„Alles Lügner“TSCHETSCHENIEN-KONFLIKT

„Alles Lügner“

Das Schicksal tschetschenischer Flüchtlinge bleibt in der deutschen Politik ein vernachlässigtes Thema

Von Andrea Jeska

Als die Innenminister der Länder auf ihrer jüngsten Konferenz in Lübeck über Leid und Hoffnungen von Kriegsflüchtlingen diskutierten, kam dabei ein schriftliches Bekenntnis zu Menschlichkeit und gegen Vertreibung heraus: für Afghanen, für Kosovaren und für Iraker.

Die Tschetschenen aber, deren Republik bald im sechsten Jahr Schauplatz eines mit unerbittlicher Härte geführten Krieges ist, mit hohen Opferzahlen unter den Zivilisten und Zehntausenden von Flüchtlingen – sie standen nicht auf der Agenda.

Tschetschenien, ein vergessener Krieg. Ein schon abgegriffener Satz, und wenn er nicht so wahr wie bitter wäre, man könnte ihn für ein Klischee halten. Wie auch die Annahme, im Falle Tschetscheniens stünde für viele Regierungen das politische und wirtschaftliche Interesse im Vordergrund bzw. wäre der Schmusekurs mit Rußland wichtiger als die Menschenrechte. Ein Schelm ist, wer denken möchte, die Auslassung der Tschetschenen aus der Liste der Kriegsleidenden hätte in Lübeck mit dem bevorstehenden Besuch Wladimir Putins zu tun gehabt.

Warum nicht Tschetschenien?

Für diese Frage hatte Bundesinnenminister Otto Schily, der sich mit seinem bayrischen Kollegen Günter Beckstein eine harte Debatte um Kompetenzen bei der Terrorismusbekämpfung geliefert hatte, nur ein Schulterzucken übrig. Schleswig-Holsteins Innenminister Klaus Buß versprach immerhin, man werde sich im Mai, auf der folgenden Konferenz, mit dem Schicksal der nordkaukasischen Flüchtlinge beschäftigen. In Schleswig-Holstein werden tschetschenische Flüchtlinge nicht abgeschoben. Die in vielen anderen Bundesländern angenommene inländische Fluchtalternative – gemeint ist das gegen Tschetschenien kriegführende Rußland – hält man im Norden für nicht tauglich.

Nur wenige Tage vor der Konferenz hatte Innenminister Buß die in Hamburg lebende Menschenrechtlerin aus Tschetschenien, Lipkan Basajewa, zu einem Gespräch eingeladen. Basajewa gehört zu jenen, die vor dem europäischen Menschengerichtshof in Straßburg Klage gegen Rußland führen. Sie berichtete auch Buß, was sie seit mehreren Monaten überall erzählt, wo man ihr Gehör schenkt. Daß die Tschetschenen sich in Rußland nicht registrieren lassen, aber ohne Registrierung nur illegal leben können, das heißt ohne Versicherungen, ohne festen Wohnsitz, ohne Gesundheitsversorgung. Außerdem hätten Wohnungs- und Hotelbesitzer Anweisungen, nicht an Tschetschenen zu vermieten. Das Ergebnis: Nur auf dem Schwarzmarkt können Wohnungen zu hohen Preisen erworben werden. Schlimmer noch seien die so genannten Todesschwadrone: Junge russische Soldaten, die traumatisiert aus dem Tschetschenienkrieg zurückkehrten und daheim ihren Krieg gegen Tschetschenen fortführen. Manche töten, mache prügeln oder vergewaltigen Frauen.

Basajewa berichtete auch von der besonderen Gefährdung abgeschobener Flüchtlinge. Wer aus Europa komme, von dem wird in Rußland angenommen, er habe Geld. Mit teuren Schutzbriefen können sich abgeschobene Flüchtlinge in ihrer neuen „Heimat“ von Übergriffen und Drohungen freikaufen.

Nach solchen Geschichten fragt man in Hamburg, wo annähernd 300 tschetschenische Flüchtlinge leben – die größte Diasporagruppe in Deutschland –, nicht. Seit vor ein paar Jahren andere Nationalitäten sich unter dem Vorwand Tschetschenen zu sein, in Hamburg Asyl erschleichen wollten, werden die Geschichten der Tschetschenen oft als Lügen abgetan. Jenen, denen sämtliche Papiere bei der Bombardierung ihrer Häuser verbrannten, wird die tschetschenische Nationalität ungern geglaubt.

Hawach Elmurzajew und Muslim Zubarajew jedenfalls bangen, daß die Entscheidung über ihren seit mehr als zwei Jahren laufenden Asylantrag negativ ausfällt. Auch die letzte Anhörung im Dezember brachte kein Ergebnis, und so wird ihr Leben in Deutschland für weitere Monate ein Provisorium bleiben, wie ein wärmender Mantel, der ihnen nicht gehört und jederzeit wieder entrissen werden kann.

Tschetschenische „Terroristenärzte“

Sollten sie nach Rußland abgeschoben werden, sind sie gefährdeter, als andere ihrer Landsleute. Elmurzajew und Zubarajew sind Ärzte. Schon einmal haben sie für ihre Arbeit im Gefängnis gesessen. Zu Beginn des ersten Tschetschenienkrieges 1994 verließen sie Moskau, wo sie damals arbeiteten, und machten sich auf den Weg in ihre tschetschenische Heimat. Daß sie dort allen Verletzten halfen, die man ihnen auf den OP-Tisch legte, wurde ihnen im 2. Tschetschenienkrieg, der 1999 begann, zur Last gelegt. Terroristenärzte sollen sie sein, so der Vorwurf. „Ich habe einen Eid geschworen, jeden zu behandeln, der zu mir kommt. Soll ich erst fragen: Bist du ein Partisan?“, schimpft Elmurzayev.

Für Ärzte hat sich die Situation in Tschetschenien seit dem jüngsten Terroranschlag auf die Schule in Beslan noch verschlimmert. Inzwischen werden sie pauschal als Handlanger des Terrorismus verunglimpft, verhaftet oder verschleppt. Auch deshalb empfinden Elmurzajew und Zubarajew die Entscheidung über ihren Asylantrag als eine über Leben oder Tod. Im Falle einer Abschiebung würden sie sich moralisch verpflichtet fühlen, in ihr Heimatland zurückzugehen. Ärzte gibt es dort zu wenige. Und wieder, sagt Zubarajew, müßte er Angst haben vor nächtlichem Hämmern an der Tür. Ist es bei mir oder nebenan? Was werden sie mir vorwerfen, aus welchen Banalitäten und Unterstellungen werden ihre Anklagen gestrickt sein, in welches Loch werden sie mich diesmal werfen? Oder werden sie mich erschießen, gar, mir die Hände zerquetschen, jene Hände, mit denen ich Terroristen behandelt haben soll?

Asyl zu bekommen, wäre mehr als nur ein Ende dieser Angst. Für die beiden Männer bedeutet es nach fast drei Jahren in Deutschland vor allem Ankommen. Jahre, in denen sie verlernten, ruhig auf einem Stuhl zu sitzen, in denen ihnen die Kieferknochen vom Zähnezusammenbeißen schmerzten. Asyl bedeutet, wieder Boden unter den Füßen zu haben. Zukunft. Pläne machen. Nicht nur von morgen, übermorgen, nächste Woche sprechen. Vom nächsten Jahr, vielleicht, oder noch weiter. Asyl bedeutet, wenn der Krieg in Tschetschenien nicht endet, auch noch hier sein zu dürfen, wenn die Kinder ihren Schulabschluß machen. Bedeutet Stolz, der aus dem ich-gehöre-hierhin und ich-kann-über-mein-Leben-bestimmen entsteht. Vielleicht sogar Arbeit. Einmal schon hat das Altonaer Kinderkrankenhaus angefragt. Einen Kinderchirurgen würden sie dringend benötigen. Aber die Behörden haben Nein gesagt. Laufendes Asylverfahren, da könne man nichts machen.

„Geh nur, Du wirst noch gebraucht.“

Das Problem in Hamburg, glaubt Elmursajew, sei das Mißtrauen der Behörden. „Sie sagen oft, wir sind alle Lügner. Sie glauben unsere Geschichte nicht.“ Wie die, daß einer, der nur 100 Dollar im Monat verdient, sehr wohl mit Hilfe von Schleppern durch Rußland, Polen, dann schließlich über die deutsche Grenze kommen kann. Weil die übrigen 4.900 Dollar die Verwandten bezahlen, manchmal sogar die Nachbarn. Damit wenigstens einer rauskommt. „Geh nur“, hätte man zu ihm gesagt. „Du bist jung, du bist Arzt, Du wirst noch gebraucht. Ich bin alt, ich bin nur ein Händler, ich muß nicht mehr weg.“

In Deutschland aber, vor dem nüchternen Schreibtisch eines Asylbeamten, verliert dieser tschetschenische Zug, sein letztes Hemd zu geben, seine Magie und klingt wie eine Lüge. „Ach, kommen Sie. Wollen Sie mir das wirklich weismachen?“

Gerade mal zehn Tschetschenen haben bislang in Hamburg Asyl erhalten. Die beiden Ärzte verstehen nicht, warum jene Geschichten, die sie den Behörden erzählten, nicht ausreichen, um sie als Schutzbedürftige auszuweisen. Auch Lipkan Basajewa, die unermüdliche Erzählerin des tschetschenischen Elends, gerät manchmal an die Grenzen ihres Vermögens. Man behaupte, die Tschetschenen übertrieben, sagt Basajewa. Als Beweis zitiere man die russische Menschenrechtsorganisation Memorial, die keinen einzigen Fall von Verhaftung oder Schikane abgeschobener Tschetschenen dokumentiert hätte. „Ja, kann man sich denn hier in Deutschland nicht vorstellen, daß auch Memorial oft bedroht wird?“

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