„Schwarzes Eis – mein Rußland“ von Mariusz WilkGELESEN

„Schwarzes Eis – mein Rußland“ von Mariusz Wilk

Aus dem Polnischen von Martin Pollack, Zsolnay-Verlag, Wien 2003, 286 Seiten, € 21,50, ISBN: 3-5520-5284-4

Von Andrea Jeska

„Schwarzes Eis – mein Rußland“ von Mariusz Wilk 
„Schwarzes Eis – mein Rußland“ vonMariusz Wilk 

EM - Seit der Osten nicht mehr mit Feindbildern besetztist, gibt es großes Interesse an Büchern aus Rußland. DieZahl derer, die versuchen, uns Wesen und Sein des Nachbarn im Osten näherzu bringen, ist groß. Nicht immer sind die Versuche, Kultur, Denkweise,politische und soziale Strukturen zu beleuchten und zu interpretieren, eineLesefreude. Manches Werk erstickt das Interesse des Lesers in der ewigen Wiederholungvon Klischees und Halbwahrheiten. Andere sind unprosaisch wie eine kalte Dusche.

„Schwarzes Eis“ des polnischen Journalisten Mariusz Wilk dagegenist ein Soufflé inmitten der pappigen Rußlandliteratur. SeineGeschichten von den Solowjezki-Inseln sind eine warmherzige, poetische Odean die Abgründe der russischen Seele und Provinz.

Nein, auf diese Inseln würde man freiwillig nicht ziehen. Das kalte,feuchte, moorige Archipel im Weißen Meer, nur einige Kilometer vom nördlichenPolarkreis entfernt, ist von Menschen bevölkert, die „saufen wiedie Schweine“ und sich dabei öfters die „Fresse blutig schlagen“,die unter Privatisierung Diebstahl verstehen, die verblödet, agressivund haltlos durch ihr bißchen Leben torkeln. Schrott steht allenthalbenherum, Häuser verfallen, die Bewohner gehen an sich und an den Zeitenzugrunde.

Warum der heute 48jährige Autor, polnische Journalist und ehemaligePressesprecher der Solidarnosc – als solcher mehrfach inhaftiert - 1993ausgerechnet in dieser landschaftlichen und kulturellen Einöde gestrandetist, geht aus dem Werk nicht richtig hervor. Es gibt Erklärungen: „DerLeser wird fragen, warum ich die Solowjezki-Inseln gewählt habe?“ Unddie Antwort lautet: Er, der Schriftsteller, wolle von dort nach Rußland,in die Welt schauen. Man sähe „Rußland, wie das Meer in einemMinitropfen“, schreibt Wilk. Die Inseln seien „Essenz und Antizipation“ zugleich.

Es war also ein freiwilliger Umzug, offensichtlich begründet in einergewissen Müdigkeit über die Lügen der sogenannten Zivilisationund die Schalheit der Welt. So mokiert sich Wilk in seinem Buch entsprechend überdie westlichen Korrespondenten, die für ein paar Tage auf die Inseln kommenund den dortigen Jugendlichen die Welt, schlimmer noch, die richtige Moralbeibringen wollen. Wer vor ethischem Gedankengut tropfende Intellektuelle nochnie mochte, wird seine Freude an der Beschreibung haben, wie einst auf einerKonferenz der Friedrich-Naumann-Stiftung die Referenten an der versoffenenJugend und ihrer eigenen Borniertheit scheiterten.

Wilk hat seine Geschichten über die Inseln von 1996 bis 1998 als Mischungaus Tagebuch, Betrachtungen, Reportage und historisch-literarischen Exkursenaufgezeichnet. Warum es solange dauerte, bis er einen Verlag fand, ist schwerzu verstehen. Seine Anekdoten über tumbe Fischer, strunzige Bauern., liebeskrankeFrauen und geile Männer sind melancholisch und komisch zugleich. Er verknüpftdie Schicksale zu einem dicken Faden, an dem der Leser wie ein Fisch an derAngel hängt. Wilk gelingt es, die schrecklichsten Dinge über denCharakter der Menschen zu sagen, ohne überheblich zu sein. Vor allem aber,ohne ihnen die Würde zu nehmen. Im Gegenteil: Fast demütig ziehter seinen Hut vor jenen, die in diesen Widrigkeiten bestehen können. Dennochist die Quintessenz des Buches ein bitterer Abgesang an den postkommunistischenGedanken einer schönen neuen Welt.

Warum aber spiegelt sich die russische Welt auf den Solowjezki? Von allenEinöden ausgerechnet dieser Archipel? In seiner Insel den ganzen russischenKosmos nicht nur zu erkennen, sondern dem Leser auf eine verquere, manchmaleckige, dann wieder überraschend elegisch-dichterische Art zu erklären,Verbindungen zu knüpfen und Linien zu ziehen, wo ein weniger sensiblerBeobachter nur Brüche sähe, ist Wilks größtes Verdienst.In der banja entdeckt er die Seele des Landes, noch im Beerenpflückenund an Fischköpfen sieht er Literatur und Geschichte.

Auf den Solowjezki, sechs kleine Inseln und etliche drum herum verstreuteunbewohnte Landsplitter, wurde die Philosophie der russisch-orthodoxen Kirchezur Wirklichkeit. Tausendmal ging dort die Welt unter und stand wieder auf,Dogmen und Erziehung wurden ins Extrem getrieben. In den Verliesen des altenKlosters gab es das älteste Gefängnis Rußlands, und nach 1918war der Solowjezki-Archipel nur noch bekannt als SLON, das Solowjezki-Lagerzur besonderen Verwendung.

Auf Spaziergängen über die Insel berichtet Wilk von dieser Geschichteund vom damit verbundenen Horror. Er reiht die Schicksale der Einzelnen indie große russische Historie ein, ohne diesen Einzelnen die Bedeutungihres Lebens zu versagen. Hinter jedem Schicksal stecken zahllose weitere Geschichten,wie Puppen an einem Faden tanzen die Personen vor dem Leser auf und ab undverlassen dann die Bühne der Erzählung, manchmal, um sich im Todvon ihrem schäbigen Leben auszuruhen.

Schwarzes Eis ist nicht nur ein Buch über Rußland, sondern aucheine Liebeserklärung an die nordische Landschaft, die in ihrer Kargheitund Feindlichkeit die Menschen zu Notgemeinschaften und zu Bescheidenheit zwingt,die ihn niederringt – und ihn mit ihrer Grandiosität beschämt.Wilks poetisch-stille Naturbeschreibungen sind schön genug, um am Endedoch zu verstehen, warum man ohne Not dieser Landschaft aus Meer, Seen, Moor,Tundra, Dünen und Wind verfallen kann. Überleben aber kann man diesenur, wenn man wie Wilk die Kraft des Wortes und des Humors hat.

Rezension Russland

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