13.01.2023 14:10:35
MIGRATION
Von Hartmut Wagner
EM – Seit Beginn der 1990er Jahre verlassen Menschen mit deutschen Vorfahren ihre langjährige Heimat im ehemaligen Ostblock und siedeln nach Deutschland über. Die Bezeichnungen in den Medien für sie sind sehr unterschiedlich: Spätaussiedler, Rußlanddeutsche oder auch mal russischsprachige Deutsche. Aber auch für so manchen Übersiedler selbst ist es schwer seine Identität zu bestimmen. Während der zwei Jahrhunderte, die vergangen sind, seit ihre Vorfahren sich im Russischen Reich ansiedelten, haben sich die sprachlichen und kulturellen Traditionen der deutschen Auswanderer anders entwickelt als die der Deutschen im zentraleuropäischen Mutterland. Dies kann, muß aber keineswegs zu Problemen für das Zusammenleben von osteuropäischen und „deutschen“ Deutschen führen.
In Deutschland leben laut dem Migrationsbericht der Bundesregierung momentan 3,2 Millionen Menschen mit Russisch als Muttersprache, allein in Berlin sind es 300.000. Über zwei Drittel des russischsprachigen Bevölkerungsteils in der BRD sind deutsche Aussiedler aus der ehemaligen UdSSR, etwa 200.000 sind russischsprachige Juden. Die Migrationsstatistik der Russischen Föderation besagt, daß im Jahr 2003 (Januar – November) 32.254 Menschen mehr von Rußland in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt sind als in die andere Richtung.
Über Probleme und Herausforderungen beim Zusammenleben von Mehrheiten und Minderheiten diskutierten die Teilnehmer der 6. Potsdamer Begegnungen (21./22. Juni). Ein Schwerpunktthema war das Verhältnis von Deutschen zu in Deutschland lebenden Russen, Türken und Juden. Wo verläuft die Grenze zwischen Assimilation und Integration? Was sind die Gründe für Konflikte zwischen In- und Ausländern? Wie wichtig sind Kenntnisse der Landessprache für den Integrationserfolg? Daß Fragen wie diese auch nach der Einigung auf ein Zuwanderungsgesetz in Deutschland noch von großer politischer Bedeutung sind, war an dem Besuch ranghoher Politiker und Diplomaten abzulesen. Bundesinnenminister Schily, der brandenburgische Ministerpräsident Platzeck ebenso wie der russische Botschafter Kotenew eröffneten die deutsch-russischen Begegnungen mit kurzen Redebeiträgen. Und auch Bundespräsident Rau nahm sich acht Tage vor dem Ausscheiden aus seinem Amt die Zeit, die Teilnehmer der Potsdamer Tagung zu empfangen.
Eine der Städte, in denen heute besonders viele deutschstämmige Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion eine Bleibe gefunden haben, ist Espelkamp in Nordrhein-Westfalen. Die Mittelstadt war 1949 eigens für Kriegsflüchtlinge und Vertriebene gegründet worden. Der Pfarrer und Konferenzteilnehmer Edgar Born hat in Espelkamp seine Zeit als Vikar verbracht, Leben und Bräuche der Rußlanddeutschen lassen ihn seither nicht mehr los. „Ich lebte damals in einem 14stöckigen Hochhaus, in dem außer mir nur Aussiedler wohnten. Menschen, die von der Wolga erzählten, von Sibirien, von Kasachstan,“ erinnert sich Born, der seit 1997 als Aussiedlerbeauftragter der evangelischen Kirche aktiv ist. Aber schon vorher reiste er immer wieder nach Rußland und Kasachstan. „In Marxstadt an der Wolga habe ich einmal in einem einzigen Gottesdienst 341 Rußlanddeutsche getauft,“ erzählt der Geistliche stolz.
Aber worin bestehen nun die Unterschiede zwischen Rußlanddeutschen und Menschen, die in der BRD großgeworden sind. „Zum Beispiel im Betriebssystem,“ erläutert Born ohne nachdenken zu müssen. „Ein Deutscher der in der BRD sozialisiert wurde, verfügt in der Regel über das individuelle Betriebssystem einer Ich-AG. Ein Rußlanddeutscher jedoch hat ein kollektives Betriebssystem, d.h. es gibt ausgeprägte Hierarchien. aber auch große Solidarität innerhalb der Familien.“ Interessant sei auch die gegenseitige Wahrnehmung beider Volksgruppen. Rußlanddeutsche betrachteten sich oft als die ursprünglicheren Deutschen und nähmen BRD-Bürger als verwässerte und amerikanisierte Deutsche wahr, wohingegen umgekehrt die Rußlanddeutschen oft als stark russifiziert eingestuft würden.
Die Potsdamer Begegnungen wurden zum Treffpunkt von rund dreißig Wissenschaftlern, Schriftstellern und Filmschaffenden aus Deutschland und Rußland. Wie wichtig die von allen gesprochene Sprache für das Funktionieren eines Gemeinwesens ist, wurde hier eindringlich demonstriert. Denn ohne deutsch-russische Simultandolmetschung wäre die Konferenz nicht durchführbar gewesen.
So erhellend es war, die Meinung von Schriftstellern aus Abchasien und Moskau, von Historikern aus Potsdam oder Kasan miteinander vergleichen zu können, ein Manko hatten die zweitägigen Begegnungen: Es fehlte die kontroverse Debatte in der Sache. Hierfür war nicht allein die relativ große Diskussionsrunde mit rund 30 Teilnehmern verantwortlich, ein Grund war auch, daß alle Diskutanten mehr oder minder die gleiche Wahrnehmung des Problems Integration hatten. Das schafft zwar eine harmonische Gesprächsatmosphäre, führt aber auch zu einer nur mäßig fruchtbaren Diskussion unter Gleichgesinnten. Die beiden Moderatoren, die einstige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau, Ernst von Studnitz, hätten gut daran getan, die gemeinsamen und ganz besonders die gegensätzlichen Standpunkte der Teilnehmer deutlicher herauszuarbeiten. Denn gerade „der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht“ (Goethe).
Die Potsdamer Begegnungen werden seit 1999 einmal jährlich vom Deutsch-Russischen Forum e.V. veranstaltet. Ähnlich wie der von Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin initiierte „Petersburger Dialog“ sollen die Begegnungen die wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland fördern. Das Deutsch-Russische Forum betreut außerdem zwei Netzportale: www.kulturportal-russland.de, www.deutsch-russische-kulturbegegnungen.de. Sie sollen auch nach den offiziellen Kulturbegegnungen 2003/2004 zwischen Rußland und Deutschland fortbestehen und zu einer festen Instanz des interkulturellen Dialogs werden.
Termin und Ort der nächsten Potsdamer Begegnungen sind noch unklar. Möglicherweise werden sie im russischen Königsberg stattfinden. Die frühere deutsche Stadt feiert im kommenden Jahr zwei Jubiläen: 750 Jahre Königsberg und 60 Jahre Kaliningrader Gebiet. Ein Anlaß wie geschaffen für die Potsdamer Begegnungen.
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