden. Weitere 17 Familien warten auf die Erlaubnis, Georgien in Richtung Westeuropa verlassen zu dürfen. Nach Deutschland können tschetschenische Flüchtlinge nur illegal mit Hilfe von Schleusern einreisen. Sarah Reinke, Tschetschenien-Referentin der Gesellschaft für bedrohte Völker, erklärt, die Asylpraxis in Deutschland gehe davon aus, daß die Tschetschenen eine innerstaatliche Fluchtalternative hätten: Rußland. „Es sind etliche Fälle dokumentiert, in denen aus europäischen Ländern abgeschobene Flüchtlinge direkt am Rollfeld des Moskauer Flughafens vom russischen Geheimdienst verhaftet wurden und teilweise danach verschwanden.“

Kaukasus Russland

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