09.08.2023 13:11:56
LAUTE AUS EURASIENS FRÜHZEIT
Von Peter-Arnold Mumm
Dr. Peter-Arnold Mumm |
EM - Die Kontakte zwischen den Völkern Eurasiens sind älter als jede schriftliche Überlieferung. Bevor die Menschheit sich selbst das Schreiben beigebracht – und damit die Zeugnisse in die Welt gesetzt hat, mit denen für uns die „Geschichte“ beginnt –, hat sie schon sehr, sehr lange ihr vorgeschichtliches Leben geführt. Wie dieses Leben ausgesehen hat, erschließt und erahnt man aus den Fossilien, die es hinterlassen hat.
Die bekanntesten Fossilien liegen in der Erde. Andere führen wir nochheute im Mund. Der 1996 verstorbene Münchner Finnougrist und IndogermanistHartmut Katz hat sich in seinen Studien den in den einzelnen finnougrischenSprachen erhaltenen Überresten aus den Sprachkontakten zwischen Uraliernund Indoiraniern vom 4. bis zum frühen 2. Jt. v.Chr. gewidmet. Jetzt,sieben Jahre nach seinem Tod, ist das Buch erschienen. Das Werk, ein Monumentfachwissenschaftlicher Gelehrsamkeit und Fundus neuer Erkenntnisse, Vermutungenund Probleme, wird noch in Jahrzehnten von Fachkollegen nicht ausgeschöpftsein. Hier sollen nach kurzer Einleitung die wichtigsten Ergebnisse mitgeteiltwerden.
Wer ein Wort wie Acker ausspricht, zitiert, ohne es zu wissen undzu wollen, die jahrtausendealte Geschichte dieses Worts. Durch alle uns bekanntengermanischen Sprachetappen hat das Wort das bedeutet, was es heute im Deutschenbedeutet. Ein wenig anders steht es mit der lateinischen Entsprechung ager : „ Acker,Weideland, freies Feld“. Altgriechisch agrós heißt nurselten „Acker“, meist „freies Feld (im Gegensatz zur Stadt)“. Altindisch ájra- bedeutetnur „Ebene, Fläche, Flur“. Latein, Altgriechisch und Altindisch sind zwarnicht die Vorläufer des Germanischen, sondern nur ältere Geschwister,scheinen aber eine archaischer aussehende, noch nicht von dominanter Ackerbaukulturgeprägte Bedeutung zu zeigen.
Einen klärenden Schritt in die sprachliche Vorgeschichte erlaubt dieKenntnis einer einfachen Wortbildungsregel. Substantive können von Verbendurch Anhängen von -ro- , altindisch -ra- abgeleitetwerden. Altindisch aj- heißt „vorwärtsbewegen, (Vieh)treiben“. Als sprachlich durchsichtige, ursprüngliche Bedeutung von ájra- bzw. indogerman. - ergibt sich so „Trift (d.h. dasunbebaute Land, auf das man das Vieh zum Weiden treibt)“. Die Entwicklung dersprachlichen Bedeutung spiegelt hier offenbar einen Übergang von Viehwirtschaftzu Ackerbau.
Die linguistische Rekonstruktion kann so Schlaglichter auf sonst dunkle Zeitenwerfen. Durch eine Anzahl kombinierter linguistischer Überlegungen läßtsich sogar etwas über die ursprünglichen „Wohnsitze“ prähistorischerSprachgemeinschaften erschließen. Was die Sprachrekonstruktion lehrt,berührt sich zwar nur wenig mit den Ergebnissen der Archäologie.Knochen, Waffen und Goldgefäße verraten nichts über die Spracheihrer Besitzer, und Wörter nichts über ihren Herkunftsort. Andererseitsmüssen die Sprachgemeinschaften irgendwo gehaust und die Begrabenen irgendwiegesprochen haben. So hat man immer wieder versucht, aus der späteren Verbreitungder Sprachen und aus deren Wortschatz Hinweise auf ursprüngliche Siedlungsregion,Wirtschaftsweise und Gesellschaftsform der vorhistorischen Sprachgemeinschaftenzu ziehen und deren Idiome mit archäologischen Kulturen zu identifizieren.
Hartmut Katz: Studien zu den älteren indoiranischenLehnwörtern in den uralischen Sprachen |
Eine Teilüberlegung ist etwa: Wir wissen, daß die Vorfahren derSanskrit-Sprecher gegen 1000 v.Chr. in Indien eingewandert sind; wir wissenzweitens, daß das Altindische und das Altiranische sehr eng verwandteDialekte sind, sich also wohl erst relativ kurze Zeit vor dieser Einwanderungvoneinander getrennt haben; wir wissen drittens, daß die indoiranischeKultur, so wie sie sich aus den ältesten Texten und dem Wortschatz erschließt,nomadisches Gepräge hatte; viertens hat H. Katz in seinen Studien (S.316f.) gezeigt, daß das in nur wenigen Wörtern überliefertesogenannte Mitanni-Indische, das gegen 1500 v.Chr. in Nordmesopotamien (!)auftaucht, nicht zwingend als Indisch zu deuten ist, sondern ebensogut Iranischoder Indoiranisch sein kann. Aus diesen und weiteren Daten lassen sich Rückschlüsseauf die Vorgeschichte ziehen.
Das relativ wahrscheinlichste Szenario gibt James Mallory in seinem Buch InSearch of the Indo-Europeans, London 1989. Demnach ist den Indoiraniernspätestens die ab ca. 1600 v. Chr. in dem gewaltigen Raum zwischen KaspischemMeer und Baikalsee verbreitete Andronovo-Kultur zuzuordnen; als eigener Sprachzweigmüssen sie sich aber deutlich früher herausgebildet haben. Ihre(und unsere) sprachlichen Vorfahren, die Indogermanen, werden etwa zwischendem 5. und dem 3.Jt. v. Chr. in der Region nördlich des Schwarzen undKaspischen Meers vermutet. Ab dem 2.Jt. beginnen dann , schon in den späterenhistorischen Gebieten, die ältesten Sprachzeugnisse: Althethitisch,My kenisch-Griechisch, Vedisch-Indisch.
Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios erhöht sich, wenn weitere,unabhängige Beobachtungen in dieselbe Richtung weisen. Hier sind Katz' Studien einschlägig.Die ursprünglichen Wohnsitze der Uralier (später Finnougrier undSamojeden) werden meist in der südlichen Uralgegend vermutet. Das grenztan die Gegend an, die für die Indogermanen angesetzt wird und überlapptsich mit der Gegend, in der aller Wahrscheinlichkeit nach später die Indoiraniergelebt haben. Der uralische Wortschatz bietet nun tatsächlich einen großenTeil an Entlehnungen aus dem Indoiranischen.
Einige dieser Entlehnungen sind seit langem bekannt, so die des oben erwähntenVerbs aj- „treiben“ (frühindoiranisch ähnlich) ins Finnisch-Permische,z.B. finnisch ajaa- „treiben“. (Eine unlängst erschienene Monographie,die einzig und allein diesem Verb und seinen Bedeutungsvarianten und Ableitungenin den indogermanischen und ostseefinnischen Sprachen gewidmet ist, zeigt dieverblüffende Übereinstimmung der Bedeutungen dieses Verbs in denheutigen finnischen Dialekten mit dem, was für das Urindogermanische bzw.Urindoiranische rekonstruiert ist: Raimo Anttila: Greek and Indo-EuropeanEtymology in Action. Proto-Indo-European a? . Amsterdam/Philadelphia2000, S. 197ff.).
Auch schon längst erkannt ist die Herkunft von finnisch porsas „Ferkel“.Dieses Substantiv hat keine Etymologie innerhalb der uralischen Sprachfamilie und ähneltdem indogermanischen Ferkelwort, das klar in lateinisch porcus undauch in deutsch Ferkel fortgesetzt ist. Wann und durch wen kann esins Finnische gekommen sein? Hier hilft die Kenntnis zweier Lautgesetze. 1)ein bestimmter Teil der indogermanischen k -Laute ist im Indoiranischenzu einem s -Laut geworden, z.B. lat. centum (älter centom ) „100“ gegenüberaltindisch satam , avestisch (eine altiranische Sprache) . Alsgebende Sprache kommt also das Indoiranische in Betracht. 2) Im Verlauf derAussonderung des Indoiranischen ist aber auch altes o zu a geworden,wie aus derselben Wortgleichung ersichtlich. Finnisch porsas hataber o . Das ist ein klar noch-nicht-indoiranisches Merkmal, nebeneinem klar indoiranischen, in ein und demselben Wort: noch nicht indoiranischist das o , bereits indoiranisch ist aber das s . Darauskann man nur folgern, dass der Übergang vom k -Laut zum s -Lautim Indoiranischen früher vor sich gegangen ist als der von o zu a ,und dass das Ferkelwort in der dazwischenliegenden Zeit entlehnt worden ist.Die ältesten indoiranischen Wörter tauchen um 1500 v.Chr. im sogenanntenMitanni-Reich auf. Diese haben schon durchweg a für o. porsas mussalso deutlich vor 1500 v.Chr. aus dem Indoiranischen ins Uralische oder speziellFinnopermische entlehnt worden sein.
Nicht alle Entlehnungen gingen lautlich so glatt. Das frühe Indoiranischehatte Laute, die dem Uralischen unbekannt waren und bei der Entlehnung angepaßtwerden mußten. Auch uns ist das Problem geläufig: persische Städtenamenwie etwa Maschad, Tabriz werden im Deutschen oft mit e oder ä geschrieben( Mesched, Täbriz ). Der persische Vokal liegt genau zwischendeutsch a und ä/e . Mit deutschen Mitteln kann er nurannäherungsweise wiedergegeben werden. Arabische Lehnwörter leidendasselbe Schicksal. Razzia , über das Französische ins Deutschegekommen, fußt auf algerisch-arabisch gaziya „Kriegszug“. Dasanlautende g , ein weicher Zäpfchenlaut, wird hier mit (französischemZäpfchen-) r wiedergegeben, sonst meist mit g , wiein Gazelle (arab. gazala ). Bei komplexeren Ausdrückenkann die aufnehmende Sprache vollends in die Knie gehen. Der wiederkehrendeKoransurenbeginn „ImNamen des barmherzigen und gnädigen Gottes“ ist dem deutschen Sprachverstandals simsalabim erschienen. (Nachzulesen in Nabil Osman: Kleines Lexikondeutscher Wörter arabischer Herkunft, Rezension in EM 08-03).
Solche Probleme hatten die Uralier auch, und zwar in hohem Grad. Das früheIndoiranische war reich an fremden Konsonanten und vor allem Konsonantengruppen.Ein noch harmloses Beispiel ist das Wort für „Rad“ , das, wie wir rekonstruierenkönnen, ungefähr kwekwrom gelautet haben muß . Sowohl kw wiedie Verbindung kwr waren dem Uralischen fremd, es mußte dieseLaute substituieren. In unterschiedlichen Dialektgebieten oder Entlehnungsschichtenkonnten dabei unterschiedliche Substitute gewählt werden. So erklärensich karelisch käkrä „gebogen“, finnisch kiperä „gebogen“,wogulisch powr „rund“, ungarisch kerek „rund, Rad“ u.a.
Es versteht sich, daß bei einer solch vielfältigen Ersetzbarkeitauch der Etymologe irren kann. Die begreifliche Unsicherheit der uralischenSprecher in der Ersetzung fremder Laute hat zur Folge, daß die sonstin der Sprachentwicklung waltende Regelmäßigkeit durchbrochen istund damit auch der Hauptleitfaden des historischen Linguisten. Diesem bleibtnur die Chance, um so systematischer nach Ersetzungstendenzen zu suchen, diesenach Möglichkeit dialektal und zeitlich zu gliedern, und sich bei denvermuteten Entlehnungen nicht mit abstrakten Wurzeln zu begnügen, sondernvollständige Wortentsprechungen aufzustellen, die auch in ihrer Bedeutunggenau geprüft sein wollen.
Auf diese Weise forstet Katz in seinen Studien den gesamten Wortschatzder uralischen Sprachen durch und kommt auf 660 aus dem Indoiranischen insUralische zu verschiedenen Zeiten entlehnte Wörter. In der umgekehrtenRichtung Uralisch zu Indoiranisch findet er nur neun Wörter. Die unterschiedlichenEntlehnungsschichten (nach Katz acht) bestehen aus sukzessiven Entwicklungsstufendes Indoiranischen auf der einen Seite und den älteren Entfaltungsstufendes uralischen Stammbaums auf der anderen (s. Abb.).
Ein guter Teil der Ergebnisse mag sich als falsch oder ungenau herausstellen.Das Gesamtbild wird sich aber kaum ändern: Die Entlehnungen gehen durchden gesamten Wortschatz und umfassen die Gebiete Familien- und Gesellschaftsordnung, Ökonomie,Technologie/Handwerk, Mensch, Umwelt, sowie abstraktere Gebiete aus Wortschatzund Grammatik. Eine so starke Beeinflussung muss auf sehr intensivem und sehrlangem Kontakt beruhen, ihre Einseitigkeit auf ökonomischer, sozialerund kultureller Abhängigkeit. Die Indoiranier haben sicher nicht nur irgendwo „neben“ denUraliern gewohnt, sondern weitgehend als Oberschicht zusammen mit ihnen.
Ein besonderes Glanzlicht ist Katz' Analyse des Wortes Arya . Arya ,auch Arya. Das war bekanntlich die Selbstbezeichnung der Inder, in ähnlicherLautung auch der Iranier. (Es geht hier nicht um die sachlich gesehen unsinnigenAriertheorien des 19. und 20. Jh.) Die Bedeutung von altindisch arya isteigentümlich doppelschichtig, sie heißt „loyal, fromm, treu, anhänglich“,aber auch „zugetan, gütig“ sowie „Herr“. Ein arya- ist alsozugleich privilegiert und unterworfen. Das paßt für die indische- und sachlich gesehen sicher auch schon vorhistorische - Vaisya -Kaste,die den Kriegern und Brahmanen unterworfen und im Gegensatz zu diesen wohlwenigstens zum Teil aus assimilierten Fremden zusammengesetzt war. Jedenfallsist die Bezeichnung für den Sklaven im Finnougrischen aus der Berührungzwischen Finnougriern und Indoiraniern hervorgegangen.
Eine Ausschöpfung der in den Studien oft nur angedeuteten Ideenwird noch einiges Licht in die Vorgeschichte bringen. Sozialgeschichtlich interessantdürfte z.B. sein, daß auch so elementare Wörter wie „Bruder“ und „Schwester“ entlehntwurden. Die Uralier hatten nämlich so etwas gar nicht, sondern nur „ältere“ oder „jüngere“ Brüderbzw. Schwestern.
Kurios ist finnisch marras mit der Bedeutung „gestorben; im Sterbenliegend; Tiermännchen“, entlehnt aus indoiran. mrtós gleich „tot;Mensch“ (vgl. lateinisch mortuus „tot“). Die Bedeutung „Mensch“ istvermutlich sekundär, vermittelt über die Negativbildung n-mrtós „unsterblich,Gott“ (vgl. griech. Ambrosia „Göttertrank“), und das Gegenteildavon ist dann eben „sterblich, Mensch“. In den indogermanischen Sprachen istdiese doch etwas merkwürdige Bedeutungskonstellation „tot; Mensch“ baldwieder durch alternative Wortprägungen beseitigt worden - nur die Finnenkamen offenbar, wie Katz sich ausdrückt, auf Dauer damit zurecht.
Ökonomiegeschichtlich wichtig ist das Wortfeld rund um die Viehzucht.Hier ist vieles entlehnt. „Ferkel“ und „treiben“ wurde schon erwähnt.Besonders reich belegt ist das Rind mit Zubehör, weiter einiges zu Schafund Ziege; auch das für die Indoiranier besonders wichtige Pferd hat,wie Katz zeigt, seine sprachlichen Spuren bei den Uraliern hinterlassen. Weiterist der Ackerbau bei den Uraliern offenbar stark durch die Indoiranier geprägtworden, wie man an Lehnwörtern für „Gerste“, „Roggen“, „Hirse“, „Weizen“, „Mehl“, „worfeln,sieben“, „enthülsen“, „dörren“ u.a. sehen kann. Da wundert es nicht,daß auch der Wortschatz des Handels meistenteils entlehnt ist („einheimische ältereTerminologie ist untypisch“): eine sehr alte, schon ururalische Entlehnungist das Wort für „geben, verkaufen, tauschen“, aus jüngeren Schichtenstammen Wörter für „Ware, Handel“, „Preis“, „Wert“, „Betrug“.
Die Entlehnungen aus dem Bereich der Technologie sind fast noch vielfältiger:Bauwesen, Verkehrswege und Verkehrsmittel, Metallurgie, Mehrzweckgeräte,Waffen, Kleidung gehören dazu.
Das Kapitel „Schlußbemerkungen“ bietet auf fünf Seiten eine knappezusammenfassende Skizze der intensiven und langen Kulturberührung zwischenUraliern und Indoiraniern. Ein Gesamtszenario geben die Studien nicht.Es ist zu hoffen, daß das die künftige Forschung leistet.
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Der Rezensent PD Dr. Peter-Arnold Mumm arbeitet am Zentrum für historischeSprachwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München.In der Ausgabe 03-03 veröffentlichte das Eurasische Magazin einInterview mit Mumm über nostratische Forschungsansätze zur Entdeckungeiner gemeinsamen Ursprache auf dem Kontinent Eurasien.
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