09.08.2023 13:11:56
GELESEN
Von Julia Schatte
Russland - Kein Weg aus dem postkommunistischen Übergang?“ von , Lev Gudkov, Victor Zaslavsky |
ie besondere Komplexität liege in der Gleichzeitigkeit der strukturellen Veränderungen, die bis heute nicht abgeschlossen sind. Von den politischen Eliten des eigenen Landes gesteuert, fand der Wechsel von der zentralen und staatlich gelenkten Planwirtschaft zur Marktwirtschaft, die Entwicklung vom Einparteiensystem zum politischen Pluralismus und von einer traditionellen zu einer postindustriellen Gesellschaft parallel statt.
Der erste Teil des Buches widmet sich den 1990-er Jahren, als mit der Annahme einer neuen demokratischen Verfassung mit Gewaltenteilung, Pluralismus und Freiheitsrechten eine potenzielle Grundlage für den Demokratisierungsprozess gelegt wurde. Die Entstaatlichung der sozialistischen Wirtschaft und die Kürzung staatlicher Finanzierung für Militär und Industrie werden beschrieben. Die Arbeiterklasse, Basis der totalitären Gesellschaft, verkleinerte sich dadurch numerisch. Eine Entmilitarisierung der Gesellschaft folgte und Russland fand den Ausgang aus der Selbstisolation.
Die politische Führung der 90-er Jahre habe jedoch keine Vorstellung gehabt, welches Modell für eine posttotalitäre Gesellschaft geeignet wäre. Es existierte kein durchdachtes Reformkonzept und es wurde kein ernsthaftes Programm entwickelt. So wurden die Reformen, die in den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion zur Vermeidung eines Wirtschaftskollapses, einer Hyperinflation oder gar eines Bürgerkrieg zwangsweise vollzogen werden mussten, nicht kontinuierlich weitergeführt.
Nicht nur politische Entscheidungen wurden oft improvisiert. Der gesamte Transformationsprozess sei nie von rationalen Kriterien bestimmt gewesen. Die Autoren machen dennoch deutlich, dass das unter Jelzin entstandene System der Institutionen durchaus das Potential für den Beginn einer demokratischen Entwicklung und auch eine gewisse Krisenfestigkeit besaß. Dadurch wurde ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum möglich.
Zur den Autoren |
Victor Zaslavsky (1937-2009) lehrte Soziologie an der Leningrader Universität, nachdem er viele Jahre als Ingenieur tätig gewesen war. Nach seiner Emigration 1975 war er an der University of California, der Stanford University, den Universitäten in Florenz, Venedig, Bergamo, Neapel und an der Free International University for Social Sciences in Rom beschäftigt. Lev Gudkov (geb. 1946) studierte und promovierte an der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) in Philosophie. In den 1970-er und 80-er Jahren war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Fachbereichen Soziologie und Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und der Staatlichen Leninbibliothek tätig. Ende der 80-er Jahre wurde er zum führenden wissenschaftlichen Mitarbeiter des „Forschungszentrums der Öffentlichen Meinung“ VCIOM. Nach internen strukturellen Veränderungen verließ Gudkov zusammen mit dem Team um den Soziologieprofessor Jurij Levada das Institut. Nach dem Führungswechsel im VCIOM übernahmen zum Teil Beamte des Ministeriums für Arbeit und der Präsidialadministration die Institutsleitung. Jurij Levada kritisierte damals den Druck, der seitens staatlicher Behörden auf das VCIOM ausgeübt wurde. Die komplette Struktur des Instituts wäre durch Beamte zerstört worden, die keinerlei Bezug zur soziologischen Forschungsarbeit hätten. Dafür wären die Umfrageergebnisse manchen Politikern nicht genehm gewesen. Das Analytische Zentrum Jurij Levada/Levada-Zentrum (www.levada.ru) wurde 2002 als unabhängige und nichtstaatliche Organisation neu gegründet. Lev Gudkov ist auch Chefredakteur des Russian Public Opinion Herald und hat Lehraufträge an der Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (http://rggu.com/) und der Moskauer Höheren Schule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (http://www.msses.ru/en/). |
Der zweite Teil des Buches setzt sich mit dem Dilemma der erwarteten, aber ausgebliebenen Demokratisierung auseinander.
Ende der 90-er Jahre kam eine politische Elite an die Macht, die aus ehemaligen Sicherheitsorganen stammt. Die Strategie Putins und seines Apparates habe sich für seine Zwecke als hocheffizient erwiesen. Die neue Regierung forcierte eine Machtkonzentration und -zentralisation. Einfluss und Kontrolle über große Finanz- und Industriegruppen, Massenmedien, regionale und lokale Selbstverwaltungsorgane sowie die Judikative wuchs. Die Festigung der Kontrolle über Parlament und Judikative sowie die Änderungen des Wahlrechts und der Parteiengesetze führten zur Beschränkung, wenn nicht zum Ende des politischen Pluralismus.
Insgesamt distanzieren sich die Autoren klar von der oft verklärten Sicht auf die Person und die Leistungen Wladimir Putins. Die makroökonomische Konsolidierung und politische Stabilisierung wird als zwiespältig bewertet. Die so oft zitierte Stabilisierung sei vielmehr eine Stagnation, heißt es. Anhaltend hohe Umfragewerte und Wladimir Putins Popularität fußten auf dem Zusammenspiel von Faktoren wie der Wiederaufnahme des russisch-tschetschenischen Krieges 1999, den hohen Öl- und Gaspreisen und der veränderten politischen Elite – sowie nicht zuletzt auf andauernder PR-Propaganda.
Im heutigen Russland ist demnach eine zentralistische und monopolistische Macht entstanden, die euphemistisch als „gelenkte Demokratie“ tituliert wird. Von liberaldemokratisch ausgerichteten Wissenschaftlern wird das russische System jedoch als „bürokratischer Autoritarismus“ charakterisiert. Es empfinde keine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und vertrete nicht die Interessen einer Partei oder Gruppe. Diese Form von „Wahldemokratie“ verbinde einen asiatischen, dezisionistischen Autoritarismus mit einem europäisch-demokratischen Modell, in dem politische Entscheidungen nachträglich legitimiert werden.
Im offiziellen politischen Diskurs bzw. auf der rhetorischen Ebene sei dabei die Diskrepanz zwischen Aufrechterhalten des Scheins, der Imitation einer Demokratie und den realen autoritären Strukturen sichtbar. Die Entwicklung der letzten zehn Jahre wird als eine politische Kehrtwende bewertet. Diskutiert wird nicht nur das Wesen dieser Rückwärtsbewegung. Vor allem wird gefragt, ob die Rückkehr zum Autoritarismus und zum Polizeistaat im kulturhistorischen Kontext Russlands unvermeidlich gewesen ist. Die Idee der Demokratie war durch gesunkenen Lebensstandard und die große soziale Unsicherheit der gescheiterten 90-er Jahre zweifellos diskreditiert. Auch neueste soziologische Umfragen bestätigten nicht nur eine allgemeine politische Resignation. Demokratisierung wird mehrheitlich als etwas Negatives und von außen Aufgezwungenes wahrgenommen. Als logische Folge der 90-er Jahre soll das jetzige Regime aber nicht gesehen werden. Wladimir Putin habe weder eine neue Ideologie noch ein neues politisches System erschaffen.
Vor diesem Hintergrund erscheint die im Buch formulierte Zukunftsperspektive überraschend optimistisch und ebenso diskutabel. Obwohl zu befürchten sei, dass das autoritäre Regime in naher Perspektive noch weiter ausgebaut werden könnte, würden russische Modernisierungskräfte langfristig eine demokratische Entwicklung in Gang setzen. Das Land sei global integriert und auch die kulturelle Ausrichtung der russischen Gesellschaft sei europäisch. Wenn die Wirtschaft wachse, könne Russland in den Kreis der liberaldemokratischen Industriestaaten aufsteigen.
Viele Aspekte wie das Wirtschaftswachstum, der Aufbau der Machtvertikale und die Zunahme der Kontrollmechanismen sind in anderen Publikationen bereits ausführlich beschrieben worden. Gudkow und Zaslavsky beschränken sich jedoch nicht nur auf die Beschreibung wirtschaftspolitischer Veränderungen. Sie diskutieren die komplexe Situation umfassend und mit differenziertem Blick für gesellschaftliche Stimmungen und deren Auswirkungen.
Aufschlussreich sind die Ausführungen zur Konstruktion des historischen Selbstbildes und der nationalistischen Rückbesinnung – Faktoren, die politisch-konservative Tendenzen bedingen und die aktuelle politische Kultur in Russland maßgeblich prägen.
In „Russland. Kein Weg aus dem postkommunistischen Übergang?“ gelingt den Autoren eine gerade für den westlichen Leser logische und verständliche Systemanalyse. Sie greifen dabei auf zahlreiche Studien anderer Wissenschaftler und Publizisten, und insbesondere auch auf die Meinungsumfragen des Levada-Institutes zurück, das unter der Leitung von Lev Gudkov wertvolle soziologische Arbeit im heutigen Russland leistet.
Zur Rezensentin |
Julia Schatte ist gebürtige Moskauerin. Sie studierte von 1996-2002 Ostslawistik, Politik- und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig. Danach war sie freie Korrespondentin für den „Kommersant daily“ und wissenschaftliche Autorin für die „Zeitschrift für Kultursoziologie“ und die „Enzyklopädie des Europäischen Ostens“. Seit 2007 promoviert Julia Schatte über das Thema „Demokratiediskurse und politische Rhetorik in Russland“ im Fachbereich Politikwissenschaften an der Universität Frankfurt/Main und ist als freie Publizistin u.a. für die „Zeitschrift für Kultursoziologie“ und Thomson Reuters tätig. |
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Rezension Zu: „Russland - Kein Weg aus dem postkommunistischen Übergang?“ von , Lev Gudkov, Victor Zaslavsky, Wagenbach Verlag, Berlin, 208 S., 19,90 €, ISBN 978-3-8031-3635-0.
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