09.08.2023 13:11:56
LITAUEN
Von Roland Stork
Die mittelalterliche Burg Trakai, vor den Toren von Vilnius © Jochen Staudacher |
aß Litauen als letztes Land in Europa erst im 14. Jahrhundert zum Christentum bekehrt wurde, ist bestimmt einer der Gründe dafür, daß es bei uns so viele seltsame Weihnachtstraditionen gibt“, da ist sich Dainius sicher. Wie nahezu alle Litauer erzählt der 30jährige Kunststudent mit hörbarem Stolz in der Stimme von „Kutschios“. „Kutschios“ – das ist in Litauen der Name für Heiligabend. Gleichzeitig meint „Kutschios“ aber auch die traditionellen zwölf Speisen, die speziell für diesen Abend zubereitet werden.
Nach Einbruch der Dämmerung versammelt sich die ganze Familie um einen reich gedeckten Tisch. Keines der Gerichte darf Fleisch oder Milchprodukte enthalten. Auch Fett sollte nur in Form von Öl vorkommen. Zur Auswahl stehen Pilz- und Fischgerichte, Getreidebreie und Salate. „Ein Gericht darf auf keinen Fall fehlen: die Mohnsuppe mit den kleinen Mohnbällchen“, da sind sich alle Befragten mit der 22jährigen Studentin Beatrice einig.
Quer durch die Generationen werden die „Kutschios“ auch heute noch in allen litauischen Familien an Heiligabend gereicht. Und eine Mehrzahl der Litauer befolgt die Sitte, einen Platz am Tisch frei zu halten. „Nach dem Mahl wird dort ein gefüllter Teller und ein gefülltes Glas für die Geister der verstorbenen Familienmitglieder über Nacht stehen gelassen,“ berichtet Architekt Kestas aus seiner Familie.
In der kirchlichen Deutung steht die Anzahl der Gerichte für die zwölf Apostel, aber, so erläutert die Ethnologin Nijole Marcinkevitschiene, ihren Ursprung hat sie in der Zahl der Monate. Daß von jedem Gericht reichlich zur Verfügung steht, sollte in alten Zeiten als gutes Omen für ausreichende Nahrung im kommenden Jahr gelten. In heidnischer Zeit war der Heiligabend als Tag der Sonnwende von größter Bedeutung – er markierte das Ende des alten Jahres, bestärkte den Familienzusammenhalt und gab Anlaß, in das kommende Jahr zu blicken.
Winteridylle – der Kirchturm der 1579 gegründeten Universität von Vilnius © Jochen Staudacher |
„All unsere Traditionen rühren aus vorchristlicher Zeit her. Später wurde versucht, ihnen christliche Symbole überzustülpen“, erklärt die Ethnologin, die am Staatlichen Volkskulturzentrum arbeitet und dort mit der Dokumentation der alten Sitten betraut ist. Im Gegensatz zu Deutschland konnte die Kirche in Litauen die alten Bräuche aber nie vollständig adaptieren. Vor allem nicht an „Kutschios“, wo viele Sitten nichts Christliches an sich haben.
Auf dem Land bleiben im streng katholischen Litauen an Heiligabend auch heute noch die meisten Kirchen geschlossen – die Tradition sieht „Kutschios“ als reines Familienfest am häuslichen Tisch. Denn vor den Türen der Häuser, so die Überlieferung, ziehen die Geister der Verstorbenen umher. Die Oblaten, die vor dem Mahl reihum gebrochen werden, wurden zwar in der Kirche geweiht, mit dem Brechen verbindet sich jedoch der abergläubische Blick auf das nächste Jahr: wem das kürzere Ende bleibt, dem droht ein früher Tod.
Auf den Tisch wird Stroh gestreut – das Stroh aus der Krippe Jesu Christi, meint die kirchliche Tradition. Doch nach dem Essen siegt der heidnische Aberglaube, wie Dainius auch aus seiner Familie bestätigt: „Wir ziehen die Strohhalme unter der Tischdecke hervor. Lange, dicke lassen auf ein gutes Jahr oder – bei Unverheirateten – auf eine gute Partie schließen. Dünne oder gebrochene sind ein schlechtes Omen.“
Natürlich haben sich auch in Litauen viele moderne Bräuche durchgesetzt. Der geschmückte Weihnachtsbaum, der Anfang des 20. Jahrhunderts als Import aus Deutschland in den Stuben wohlhabender Bürger Einzug hielt, darf heute in keiner Familie fehlen. Ebenso ist es üblich, sich große Geschenke zu machen. Bei einigen Familien gibt es sogar schon an „Kutschios“ Bescherung, ganz wie in Deutschland an Heiligabend.
„In der Tradition ist Kutschios der Abschluß der sehr stillen und ernsten Adventszeit. Erst der erste Weihnachtsfeiertag, der Beginn des neuen Jahres, ist fröhlich und ausgelassen“, stellt Nijole Marcinkevitschiene klar. „Man geht in die Kirche und besucht Verwandte und Bekannte, Alkohol und fettes Essen sind wieder erlaubt. In meiner Kindheit waren Geschenke noch unbekannt, es gab höchstens am ersten Weihnachtsfeiertag ein paar Nüsse und Süßigkeiten.“
Die knapp 50 Jahre, in denen Litauen Teil der Sowjetunion war, haben den Bräuchen wenig anhaben können, „da der Heiligabend ein Familienfest ist, das ganz im privaten Kreis gefeiert wird“, wie die Ethnologin erklärt. Zwar hat sich in der sowjetischen Zeit das Bewußtsein für den Jahreswechsel auf das kalendarische Datum verschoben, aber das konfessionslose „Väterchen Frost“, das die Kinder nach Neujahr in der Schule beschenkte, wird heute vom Weihnachtsmann ersetzt.
Eine Figur, die allerdings eher aus Amerika als aus heidnischer Zeit rührt. Aber, keine Angst, versichert die Journalistin Giedre: „Kutschios bleibt Kutschios! Die zwölf Gerichte wird es immer geben. Und ich kann mir mein Bein brechen oder sterbenskrank sein, aber an diesem Abend muß ich bei meiner Familie sein.“ Ganz wie in Deutschland.
Roland Stork, Vilnius
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Der Autor ist Korrespondent von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Autoren in ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen unter www.n-ost.de.
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