„Tschetscheniens vergessene Kinder“ von Andrea Jeska und Musa Sadulaiew (Fotos).GELESEN

„Tschetscheniens vergessene Kinder“ von Andrea Jeska und Musa Sadulaiew (Fotos).

Mit diesem weltweit ersten Bildband über die Kinder der geschundenen russischen Republik Tschetschenien haben die Autoren ein einzigartiges Dokument vorgelegt. Es zeigt das Schicksal einer Kindheit, die das Grauen des Krieges zurückgelassen hat.

Von Eberhart Wagenknecht

„Tschetscheniens vergessene Kinder“ von Andrea Jeska und Musa Sadulajew (Fotos) mit einem Vorwort von Thomas Roth  
„Tschetscheniens vergessene Kinder“ von Andrea Jeska und Musa Sadulajew (Fotos) mit einem Vorwort von Thomas Roth  

D ie Kinder in diesem Buch und jene, die Musa Sadulajew und ich trafen, stellten oft die Fragen nach dem ‚Warum’. Als Antwort wollten sie keine Erklärung über die tiefere Ursache oder politische Motivation, sondern nur ergründen, warum Menschen anderen Menschen Gewalt antun und wie jemand kommen und einfach zerstören kann, was andere als ihre Heimat betrachten, ihr Zuhause, ihren Lebensraum. Wie jene, die man liebt und braucht, einfach getötet werden können, wie man alle Hoffnungen auf eine helle Zukunft vernichten kann.“

„Krieg hat für die Kinder Tschetscheniens keinen Grund und keinen Sinn“, schreibt die Autorin Andrea Jeska an gleicher Stelle und fügt hinzu: „Fast möchte man das als einen Hoffnungsschimmer sehen, dass vielleicht wenigstens diese Generation die Sinnlosigkeit der Gewalt begreift und sie nicht weiter tragen will.“

Andrea Jeska wird wissen, wie hilflos diese Hoffnung ist. Und sie weiß natürlich auch, dass nur Kinder keine „Erklärung über die tiefere Ursache“ suchen, angesichts des Blutes der Mutter, des Vaters, der Geschwister und angesichts des Todes der georgischen Nachbarin, der russischen Freundin, der Griechin oder der Armenierin, die in ihrem Ort gelebt haben und in diesem Krieg gestorben sind. Nur aus kindlicher Sicht sind all die Fragen nach unbeugsamem Nationalismus und infernalischem Hass, nach Rassismus, nach Rache und Vergeltung überflüssig. – Um einen „Hoffnungsschimmer“ zu erzeugen, bedürfte es allerdings gerade der Beantwortung solcher Fragen „über die tiefere Ursache“ und über die „politische Motivation“, die das alles hervorgebracht und die Bestie des Krieges gezeugt hat.

Friede beginnt in deinem Kopf

Aber das Buch heißt „Tschetscheniens vergessene Kinder“ und will angesichts des unendlichen Leidens aufrütteln, will dieses Leid instrumentalisieren, um möglichst weit über die abtrünnige und zerstörte Republik hinaus gehört zu werden.

„Friede beginnt in deinem Kopf“, versucht die Autorin zu suggerieren. Aber sie weiß natürlich, dass in Wahrheit über alle Köpfe der Kinder und der Unschuldigen im Lande der Krieg verhängt wird, von denen, die ihn zu brauchen glauben. Der Krieg hat begonnen in den Herzen und Hirnen fanatischer tschetschenischer Rebellen und brutaler russischer Militärs.

Tschetschenien gehört zu den gefährlichsten und instabilsten Regionen der Welt

Tschetschenien zählt zu den gefährlichsten und instabilsten Regionen der Welt. Den aktiven Krieg gibt es heute nicht mehr in Tschetschenien. Es finden keine Luftangriffe mehr statt, es rollen keine Panzer, man sieht keine brennenden Häuser mehr in den Straßen des Landes. Aber Vergewaltigung, Entführung, Exekution sind allgegenwärtig – noch immer. Kinder, die auf Minen treten, weil niemand sie wegräumt. Kinder, die kein Geld für eine Prothese oder eine Operation haben. Kinder, deren Eltern tot oder verschwunden sind. Kinder ohne ein Dach über dem Kopf, ohne eine Schule, in die sie gehen könnten. Kinder mit Polio, Tuberkulose, Krebs oder Lungenentzündungen.

Heute ruht die Hoffnung vieler Tschetschenen auf dem erst 30-jährigen Präsidenten Ramsan Kadyrow, der von Putins Gnaden das Land regiert. Er greift mit harter Hand durch und gilt unter Jugendlichen als cool.

Kadyrow hält sich einen Löwen als Haustier und besitzt im wahrsten Sinne des Wortes vier Frauen. Mit seinem archaischen Gebaren imponiert er der jungen Generation. In Tschetschenien gebe es diese „ungesunde Mischung“ aus „diffusen Rachegelüsten, gepaart mit Bildungsmangel“. Und der „ewige Glaube an Männlichkeit und Ehre, das Bild vom Steppenwolf, der mit seinem Gewehr den großen Goliath umbringt“ verstellten den Nordkaukasiern den Weg in einen lang anhaltenden Frieden."

Journalisten können das in Trümmern liegende Land wieder verlassen

In seinem Vorwort schreibt Thomas Roth, Studioleiter der ARD in Moskau: „Als Korrespondent habe ich über beide Tschetschenienkriege berichtet. Kenne also nicht nur die Angst und den Druck, der auf die Menschen durch die Kriegshandlungen entsteht. Und durch die umherstreifenden Marodeure, die Soldaten, die Diebe, die Mörder. Auch die nächtlichen Träume und Alpträume. Dennoch konnten wir als Journalisten auf welchen Wegen auch immer das Kriegsgebiet und das in Trümmern liegende Grosny wieder verlassen, während die Menschen dort zurückblieben und all dem auf Dauer ausgesetzt waren. Den Morden, den Toten, dem Hunger und der Verzweiflung. Besonders dann, wenn der Schnee fiel und die Kälte sich in die mühsam beheizten Gemäuer fraß. Sofern dort überhaupt Feuer in den Öfen oder einfach nur in den zerfallenen Räumen der Ruinen brannten.“

Tschetscheniens Kinder leben weiter mit dem Grauen der Nachkriegszeit

Tschetschenische Kinder leben weiter mit dem Grauen von Kriegs- und Nachkriegszeit. Mit seinen Fotografien hat der Musa Sadulaev diesem Grauen Ausdruck gegeben. Aber in den Augen der Kinder, deren Alltag er seit Jahren mit der Kamera begleitet, entdecken die mit der Kamera eingefangenen Bilder eine neue Hoffnung für das geschundene und zerstörte Land. Zusammen mit Andrea Jeska hat er den weltweit ersten Text-Bild-Band über die dramatischen Verhältnisse der nachwachsenden Generation im heutigen Tschetschenien vorgelegt und ein einzigartiges Foto-Dokument seiner Heimat vorgelegt. Er selbst wurde in der Verbannung in Kasachstan geboren, lebt heute in Tschetschenien und ist Vater von zwei Kindern.

Andrea Jeska ist Deutsche und lebt mit ihren drei Töchtern in Norddeutschland. Viele Male hat sie Tschetschenien besucht. Ihr Bericht über das in Trümmern liegende Land erzählt von dem beißenden Geruch der Holzfeuer, der Feuchtigkeit klammer Ruinen und verbrannter Erde. Sie sah Kinder, „so verwahrlost, dass selbst ich sie nicht mehr streicheln mochte“, berichtet sie. „Sie trugen graue Seelen in ihren Augen. Und der graue Staub der vor sich hin sterbenden Häuser hatte sich ihnen über die Haare, die Haut gelegt.“

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Rezension zu: „Tschetscheniens vergessene Kinder“ von Andrea Jeska und Musa Sadulajew (Fotos) mit einem Vorwort von Thomas Roth, Brendow Verlag 2007, 144 Seiten, 100 vierfarbige Fotos, dreisprachig (Deutsch, Englisch, Russisch), Hardcover, 22 x 20 cm. ISBN: 3-865-06189-3, 19,95 Euro.

Kaukasus Rezension Russland Zentralasien

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