13.01.2023 14:10:35
GELESEN
Von Eberhart Wagenknecht
Wer glaubt, über Weihnachten schon alles zu wissen, Irdisches und Himmlisches, der wird ganz schön überrascht sein. Christian Rätsch wirft einen schrägen Blick auf das bedeutungsvollste aller Feste in unseren Breiten - wissenschaftlich fundiert und zugleich höchst unterhaltsam.
„Stille Nacht, highlige Nacht“ formuliert der Verlag launisch bis hintersinnig in seinem Verkaufstext. Der Nikolaus, ein menschgewordener Fliegenpilz. Das klingt zunächst befremdlich und weit hergeholt. Seinen ethnologischen Ursprung hat der Weihnachtsmann jedoch schon zu germanischer Zeit, zum Fest der Wintersonnenwende. Das Fazit lautet: Weihnachten, unser ältestes Winterfest. Seinerzeit wurden Fliegenpilze verzehrt, um sich davon zu berauschen und in höhere Dimensionen zu befördern, also der Sonne ein Stück näher zu sein. Berauschtsein war der Anfang von Kultur, schreibt Christian Rätsch, der erfahrene Ethnowissenschaftler. Menschen sind für Drogen nicht nur empfänglich, sondern disponiert, wie auch im Buch Neben Ich in dem Kapitel „Das Ich der Droge“ ausführlich dargestellt ist.
Der Fliegenpilz steht in dem neuen Buch von Christian Rätsch im Mittelpunkt. Er sei nicht „giftig“, sondern „berauschend“. Und er verkörpere seit grauer Vorzeit auch den Weihnachtsmann: „Beide, der Fliegenpilz und der Weihnachtsmann, leuchten in den Farben Rot und Weiß...Im schamanischen Weltbild steht Rot für das Weibliche und Weiß für das Männliche. Beide Farben vereinigt symbolisieren die Schöpfung der Welt und neuen Lebens.“
Rot ist das Menstruationsblut, Weiß das Ejakulat mit den Spermien, damit begründet Rätsch seine Sicht der Dinge. Und: „Der Fliegenpilz erscheint nur einmal im Jahr, ebenso wie der Weihnachtsmann. Der Fliegenpilz entsteht mythologisch in der Zeit der Wintersonnenwende, der Weihnachtsmann kommt zu Mittwinter. Die Bezüge zum ekstatischen Himmelsgott Wotan teilen beide – und beide alle Jahre wieder.“
Christian Rätsch erklärt diese verblüffenden Zusammenhänge und die Hintergründe unseres modernen Weihnachtsrituals: In Wirklichkeit, so der Autor, feiern wir nämlich ein heidnisches Fest und der rot-weiß-gewandete Weihnachtsmann entpuppt sich dabei als verkappte Version von Wotan, als heimlicher Schamane und sogar als anthropomorpher Fliegenpilz.
Christian Rätsch, 1952 geboren, studierte in Hamburg Altamerikanistik, Ethnologie und Volkskunde. Er erlernte die Maya-Sprache der in Mexiko lebenden Lakandonenindianer, bei denen er insgesamt drei Jahre lebte. Seit zwanzig Jahren erforscht Rätsch in aller Welt schamanische Kulturen und deren ethnopharmakologischen, ethnomedizinschen und rituellen Gebrauch von Pflanzen.
„Beide, der Fliegenpilz und der Weihnachtsmann“, so Rätsch, „haben eine direkte Verbindung zur Anderswelt. In Fliegenpilzen wohnen die Wichtel, den Weihnachtsmann begleiten die rotmützigen Weihnachtswichtel.“
Nicht „Stille Nacht, heilige Nacht“ ist das Motto dieser abgründigen Weihnacht von Christian Rätsch, sondern er sieht darin ein Winterfest der Ekstase und der Verzauberung: „Am Anfang ihrer Rituale, quasi zur Begrüßung, beräuchern die Schamanen Fliegenpilze. Und auch der Weihnachtsmann wird in einer Atmosphäre von duftendem Räucherwerk empfangen. Der Fliegenpilz verleiht dem Schamanen die Fähigkeit zu fliegen. Der Weihnachtsmann fliegt mit seinem Schlitten, von Geisterrentieren gezogen. Auch die Fliegenpilz-Schamanen reiten auf Zauberrentieren durch die Lüfte.“
Christian Rätsch ist ein international gefragter Referent und wissenschaftlicher Leiter zur Erforschung indigener Heiltraditionen (u.a. für GEO). Er ist Autor mehrerer Bücher, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Er sagt: „Die meisten Mensch haben vergessen, dass der Fliegenpilz ein Tor in die Märchenwelt und die Anderswelt sein kann.“ Für den der mutig ist und unbedingt einen Blick in diese Welt tun will, während andere zur Christmette gehen, hat der Autor sogar ein paar Rezepte in seinem Buch zum Besten gegeben. Zum Beispiel Fliegenpilz-Wodka, Fliegenpilzbier, Fliegenpilz-Carpaccio – Carpaccio de l’amanita oder nepalesische Fliegenpilz-Curry.
Wer stattdessen eher auf Weihnachtsgans steht, erfährt immerhin, dass sogar die Weihnachtsgans bis hin zum Gewürz, ein heidnisches Weltkulturerbe ist. „ Die Weihnachtsgans geht auf die Opfergans für Wotan zurück. Sie wird mit Beifuß (Artemisia vulgare) gewürzt und damit schamanisch geweiht. Beifuß gehört in vielen Kulturen zu den wichtigsten Schamanenpflanzen, die bei Ritualen Schutz gewährt und den Ort von zerstörerischen Energien befreit.“
Ein Buch für die besinnlichste Zeit des Jahres, die vor Jingle Bells und Santa Claus schützen kann. Auch in den Rauhnächten (die erste Rauhnacht ist die zwischen dem 25. und 26. Dezember, die letzte Rauhnacht endet am 6. Januar) eine bereichernde Lektüre.
Rezension zu „Abgründige Weihnachten – die wahre Geschichte eines ganz und gar unheiligen Festes“ von Christian Rätsch, Riemann Verlag 2014,160 Seiten, 14,99 Euro, ISBN-10: 3570501655, , ISBN-13: 978-3570501658.
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