Serbien hat nichts verlorenKOMMENTAR

Serbien hat nichts verloren

Eine Nachlese nach dem Kosovo-Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom Juli 2010.

Von Wolf Oschlies

H ektik Ende Juli in Prishtina, der Hauptstadt des seit Februar 2008 unabhängigen Kosovo: Staatspräsident Fatmir Sejdiu erneuert „unsere Forderung auf Mitgliedschaft in den Vereinten Na­tionen“. Außenminister Skender Hyseni sucht geeignete Amtssitze für 35 neue Botschaften, da in allerkürzester Zeit eine Welle diplomati­scher Anerkennung auf das international eher isolierte Kosovo zukommen werde. Als großer Staatsmann präsentierte sich Premier Hashim Thaci, der auf Einladung von US-Vizepräsident Joe Biden in Washington war und dort nächste Schritte besprach, die Prishtina und Washington gemeinsamen unternehmen und der EU zur Kenntnis­nah­me und Finanzierung unterbreiten wollen: Die Vereinten Nationen haben im Ko­so­vo nichts mehr zu sagen, mit Belgrad wird nicht mehr diskutiert, die Serben im Nor­den Kosovos werden wegen Verstoßes gegen die territoriale Integrität Kosovos zur Ver­antwortung gezogen, die Kosovaren „können bereits Feiern zur NATO- und EU-Mitgliedschaft vorbereiten“.

Was da so großmäulig tönte, war in Wirklichkeit ein Seufzer der Erleichterung. Im März hatte Thaci auf Druck der USA und Englands, die die mangelhafte Bekämpfung der Korruption im Kosovo gerügt hatten, ein Drittel seiner Minister gefeu­ert. Ähnliche Klagen brachte auch die EULEX vor, die Mission der 2000 Polizisten und Richter aus EU-Ländern: Das Kosovo ist ein als „Staat“ getarntes Räuber- und Gangsternest, wo albanische Clans nach Belieben mit staatlichen Ressourcen umgehen. Aber be­vor diese Befunde und Klagen der „Internationalen“ noch irgendeine Wirkung zeigen konn­ten, war alles verpufft: Am 22. Juli veröffentlichte der Internationale Gerichtshof (IGH) im Haag sein Urteil, laut dem die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Ko­sovo vom 17. Februar 2008 nicht gegen internationales Recht verstoßen habe. Die­ses Votum wurde von Prishtina bewusst und planmäßig als Bestätigung der Recht­mäßigkeit kosovarischer Abspaltung von Serbien interpretiert, nach welchem nun alle Hindernisse für den „Staat“ Kosovo gefallen seien und er auf dem Weg in UN, NATO, EU etc. sei. Rügen wegen Kriminalität und Rechtlosigkeit im Kosovo seien kleinliches Gemäkel, das der Größe des Augenblicks wahrlich nicht angemessen sei.

„Hineinwachsen in die EU“
Ganz ähnlich urteilte die Mehrheit der westeuropäischen Medien, allen voran die deutschsprachigen Blätter: Das Kosovo hat „Recht“ bekommen, seine einseitige Se­zession von Serbien ist keinesfalls ein „Präzedenzfall“ für andere Sezessionisten. Serbien soll endlich seine Niederlage hinnehmen, die EU muss umgehend den Integrationsprozess für das Kosovo einleiten. Die fünf EU-Staaten, die das Kosovo noch nicht anerkannt haben, sollten das schleunigst nachholen, denn „es gibt keine Alternative für ein souveränes Kosovo“, wie die EP-Abegordnete Doris Pack mahnte. Von ihr stammt auch ein Diktum, das als verfrühter Karnevals-Scherz durchgehen sollte: „Die heutige Entscheidung des Internationalen Gerichtshof ist das Resultat der Politik von Slobodan Milosevic“. Als ähnlich weitblickender Staatsmann zeigte sich das grüne MdB Tom Koenigs:  Wenn Vertrie­benen aus dem Kosovo, z.B. Roma, eine Rückkehr „unmöglich“ ist, „wegen Gefahr für Leib und Leben“, dann muss man in Deutschland einen „Abschiebestopp“ verfü­gen, um die Kosovo-Albaner durch lästige Rückkehrer nicht beim „Hineinwachsen in die EU“ zu stören.

In der Sturzflut derartiger „Argumente“ machten sich selbst Leute zum Narren, von denen man solches zuletzt erwartete hätte – beispielsweise Wolfgang Ischinger, vor­mals deutscher Spitzendiplomat, der 2007 zusammen mit dem US-Amerikaner Frank Wisner und dem Russen Aleksandr Botsan-Chartschenko die „Troika“ bildete, die bis zum 10. Dezember einen Kompromiss zwischen Belgrad und Prishtina aushandeln sollte. Die Sache war von vornherein hoffnungslos, da die Albaner nicht wollten und die USA früh ihnen Unterstützung für ihre Blockadehaltung zugesagt hatten. Diese Brüskierung Serbiens, der UN und Russlands er­schien Ischinger so grotesk, dass er am 18. September 2007 im britischen „Independent“ Hohn und Spott vergoss: „Die Unabhängigkeit des Kosovo sei vom Tisch“, sie wäre ohnehin nur ein „wertloses Etikett“, denn „woher werden die Kosovaren ihren Lebensunterhalt beziehen?“ „Sie werden immer von fremder Hilfe abhängig bleiben“ – und so weiter, eine sehr treffen­de Beschreibung der Lage. Das war 2007, im Juli 2010 muss Ischinger das Gegen­teil seiner damaligen Einsichten verkünden, dass nämlich Serbien einem „infamen“ lrrtum unterliegt, wenn es sich gegen ein unabhän­giges Kosovo wendet, wo doch laut IGH „die Republik Kosovo ein eigenstän­diger Staat ist und bleibt“.

„Positionen von Prishtina und Washington zu hundert Prozent identisch“
Ischinger leitet seit 2010 die Münchner Sicherheitskonferenz, wozu ihn seine neue Sicht der Kosovo-Problematik gewiss nicht qualifiziert hat. Sein konkreter Vorschlag, die „Normalisierung“ der Beziehungen Belgrad – Prishtina nach dem Muster des deutsch-deutschen Grundlagenvertrags von 1972 zu regeln, wurde von Außenmini­ster Skender Hyseni rundheraus verworfen. Und wenn das Kosovo etwas verwirft, agiert es als Lautsprecher der USA, denn laut Premier Tha­ci sind „die Positionen von Prishtina und Washington zur Gegenwart und Zukunft des Koso­vo zu 100 Pro­zent identisch“.

Was hat das alles mit dem IGH-Uteil zu tun? Eine Menge, weil dieses sich so schön fehlinterpretieren lässt. Das IGH hat z.B. nur gesagt, die „Unabhängigkeitserklärung“ von 17. Februar 2010 verstieße nicht gegen interna­tionales Recht. Von einem „Recht zur Abspaltung von Serbien“, wie es im Kosovo und anderswo gedeutet wird, war nie die Rede. Damit hat sich der IGH nicht einmal um eine konkrete Antwort ge­drückt, wohl aber eine eng formulierte Anfrage der UN-Vollversammlung eng beant­wortet, und selbst dafür nur zehn von 14 Richterstimmen bekommen. Die bewusste Proklamation von 2010 war eine unverbindliche Meinungsäußerung, getan von Pri­vatleuten, die sich als „Repräsentanten des kosovarischen Volks“ darstellten, damit aber keine rechtlichen Folgen präjudizierten. Was damals laut wurde, kam nicht von den „Provisional Institutions of Self Governance“ (PISG), also den Regie­rungs­orga­nen, die unter einem „Verfassungsrahmen“ unter Hoheit von UNMIK und unter Be­achtung der Resolution 1244 gewisse Hoheitsaufgaben erfüllten.

Ein „Bärendienst“ für die Kosovaren
Alles dreht sich um die Resolution 1244 von 1999, nach der das Kosovo ein Teil Ser­biens ist und bleibt. Diese Resolution gilt weiterhin – für UN-Mitglieder! Das Kosovo ist nicht in den Vereinten Nationen, die Verkünder seiner „Unabhängigkeit“ sind nicht von den UN und ihren kosovarischen Institutionen legitimiert, ihre Aussagen und Schritte verpflichten niemanden zu etwas. Haben sie überhaupt eine Legitimität? Diese Frage hat der IGH nicht gestellt und nicht beantwortet, insgesamt also den Kosovaren einen „Bärendienst“ erwiesen, indem er sie in einen unbestimmten „in­offiziellen Bereich“ verwies. Natürlich können sie einen neuen Staat proklamieren, aber auf die Beine stellen können sie ihn nicht, solange staatliche Grundaufgaben, z.B. die Sicherheit für die Einwohner, von der UNMIK versehen werden, und die un­tersteht den UN. Ein gewisses Risiko gehen nur Drittstaaten ein, die ein Sezessions­gebiet wie das Kosovo anerkennen, bevor dieses etabliert ist. Eine verfrühte Aner­kennung ist eine Einmischung in fremde Angelegenheiten, also strafwürdig, und mit seiner Resolution 1244 wurde der Sicherheit entweder Anerkennungen untersagt oder diese wesenslos gemacht.

So hat der Völkerrechtler Michael Bothe den IGH-Spruch relativiert, nachdem er be­reits früher ein paar Grundsätze erwähnte, deren rechtzeitige Beachtung manchen Är­ger verhindert hätte: Eine kosovarische „Staatsgründung“ vertieft Gräben auf dem Balkan, Kosovaren haben als Minderheit in Serbien keinen Anspruch auf einen Staat, das Kosovo „tut nur so, als sei es ein Staat“. Ähnliche Argumente spielten auch eine Rolle im Vorfeld des IGH-Urteils, wobei die stärkeren von den Gegnern kosovari­scher Unabhängigkeit vorgebracht wurden: „Kosovo-Albaner haben kein Recht auf Selbststimmung, weil sie kein eigenes Volk sind“ (Serbien), „kosovarische Unabhän­gigkeit verstößt gegen das Völkerrecht“ (Russland), „souveräne Staaten haben das Recht, zum Schutz ihrer territorialen Integrität einseitige Sezessionen zu verhindern“ (China), „laut Völkerrecht dürfen nur Kolonien ihre einseitige Sezession proklamie­ren“ (Spanien), „die Resolution 1244 kennt kein Recht der Kosovaren auf Selbstbe­stimmung“ (Argentinien) etc.

Das Kosovo ist seit einem Jahrzehnt faktisch gespalten
Die jetzige Lage hat, wie immer man den IGH-Spruch interpretieren mag, Konflikte geschaffen, die eskalieren werden, dabei aber am wenigsten gegen Serbien gerichtet sind. Das „Argument“, das Kosovo sei ein „Sonderfall“ und kein „Präzedenzfall“ ist hinfällig, dabei bereits Serben in Bosnien, Russen in Abchasien etc. unter Berufung auf den IGH mit dem Gedanken ihrer Sezession spielen. Vermutlich hat der britische „Guardian“ Recht, wenn er allen Separatisten der Welt Zufriedenheit mit dem IGH-Votum beschei­nigt. Es geht schließlich ganz einfach darum, dass anderen recht sein muss, was Kosovaren billig war, allen voran den im Norden des Kosovo kompakt siedelnden Ser­ben. Das Kosovo ist seit einem Jahrzehnt faktisch gespalten, da Prishtina nie die Kontrolle über Mitrovica zurückerhält. Dabei könnten jedoch gefähr­liche Weiterungen auftreten, wenn die USA ihr Eintreten für kosovarische Macht im gesamten Kosovo so interpretieren, dass sie die Kosovaren zu gewaltsamen Aktio­nen gegen die Serben von Kosovska Mitrovica aufstacheln. So wenigstens befürch­tet es Gerard Gallucci, ein ehemaliger US-Diplo­mat und bis 2010 UN-Regionalbeauftragter im serbischen Norden des Kosovo.

Das Kosovo ist derzeit von 69 Staaten diplomatisch anerkannt und hofft auf zahlrei­che weitere Anerkennungen, die ihm zu mehr Reputation in den Vereinten Nationen verhelfen könnten. Chancen dafür bestehen, aber sie sind nicht sehr groß. Die servi­le Anhänglichkeit Prishtinas an die USA dürfte auch in Zukunft Anerkennungen aus Arabien und Afrika verhindern. Wichtige Staaten mit großer internationaler Gel­tung – Russland, China, Brasilien, Indien etc. – haben eine Anerkennung des Kosovo mit Blick auf potentielle Sezessionisten innerhalb der eigenen Grenzen abgelehnt. Noch glauben die USA, die Haltung Russlands und Chinas in der Kosovofrage über­ge­hen zu können, aber das sollte sich sehr rasch ändern, denn Washing­ton kann es sich nicht leisten, den unwichtigen, von Kriminellen geführten Zwergstaat Koso­vo gegen Wirtschafts- und Sicherheitspartner von Weltformat zu bevorzugen. Zudem sind Russland und China ständige Mitglieder im Weltsicherheitsrat und kön­nen schon von daher das Kosovo in einer Weise blockieren, gegen die selbst die USA machtlos wären.

Angst vor negativer Vorbildwirkung  
Uneinig bleibt auch die EU, obwohl seit Ergehen des IGH-Urteils die fünf EU-Nichtanerkenner des Kosovo – Spanien, Rumänien, Slowakei, Zypern und Griechenland – von interessierten Politikern, Abgeordneten, Medien etc. sozusagen in eine Spielverderberecke gedrängt und antieuropäischen Verhaltens bezichtigt werden. Da die Be­weggründe der fünf Verweigerer verständlich und respektabel sind, nämlich die Angst vor negativer Vorbildwirkung der kosovarischen Sezessionisten auf ethnische Minderheiten daheim, können leichtfertige Verdächtigungen und Beschwerden nur zu Unmutsreaktionen innerhalb der EU führen. Spanien hat bereits spürbar verärgert verlautet, dass es „auch weiterhin hinter dem Standpunkt steht, das Kosovo nicht anzuerkennen, und verlangt ein Übereinkommen der beiden Seiten auf dem Wege des Dialogs“.

Eine ganz wichtige Rolle kommt schließlich Serbien zu. Brüsseler Stimmen, man müsse nun „Druck“ auf Serbien ausüben, sind albern: Wenn Serbien an etwas aus Brüssel gewöhnt ist, dann ist es politischer Druck (sagte Aleksandr Alek­se­jew Abteilungsleiter „Balkan“ im russischen Außenministerium), und dieses Mittel hat sich längst abgenutzt. Die berüchtigten Propagandalügen der Albaner gegen Ser­bien („Serbien hat 15.000 Kosovo-Albaner getötet und über 1 Million vertrieben“) so­wie ihre rüde Ablehnung europäischer Vorschläge für konstruktive Übergangslösun­gen („sehr lose Konförderation“) wirken sich letztlich für Serbien aus, denn die EU kann die altbekannte Kosovo-Verweigerungshaltung gegenüber Serbien nicht unbegrenzt mittragen. Im Frühherbst wird man es genauer wissen, wenn Serbien in der UN-Voll­versammlung seine neue Kosovo-Resolution einbringt, die zuvor mit der EU so „har­monisiert“ worden ist, dass sie Aussicht auf Erfolg haben dürfte. 

Der EU-Annä­he­rungsprozess Serbiens ist so absichtlich verzögert und verschleppt worden, dass die EU in Serbien fast schon ausgespielt hat. Ein Junktim zwi­schen Ko­sovo-Anerkennung und serbischem EU-Beitritt will man in Brüssel gar nicht erst in Er­wägung ziehen. Denn damit ist die „rote Linie“ bekannt, die man im Umgang mit Belgrad respektie­ren sollte. Außenminister Vuk Jeremic hat sie erst kürzlich in Er­innerung gerufen: „Es wäre sehr gut, die EU-Integration Serbiens und das Kosovo getrennt zu halten. Denn was das Kosovo betrifft, so wird Serbien seine Politik um keinen Millimeter ändern“.
 
Serbien dem EU-Beitritt näher als das Kosovo?
Eine Bemerkung zum Schluss: Derzeit liegen viele Serbien in den Ohren, es solle sei­ne bisherige Haltung überdenken, neue Realitäten anerkennen etc. Serbien tut diesen Bedenkenträgern den Gefallen, ihr Geschwafel zu überhören: Im Kosovo gä­be es nicht einmal dann eine „neue Realität“, wenn die Region ein wirtschaftlicher Garten Eden wäre, wo sie tatsächlich immer mehr verelendet. Im Südosten grenzt das Kosovo an das südserbische Preschevo-Tal, das mehrheitlich von Albanern bewohnt wird und Serbiens Armenhaus ist. In den letzten Monaten tauchte mitunter der Plan eines Gebietsaustauschs auf: Mitrovica samt Umgebung zu Serbien – Preschevo-Tal zum Kosovo. Offiziell hat nie jemand diesen Vorschlag unterbreitet oder gar akzeptiert, denn niemand will zum Kosovo, am wenigsten die Albaner aus dem Preschevo-Tal. Nexhat Behluli, Medienunternehmer aus Bujanovac im Preschevo-Tal, erklärte die Gründe: „Die meisten Albaner, besonders die unternehmerisch tätigen, glauben, dass Serbien rechtlich und demokratisch weiter entwickelt als das Kosovo, dass hier mehr für Reformen im gesamten System getan wurde und Serbien dem EU-Beitritt näher ist als das Kosovo“.      

Balkan

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