Die Westerweiterung des OstensEURASISCHE DIMENSIONEN

Die Westerweiterung des Ostens

Wie die neuerliche Integration Europa verändern wird

Von Eberhart Wagenknecht

EM – Was zur Zeit in Europa an Integration vorbereitet wird, nennt sich „Osterweiterung der Europäischen Union“. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Für Malteser und Zyprioten weniger, aber für Polen, Tschechen, Slowaken, Esten, Letten, Litauer, Ungarn und Slowenen, ist dies die langersehnte Erweiterung nach Westen. Von Prag, Budapest oder Riga aus gesehen reicht der Blick nun bis an den Atlantik. Für die Länder des ehemaligen Ostblocks haben sich neue Möglichkeiten im großen Europa eröffnet. Sie haben das Tor aufgestoßen und kommen nach Westen. Sie stehen nun quasi mit dem Rücken zu ihren draußen gebliebenen Nachbarn Rußland, Ukraine, Weißrußland.

Die Europäische Union steht vor der größten Veränderung ihrer Geschichte: Im nächsten Mai vergrößert sich die Zahl ihrer Mitglieder von 15 auf 25.

Am 1. Oktober bereits wurden die östlichen Grenzen der EU-Beitrittsstaaten ein Stück undurchlässiger: Auf Drängen der EU gilt für Ukrainer, Russen oder Weißrussen seither eine generelle Visumpflicht. Derzeit ist es noch ein nationaler Probelauf, aber ab Mai 2004 werden hier die Außengrenzen der EU verlaufen. Jahrzehntelang waren Wirtschaft und Politik der Staaten Mitteleuropas nach Osten orientiert. Nun werden Brüssel, Berlin und Paris die neuen Zentren, auf die sich Polen und die anderen Neumitglieder ausrichten.

Mit dem Stichag des Beitritts 1. Mai 2004 beginnt für sie die Westerweiterung. Sie werden Teil des europäischen Binnenmarktes, was bedeutet, daß alle Warenkontrollen entfallen. Personenkontrollen an den dann geltenden Binnengrenzen gibt es hingegen nach wie vor, bis die Länder gemeinsam dem Schengen-Gebiet beitreten. Das wird noch einige Jahre dauern. Erst wenn die Grenzen im Osten von den EU-Behörden als wirklich sicher eingestuft werden, kommen die Menschen in den Genuß, ohne Kontrollen über die alte Demarkationslinie des Kalten Krieges nach Madrid, Amsterdam oder Hamburg reisen zu können.

Um den lukrativen kleinen Grenzverkehr mit den östlichen Nachbarn aufrecht zu erhalten, hat die EU-Kommission vorgeschlagen, zunächst Dauervisa für Grenzlandbewohner aus der Ukraine oder Weißrußland einzuführen. Mit dem späteren Ende der Binnenkontrollen fällt dann auch dieses Zugeständnis an die alte „Ostverwandtschaft“ weg.

DER FAHRPLAN ZUR OSTERWEITERUNG DER EU

 
Anfang 2004: Die Kommission erstellt einen Finanzrahmen für den Beitritt Bulgariens und Rumäniens.

Mai 2004: Aufnahme der zehn neuen Beitrittskandiaten in die EU.

Oktober 2004: Kommissionsbericht über die Beitrittsreife der Türkei

Dezember 2004: Der Euopäische Rat entscheidet über die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei.

Ende 2004: Abschluß der Beitrittsverhandlungen mit Bulgarien und Rumänien

Ende 2005: Beitrittsvertrag mit Bulgarien und Rumänien.

2007: Geplanter EU-Beitritt von Bulgarien und Rumänien.
 

Die EU-Außengrenzen von 2004 bilden den neuen Rand der Weltwirtschaft

Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) untersuchte kürzlich, was die Westerweiterung der zehn neuen Mitglieder für jene Länder bedeutet, die dann zu Anrainerstaaten der EU werden. Ihre Experten befürchten, daß es zu einer „Marginalisierung“ dieser Staaten kommt, vor allem Rußlands, Weißrußlands, Kasachstans und der Ukraine. „Es besteht die Gefahr, daß sie an den Rand der Weltwirtschaft verbannt bleiben, mit nur geringen ausländischen Investitionen und wenig Möglichkeiten zu legaler Migration.“

Nach Ansicht der Bank stehen vor allem jene Staaten vor einem Problem, die nicht über eigene Rohstoffressourcen verfügen. Ausländische Investoren würden solche Länder meiden und im wesentlichen nur noch dort investieren, wo es große natürliche Reichtümer an Rohstoffen gibt. Die Investitionen würden ansonsten in Zukunft vor allem innerhalb der neuen Binnengrenzen getätigt.

Die EBRD rät den draußen gebliebenen zu einer engeren Zusammenarbeit untereinander. Sie empfiehlt ihnen damit indirekt die Gründung einer Freihandelszone, wie sie Rußland im September auch bereits mit der Ukraine, Weißrußland und Kasachstan vereinbart hat. Außerdem regt die Bank an, die Länder sollten größere Anstrengungen für den Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO unternehmen, um möglichst bald aufgenommen zu werden.

„Den Osten will keiner haben“

Für knapp 75 Millionen neue EU-Einwohner geht der Blick nun nach Westen. Sie erweitern ihre Möglichkeiten, in einem der größten und attraktivsten Wirtschaftsräume der Erde aktiv zu werden. Der Osten wird kleiner. Und neben Rumänien und Bulgarien, deren Beitritt schon geplant ist (siehe Kasten: Fahrplan für die weitere Westintegration) stehen mit Serbien/Montenegro, Kroatien und der Ukraine bereits weitere Länder des ehemaligen Ostblocks und Jugoslawiens bereit, sich dem Westen anzuschließen. Die Türkei als Korridor zum Orient und nach Asien drängt ebenfalls mit Macht in die EU. Mit ihr überschreitet die EU eines nicht fernen Tages die eurasische Linie. Die türkische Republik bringt allein 65 Millionen Einwohner mit – und im Gegensatz zu den meisten Ländern im Westen hat sie eine wachsende Bevölkerung.

Und was ist mit dem Osten? „Der Osten ist etwas, das keiner haben will“, schreibt Wolfgang Büscher, der Autor des Buches „Berlin Moskau – eine Reise zu Fuß“. Der Osten ist demnach etwas, „das sich jeder von der Jacke schnippt wie Vogeldreck.“ Der Osten beginne für alle Völkerschaften immer erst ein Stück weiter Richtung Sonnenaufgang. Für die Brandenburger in Warschau, für Westpolen in Ostpolen, und dort sagt man, in Belarus beginne er. Der Osten „werde weiter und weiter gereicht, von Berlin bis Moskau.“

Er wird nicht nur auf zivilem Sektor ausgegrenzt, sondern auch militärisch. Denn einhergehend mit der Westöffnung für die neuen Mitglieder, zeitlich sogar noch früher, erfolgte die Osterweiterung der Nato. Sie steht heute bereits an den Grenzen der EU oder – wie auf der Balkanhalbinsel – ist sogar schon über die EU-Linie des Jahres 2004 vorgerückt.

Die Teilnehmerländer der Westerweiterung wenden riesige Summen auf, um Nato-Standard zu erreichen. Im wesentlichen dadurch, daß sie amerikanisches Kriegsgerät anschaffen und ihre Truppen damit aufrüsten. Vor nicht allzu langer Zeit hätten linke und alternative Politiker gesagt, mit diesem Geld sollten besser Schulen und Kindergärten gebaut und die Infrastruktur verbessert werden. Inzwischen ist davon nichts mehr zu hören.

Niemand kommt anscheinend auf die Idee, die Rechnung aufzumachen, welch grandiose Verkehrserschließungen davon finanziert werden könnten. Man muß ja nicht gleich eine Transrapid-Strecke von Shanghai oder Wladiwostok über die alte Seidenstraße bis zum Atlantik fordern. Auch wenn mit den Kosten der Nato-Aufrüstung in den neuen Westgebieten des ehemaligen Ostens diese Strecke wahrscheinlich locker finanziert werden könnte: es gibt auch noch genug holprige Pisten und marode Schienennetze zwischen Prag und Budapest oder zwischen Warschau und Tallin, die sich zur Sanierung anböten. „Schwerter zu Schienen“ wäre eine Parole, die Hoffnung machen würde für das zusammenwachsende Europa. Mehr jedenfalls als neue Panzer an Pruth und Bug. (Siehe dazu Lesetip „Eurasien und der Transrapid“ in EM 07-03).

Kommt der große Treck nach Westen?

Wenn die Länder im Osten demnächst ihre Grenzzäune zum Westen öffnen, werden Wanderungsbewegungen in die bisherige EU einsetzen, die bislang nur schwer abzuschätzen sind. Über das Ausmaß und die möglichen Auswirkungen wird allerdings kaum diskutiert. Von den wenigen neueren Erhebungen, die es gibt, haben zwei höchst unterschiedliche Ergebnisse gebracht. Sie wurden in Österreich und in Bayern durchgeführt, den unmittelbaren Nachbarn der neuen EU-Länder.

Die Österreicher haben durch Umfragen festgestellt, daß sich Befürchtungen einer massenhaften Einwanderung von Arbeitskräften aus dem angrenzenden Neu-EU-Land Ungarn nicht bewahrheiten dürften. Demoskopen hätten ermittelt, berichten österreichische Wirtschaftsblätter, daß gut bezahlte Ungarn kein Interesse an einem Arbeitsplatz in Österreich zeigen. Der durchschnittliche ungarische Arbeitnehmer sei sehr heimatverbunden und bei weitem nicht so mobil, wie in Österreich angenommen wurde.

Im benachbarten Bayern sieht man dagegen durchaus eine starke Zuwanderung aus Osteuropa voraus. Die Öffnung nach dem Westen werde zu drastischen Engpässen auf dem Wohnungsmarkt und zu steigenden Mieten in den Ballungsräumen München, Nürnberg-Erlangen, Regensburg und Ingolstadt führen. Davor warnt jedenfalls der Verband bayerischer Wohnungsunternehmer (VdW) unter Berufung auf eine Studie des Münchner Ifo-Institus. Als Anrainer von mehreren Ländern, die neu zu Europa stoßen, bekäme Bayern naturgemäß als erstes die Zuströme zu spüren. Rund 600.000 Osteuropäer würden sich nach den Erhebungen des Instituts in den kommenden zehn Jahren in Bayern niederlassen, davon weit über 200.000 allein in der Millionenstadt München. Es sei mit drastischen Mietsteigerungen zu rechnen.

Die Umweltschutzpolitik des Europaparlaments dürfte sich eklatant verändern

Mit dem Beitritt der zehn neuen Mitglieder zur EU werden sich auch die Machtverhältnisse im Europäischen Parlament und im Ministerrat verändern. Nach der Europawahl im Juni 2004 stammen von den dann 732 Abgeordneten 162 aus den zehn neuen Mitgliedsländern. Damit werden nach Ansicht von altgedienten EU-Parlamentariern auch neue Akzente in der Industriepolitik gesetzt. Sowohl bei der Kernkraft als auch bei den Auflagen für die chemische Industrie sind die Umweltschutz-Standards in den Ostländern weit niedriger. Es sei nicht auszuschließen, daß die Atomindustrie dadurch neue Chancen bekäme. Die Emissionsgrenzen könnten sich in absehbarer Zeit ebenso verschieben wie die Kennzeichnungspflicht bei Nahrungsmitteln, die in Warschau und Budapest, auf Zypern oder Malta eben nicht so streng gesehen würden wie im „alten Europa“. Das ist ein Aspekt der Westerweiterung, an den man sich wohl gewöhnen muß.

Polen ist Schlußlicht bei den Vorbereitungen für seine Westöffnung

Noch jedoch sind die Maßstäbe von den bisherigen Mitgliedern festgelegt und die Neuen müssen sich anpassen. Das fällt dem größten Beitrittsland besonders schwer. Polen rangiert mit annähernd 40 Millionen Einwohnern auf Platz sechs der einwohnerstärksten EU-Länder, nur knapp hinter Spanien. Das Land hat sich zu einer der am stärksten wachsenden Volkswirtschaften Europas entwickelt. Der Warschauer Zentralbank gelang es schon in den neunziger Jahren, die zunächst hohen Preissteigerungen im Land unter Kontrolle zu bringen und die Inflation deutlich herunterzufahren. Die Exporte seiner verarbeitenden Industrie – ganz besonders diejenigen in die Europäische Union – sind zu einem der wichtigsten Pfeiler der polnischen Wirtschaft geworden.

Eine der größten Schwächen Polens ist jedoch seine hohe Arbeitslosigkeit. Sie ist inzwischen auf knapp unter 20 Prozent angestiegen. Viele nötige Strukturreformen blieben in den fünfzehn Jahren seit den ersten freien Wahlen unerledigt. Dies liegt vor allem an den häufigen Wechsel n der Regierungsparteien, die wichtige aber oft unpopuläre Maßnahmen immer wieder aufgeschoben haben.

Im letzten Erweiterungsbericht vor dem Beitritt stellte die EU-Kommission Polen das schlechteste Zeugnis von allen neuen Beitrittsländern aus. Das größte und bevölkerungsreichste unter den neuen Ländern der Gemeinschaft und dasjenige, das seine nationalen Interessen in Europa am lautesten vertritt, zeigt sich auch als das größte Sorgenkind. Das französische Finanzministerium hat nach einem Bericht der Financial Times Deutschland ausgerechnet, daß bei derzeit geltendem Haushaltsrecht der EU, Polen zwischen 2007 und 2013 insgesamt 4,5 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes aus der EU-Kasse erhalten würde. Das entspräche einem Betrag von rund 2000 Euro pro Einwohner. Damit würde Polen zum größten Profiteur unter allen EU-Ländern.

Neun Bereiche führt der Kommissionsbericht an, in denen Polen noch nicht beitrittsreif sei:

o Es fehle an ausreichenden Verwaltungsstrukturen für die Aufnahme von EU-Agrarsubventionen

o Das Kontrollsystem für Agrarprodukte entspreche noch nicht den EU-Standards zum Schutz der Gesundheit. Zur Zeit erfüllten von insgesamt 1.409 Molkereien im Lande nur ganze 38, das sind weniger als drei Prozent, die Hygienestandards der EU. Nur ein Drittel der Rohmilch, die von den Bauern bei den Molkereien abgeliefert würde, sei ausreichend gekühlt, der überwiegende Teil sei viel zu stark mit Bakterien belastet. Noch schlechter sehe es bei den Fleischbetrieben aus. Von 3.785 Firmen würden nur 90 den verlangten Qualitätsanforderungen genügen, also gerade 2,4 Prozent. Während bei den meisten Molkereien die Chance auf Modernisierung innerhalb der Übergangsfrist von drei Jahren bestünde, müßten mindestens 1.500 Fleischbetriebe geschlossen werden (knapp 40 Prozent). Die Investitionen in moderne Kühlanlagen würde die Fleisch-und Wurstproduktion in diesen Betrieben auf längere Sicht unrentabel machen und die Firmen in den Konkurs treiben. Betriebe, die bis 2006 die Hygienestandards der EU nicht erfüllen, müssen geschlossen werden.

o Das Staatsdefizit Polens sei zu hoch und steige weiter an

o Die Arbeitslosigkeit erreiche mit landesweit 20 Prozent beängstigende Ausmaße

o Die Korruption ebenfalls

o Das Gerichtswesen sei unzulänglich

o Die Infrastruktur sei mangelhaft. Vor allem bei den Fernstraßen. Selbst die wichtigsten Ost-West-Strecken seien ungenügend ausgebaut und völlig überlastet.

o Auch in der Industriepolitik Polens sieht die EU schwere Mängel. Die in Staatsbesitz befindlichen Unternehmen der Stahlindustrie, des Bergbaus und der Werften seien tief verschuldet und sollten längst privatisiert sein. Doch die finanziellen Risiken hätten bislang noch jeden potentiellen Investor abgeschreckt.

o Besonders bemängelt wird von der EU-Kommission auch, daß der freie Verkehr von Arbeitskräften innerhalb der EU durch Polen behindert werde und auf absehbare Zeit nicht gewährleistet sei.

Das Widerstandspotential in den Beitrittsländern wird nun erforscht

In den neuen EU-Ländern, die erst vor rund einem Jahrzehnt ihre Souveränität erlangt haben, leistet ein starkes Nationalgefühl Widerstand gegen die EU als staatenübergreifendes Machtzentrum. Polen sei dabei der politisch heikelste Staat, sagt Gerhard Wagner, Soziologe von der Universität Würzburg. Er befaßt sich in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt mit dem Nationalismus dieses Landes.

In Polen gebe es eine ausgeprägte historische Identität, an die nationalistische Bewegungen anknüpfen könnten. Diese Eigenheit rührt laut Wagner daher, daß das Land jahrhundertelang unter Fremdherrschaft gelebt hat. Von 1795 bis 1918 war ein polnischer Staat gar nicht existent. Daher identifiziere man sich bei den östlichen Nachbarn weniger als Bürger des Staates, sondern in erster Linie über die Abstammung und die Kultur - beispielsweise über das Bekenntnis zum katholischen Glauben. „Viele Polen begrüßen den Beitritt zur EU, lehnen aber die im Westen übliche Trennung von Kirche und Staat völlig ab“, konstatiert der Würzburger Professor. Diesen Zwiespalt zwischen pro-westlicher Identifikation und anti-westlicher Abwehrhaltung gebe es in allen Beitrittsstaaten. In Polen sei er aber besonders ausgeprägt.

„Ob die Integration der Beitrittsländer gelingt, hängt auch davon ab, wie gut wir Bescheid wissen über das Nationalbewußtsein und das Widerstandspotential in diesen Ländern“, prognostiziert der Wissenschaftler. Um das zu ergründen, sollen in nächster Zeit ausführliche Interviews mit polnischen Parlamentariern geführt werden, die von einem deutsch-polnischen Team geplant, durchgeführt und ausgewertet werden.

Befragt werden Parlamentarier des Sejm, der Ersten Kammer des polnischen Parlaments, weil sich dort die ambivalente Einstellung der Bevölkerung gegenüber der EU in der Sitzverteilung besonders widerspiegele. Zurzeit ist das Forschungsprojekt in der Phase der Vorbereitung. Die Interviews sollen von April bis September 2004 geführt werden. Für die Fertigstellung der Studie ist Ende 2005 anvisiert.

Die Polen fürchten vor allem eine Dominanz von Deutschen und Franzosen in der EU. Mit der im europäischen Verfassungsentwurf vorgesehenen Stimmgewichtung könnten „zwei oder drei größere Länder die Kontrolle übernehmen“, kritisiert Polens Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz. Deshalb will Polen auf der im Vertrag von Nizza ursprünglich festgelegten Stimmverteilung bestehen. Sie räumt dem Land nahezu die gleiche Stimmengewichtung in den Entscheidungsgremien der EU ein, wie zum Beispiel Deutschland mit seinen doppelt so vielen Einwohnern.

Inzwischen bekommt Polen in dieser Frage Unterstützung von Großbritannien, mit dem es auch schon in der „Koalition der Willigen“ verbunden ist, die Amerika in seinem Irak-Krieg unterstützen. Die Gefahr eines Auseinandertriftens der EU in der polnischen Frage oder der Einmischung Amerikas über die Schiene England-Polen in die Politik der Europäischen Union wird von einer Reihe von Politikern der EU gesehen. Der französische Außenminister Dominique de Villepin hat deshalb unlängst den Gedanken einer „Französisch-Deutschen-Union“ ins Spiel gebracht, um den gemeinsamen Druck einer Art Kerneuropa auf Polen zu erhöhen. Eine ähnliche Position vertritt auch der CDU-Außenpolitiker Karl Lamers, langjähriger Obmann im Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestags im Eurasischen Magazin . Aus seiner Sicht ist der „Streit um das atlantische oder das europäische Europa in ein entscheidendes Stadium getreten.“ Es sei unverzichtbar für Europa, die Polen immer stärker einzubinden. Es müsse gelingen, daß Polen eines Tages seine Loyalität zu Brüssel über die gegenüber Washington stelle, sonst könne man „Europa vergessen“. (Siehe Interview in EM 10-03).

Europas neuer Osten: Lebensmittel, Dienstleistungen und ein reger Heiratsmarkt

Das Beispiel Polen macht am besten deutlich, wie tiefgreifend manche politischen Veränderungen in der EU sein werden. Daneben gibt es auch eine Reihe von Schlaglichtern, die vor allem den Alltag von Wirtschaft und Verbrauchern betreffen.

Beispiel Messestandort Deutschland: Durch die Einbeziehung der neuen EU-Länder verliert Deutschland endgültig seine europäische Randlage. Michael Wutzlhofer, Chef der Messe München GmbH verspricht sich davon Gewinn: „Wir liegen jetzt als größter europäischer Einzelmarkt mitten im politisch-wirtschaftlichen Großraum Europa. Zusätzlich zu unserer hervorragenden Infrastruktur an Messegeländen, mit der guten Verkehrsanbindung und unserem international anerkannten Organisationstalent haben wir damit in Zukunft eine noch bessere Ausgangslage für erfolgreiche Messen.“

Beispiel Lebensmittelimport: Die Einfuhr von Lebensmitteln aus dem neuen EU-Raum hat in letzter Zeit sprunghaft zugenommen. Die Abschaffung der Einfuhrzölle zu Beginn des Jahres 2003 und der Wegfall der EU-Ausfuhrerstattungen hat dazu geführt, daß zwischen der EU und den Ländern, die dazustoßen, praktisch schon heute Freihandel herrscht. Die im Osten lange genährte Furcht, man könnte zu einem reinen Absatzmarkt der bisherigen EU werden, erweist sich als unbegründet. Im ersten Halbjahr 2003 überstiegen die Importe der alten EU in vielen Bereichen erstmals die Exporte nach Osten. Vor allem die günstigeren Einkaufspreise haben dazu geführt, daß immer mehr Lebensmittel aus den baltischen Ländern, aus Polen, Tschechien und Ungarn den Weg in die Regale der Supermärkte zwischen Lissabon und Berlin fanden.

Beispiel Dienstleistungsfirmen: Hier ist ein starker Zug nach Osten zu verzeichnen. Große Dienstleistungsunternehmen nutzen die neuen EU-Länder bereits, um ihr Europageschäft auszubauen. Unternehmensberater, telefonische Servicebüros („Callcenter“), Logistikberater sind derzeit vor allem in der Tschechischen Republik gefragt. Die Logistiktochter der Deutschen Post, die aus den Firmengründern Delsy, Hillblom und Lynn hervorgegangene DHL, will in den kommenden fünf Jahren 500 Millionen Euro in Tschechien investieren und voraussichtlich 1000 Mitarbeiter einstellen. In Prag plant sie ein Zentrum für Datenverarbeitung, in dem Kundenaufträge für das gesamte neue EU-Europa verwaltet werden. Damit verlagert DHL einen Großteil seiner Aktivitäten aus Großbritannien nach Tschechien. Der Grund: Die Löhne für Spezialisten in der Informationstechnologie liegen dort um zwei Drittel niedriger.

Beispiel Filmindustrie: Auch diese Branche orientiert sich aus Kostengründen immer stärker nach Osten. Längst ist Prag zu einer Filmstadt geworden, die in ihrer Bedeutung mit London konkurrieren kann. Aber auch andere der neuen Länder profitieren mit Filmproduktionen von ihren niedrigen Löhnen: Bulgarien, Ungarn, Rumänien, Litauen. Immer öfter gelingt es diesen Standorten, internationale Produktionen zu bekommen.

Beispiel Heiratsmarkt: „An der deutsch-tschechischen Grenze blüht nicht viel – nur die Prostitution“, schrieb kürzlich die Süddeutsche Zeitung. Ganz anders sehen da die zwischenmenschlichen Beziehungen mit baltischen Ländern aus, etwa mit Lettland. In Deutschland und den Beneluxstaaten boomt der Heiratsmarkt mit Frauen aus dem Baltikum. Hunderte von Heiratsinstituten vermitteln Frauen jeden Bildungsgrades im heiratsfähigen Alter. In Deutschland leben Millionen von männlichen Singles und die Tendenz ist steigend. Aber Lettland zum Beispiel hat Frauenüberschuß. Agenturen in halb Europa sorgen dafür, daß möglichst viele davon einen Partner im westlichen Europa finden. Das war bislang noch mit viel bürokratischen Hemmnissen verbunden. Nachdem Lettland nun aber bald selbst zum Westen gehört, wird alles viel einfacher. Auch für Frauen aus den anderen Ländern, die jetzt dazugehören. Ganz Osteuropa ist ein riesiger Heiratsmarkt. Mit geöffneten Armen streben auch Polinnen, Tschechinnen und Litauerinnen der Westerweiterung entgegen. Auch so kommt zusammen, was nun zusammengehört.

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