09.08.2023 13:11:56
LITAUEN
Von Klaus Richter
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Monika Bončkutė im Gespräch mit Arvydas Daunoravičius, Generalkonsul am Generalkonsulat der Litauischen Republik in Chicago. (Foto: Ben Valinskis). |
ie Furcht vieler Litauer, das Land sei in Auflösung begriffen, und das litauische Volk werde sich über kurz oder lang in die Diaspora verstreuen, führt dazu, dass litauische Auswanderer häufig als Verräter beschimpft werden. Geschürt werden solche Ängste von den Medien, die die Auswanderer zumeist als Kosmopoliten darstellen, die in der Emigration wie im Schlaraffenland leben und aus sicherer Entfernung zusehen, wie das Land ihrer Vorfahren langsam vor die Hunde geht. Die kritische Journalistin Monika Bončkutė hat der litauischen Presse unlängst vorgeworfen, sie veranstalte ein „Wettrennen des Patriotismus“. Emigranten rangierten dabei am unteren Ende der Skala, würden lediglich als einheitliche Masse wahrgenommen, die keinerlei Vaterlandsliebe empfinde.
Dabei ist es nicht zuletzt die Politik, die leichtfertig die Bande zwischen der litauischen Republik und den Litauern der Diaspora zerschneidet. Emigranten, die eine ausländische Staatsbürgerschaft annehmen, verlieren automatisch die litauische. Dasselbe gilt für ihre Nachkommen: Im Ausland geborene Kinder haben nicht die Möglichkeit, eine doppelte Staatsbürgerschaft zu erlangen.
Das war nicht immer so. Lange Zeit konnten Litauer die Staatsangehörigkeit ihres Gastlandes annehmen und gleichzeitig litauische Bürger bleiben. Zu erbringen war dafür lediglich der Beweis, dass ein direkter Vorfahre Bürger des unabhängigen litauischen Staates der Zeit zwischen den Weltkriegen gewesen war. Dieser Praxis schob das Verfassungsgericht im November 2006 endgültig einen Riegel vor – und stellte somit Hunderttausende Litauer vor die Wahl, in dem Land, in dem sie leben, fremd zu sein, oder in dem Land ihrer Vorväter als Ausländer zu gelten.
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Plakat der Kampagne „Wir wollen litauische Staatsbürger sein“ |
Die litauische Gemeinde in den USA wandte sich umgehend mit einer Petition an die Regierung in Vilnius und bat um eine Regelung bezüglich der doppelten Staatsbürgerschaft. „Wo immer in der Welt Litauer leben, da ist auch Litauen“, betonten die Unterzeichner und forderten eine Stärkung der Verbindungen zwischen Diaspora und Heimat. „Die Litauer müssen geeint werden und dem Staat nahe sein können – im Namen des aufblühenden Litauens des 21. Jahrhunderts, das dem litauischen Volk gehört und als Heimat für das Volk geschaffen wurde.“ Trotz weiterer Eingaben zahlreicher litauischer Gemeinden weltweit rührte sich die Politik bis heute kaum. Bončkutė fordert daher, die produktive Existenz der ausgewanderten Litauer endlich als Chance zu begreifen: „Warum ermutigen wir die Litauer nicht, in den USA, in der Schweiz, in China Karriere zu machen, indem wir ihnen ihre litauischen Pässe lassen?“
„Wir wollen litauische Bürger sein“ – so hieß daher auch eine Aktion der litauischen Gemeinde in Irland, die mit rund 50.000 Mitgliedern zu den größten in Europa zählt. Litauische Eltern wandten sich dabei kürzlich mit Fotos ihrer Kinder, denen die litauische Staatsbürgerschaft versagt bleiben wird, an Staatspräsident Valdas Adamkus. Ihr Ziel: eine Verfassungsänderung. Hingewiesen wird dabei auf die irische Gesetzgebung. Dort reicht es aus, dass der Vater oder die Mutter des Kindes drei Jahre in Irland gelebt haben, damit das Kind irischer Staatsbürger wird – und somit sein Recht auf litauische Staatsbürgerschaft verliert.
Der Seimas, das litauische Parlament, bildete daraufhin tatsächlich eine Arbeitsgruppe mit dem Auftrag, einen Entwurf zur Verfassungsänderung auszuarbeiten. Laut diesem sollen zwar Litauer, die eine andere Staatsbürgerschaft angenommen haben, kein Recht auf die litauische Staatsbürgerschaft erhalten – ihre Kinder hingegen sollen die Möglichkeit bekommen, einen doppelten Pass zu beantragen. Der Entwurf soll im April dem Seimas vorgelegt werden.
Zeitgleich präsentierte der Direktor der zum Innenministerium gehörenden Abteilung für Auswanderung, Dainius Paukštė, während einer Parlamentssitzung die Ergebnisse einer Studie. Aus ihr geht hervor, dass in den letzten Jahren nicht nur die Auswanderung angestiegen ist, sondern auch die Einwanderung nach Litauen. Wurden 2004 – also im Jahr des Beitritts zur Europäischen Union – nur 6.400 Aufenthaltsgenehmigungen ausgestellt, waren es 2006 bereits 8.800 und 2007 gar 12.400. Geändert haben sich dabei nicht nur die blanken Zahlen, sondern auch die Beweggründe zur Einwanderung. Im Jahr 2004 waren noch 46 Prozent der Einwanderer aus partnerschaftlichen Gründen und nur 34 Prozent aus ökonomischen Gründen nach Litauen gezogen. Dieses Verhältnis hat sich in den letzten Jahren diametral umgekehrt – über die Hälfte der Einwanderer nennt nun wirtschaftliche Gründe als Motiv. Die meisten von ihnen kommen aus Weißrussland und der Ukraine, viele auch aus Moldova.
Es ist damit zu rechnen, dass auch die steigende Einwanderung in der litauischen Presse für Zündstoff sorgen wird. Das könnte jedoch durchaus positive Auswirkungen haben: Die Einsicht, dass es sich bei den Einwanderern um hart arbeitende Menschen handelt, die von wirtschaftlichen Missständen zur Arbeit im Ausland gezwungen werden, um ihre Familie versorgen zu können, könnte zu einem Perspektivwechsel beitragen. Nämlich, dass auch die litauischen Auswanderer oftmals nicht vor der Wahl standen, Patrioten oder Verräter zu sein, sondern sich dem wirtschaftlichen Zwang beugen mussten, sich und ihre Familien zu ernähren. Und dass dies keinesfalls bedeutet, dass der litauische Staat alle Brücken hinter ihnen leichtfertig abbrechen, sondern vielmehr gute Verbindungen zur Diaspora pflegen sollte.
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