„Der Streit um das atlantische oder das europäische Europa ist in ein entscheidendes Stadium getreten“EUROPÄISCHE IDENTITÄT

„Der Streit um das atlantische oder das europäische Europa ist in ein entscheidendes Stadium getreten“

„Der Streit um das atlantische oder das europäische Europa ist in ein entscheidendes Stadium getreten“

Der langjährige Obmann im Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestags, Karl Lamers analysiert im Interview mit dem Eurasischen Magazin die Beziehungen zwischen Europa und den USA. Karl Lamers, Jahrgang 1935, ist außenpolitischer Experte der CDU. Er gehörte bis zur letzten Legislaturperiode insgesamt zwei Jahrzehnte dem Deutschen Bundestag an und war außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion aus CDU und CSU. Der Vordenker einer europäischen außenpolitischen Konzeption verfugt trotz seines Ausscheidens aus dem Bundestag im vergangenen Jahr in außenpolitischen Kreisen weiter uber erheblichen Einfluß.

Von Hans Wagner

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Karl Lamers, Außenpolitik-Experte der CDU
 

Eurasisches Magazin: Sie treten vehement dafür ein, daß Frankreich und Deutschland einen europäischen Gegenpol zu den USA aufbauen. Warum halten Sie das für nötig?

Karl Lamers: Ich rede nicht von einem Gegenpol, sondern von einem eigenen Pol. Mein Hauptmotiv dabei ist, daß Europa und seine Völker mehr Macht bekommen.. Das Ergebnis ist natürlich auch eine Relativierung der Macht anderer, auch der Macht der USA. Aber ich bin davon überzeugt, daß ein solcher europäischer Pol die Macht des Westens insgesamt stärken würde.

„Hegemonie durch die Vereinigten Staaten von Amerika kann nicht funktionieren“

EM: Was heißt Relativierung der Macht Amerikas?

Lamers: Das heißt, daß eine Hegemonie der USA über Europa dadurch verhindert wird. Hegemonie durch die Vereinigten Staaten von Amerika kann nicht funktionieren. Einmal weil ihre Macht dafür nicht ausreicht. Es handelt sich ja um eine globale Hegemonie. Zum anderen kann sie auch deshalb nicht funktionieren, weil sie von der übrigen Welt nicht akzeptiert wird. Auf Dauer auch nicht von Europa. Die westliche Allianz würde schon auf mittlere Sicht daran zerbrechen - dafür gibt es heute schon Anzeichen - wenn nicht die Machtverhältnisse zwischen beiden Seiten des Atlantiks ausgewogener würden als bislang. Die in den USA gängige Formel, was gut ist für Amerika ist gut für die Welt, kann Europa niemals akzeptieren.

EM: Eine Ihrer Forderungen lautet: Partnerschaft mit den USA statt Vasallentum. Wo verhalten sich Europäer und Deutsche wie Vasallen?

Lamers: Zuletzt war das der Fall beim „Brief der Acht plus Zehn“ an den US-Präsidenten, in dem sich diese europäischen Staaten demonstrativ für den Irak-Krieg aussprachen. Aus Sicht der USA stellt sich das Verhältnis zu Europa so dar, daß sie beschließen und dann erwarten, daß die Europäer folgen. Das ist genau das, was man unter Vasallentum versteht. Der ehemalige Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, Zbigniew Brzezinski, hat das ja in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ in aller Offenheit und Deutlichkeit geschrieben: Die Europäer seien Vasallen und Japan ein Protektorat der USA.

EM: Ist das die generelle Sicht der US-Politik auf Europa und nicht nur die Meinung des gebürtigen Polen Brzezinski?

Lamers: So sehen es die heute regierenden „Neo-Cons“. Der Irakkrieg ist der beste Beleg dafür. Die Amerikaner haben ihn ganz allein beschlossen und von den Europäern erwartet, daß sie folgen, wie Vasallen es eben tun.

„Europa muß mächtiger werden, um partnerfähig zu sein“

EM: Sie sprechen von einer „strategischen Allianz zur Umformung der transatlantischen Beziehungen“, die der deutsche Bundeskanzler Schröder und Frankreichs Staatspräsident Chirac gründen sollten. Was ist darunter zu verstehen?

Lamers: Die atlantische Allianz muß bestehen bleiben, denn der Westen ist in seiner Gesamtheit herausgefordert. Er ist herausgefordert von radikalen Kräften, wofür der 11. September 2001 das bislang schlimmste Beispiel war. Zur Zeit ist die noch immer bestehende Dominanz des Westens vor allem durch die USA und ihre Macht garantiert. Ziel muß aber sein, daß Europa selbst ebenfalls eine größere Macht wird, damit es für Amerika überhaupt partnerfähig wird. Zur Zeit ist dies leider nicht der Fall. Dazu fehlt es nicht nur an den Mitteln, sondern auch an der Fähigkeit mit einer Stimme zu sprechen.

„Nicht die USA sind das Problem – das Problem sind die Europäer“

EM: Und nun sollen Frankreich und Deutschland den Kern einer Allianz bilden, die Europa den erforderlichen Machtzuwachs bringt und damit auch die transatlantischen Beziehungen auf eine neue Basis stellt, weg vom Vasallentum?

Lamers: Das ist genau der Punkt. Nicht die USA sind das Problem, die sind so wie sie sind. Solange Europa auf der Welt das Machtzentrum bildete, benahm es sich kaum anders. Das Problem sind die Europäer, die sich nicht länger darauf beschränken dürfen, daß die USA es schon richten werden.

EM: Sie sagen, von Deutschland und Frankreich hänge es ab, ob wir eine multipolare Welt bekommen oder nicht. Und was ist mit den anderen beiden Hauptstädten auf der bereits apostrophierten „Achse“ – also mit Moskau und Peking, welche Rolle spielen sie?

Lamers: Was Rußland angeht, so wird es noch lange dauern, bis es über den Besitz von Nuklearwaffen hinaus wieder eine Stärke erreichen kann, die es zu einem eigenständigen globalen Machtpol werden läßt. China ist dagegen schon heute eine Macht, auf die die USA mehr Rücksicht nehmen als auf Europa. Langfristig gesehen haben sie sogar gewisse Ängste vor dem Erstarken Chinas. Wichtig für Europa wie für die USA ist es, ein Verhältnis zu China zu entwickeln, das verhindert, daß dieses Land zu einer dem Westen feindlich gesinnten Macht wird. China in jedem Fall und Rußland auch sind heute Machtpole im Werden.

„Ich stehe nicht auf Seiten von Condoleezza Rice“

EM: Rußlands Präsident Wladimir Putin sagt, „wenn wir wollen, daß die Welt vorhersagbarer und daher sicherer wird, muß sie multipolar sein“. Die Sicherheitsberaterin des US-Präsidenten Bush, Condoleezza Rice behauptet dagegen, erst wenn alle anderen Pole außer dem Machtpol der USA auszuschließen sind, wird die Welt sicher und friedlich. Sie stehen also auf Putins Seite?

Lamers: Also ich stehe nicht auf Seiten von Condoleezza Rice, weil die amerikanische Hegemonie weder wünschenswert noch machbar ist. Aber auch die Existenz von mehreren Machtpolen allein garantiert weder Stabilität noch Frieden. In der europäischen Geschichte gab es ja lange Zeit mehrere Machtpole und eine Zeitlang hat auch das Kräftegleichgewicht funktioniert. Aber dauerhaft eben nicht. Die Entwicklung mehrerer Machtzentren auf der Welt, die unvermeidlich ist, wird nur funktionieren, wenn es gleichzeitig gelingt, die Beziehungen zwischen diesen Machtzentren einem gemeinsamen Rechtssystem zu unterwerfen.

EM: Kann es überhaupt einen eigenen europäischen Machtpol in der Welt geben, ohne eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik?

Lamers: Selbstverständlich nicht. Europa muß mit einer Stimme in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sprechen. Dort, wo die EU schon mit einer Stimme spricht, wenn auch noch unvollkommen, in der Außenwirtschaftspolitik zum Beispiel, gewinnt ja Europa auch zunehmend Einfluß. Jedenfalls wesentlich mehr als in der Sicherheitspolitik. Diese schreckliche Diskrepanz zwischen dem wirtschaftlichen Riesen, der auch nach außen eine Verantwortung hat, und dem sicherheitspolitischen Zwerg Europa droht auf Dauer auch die Europäische Union zu beschädigen. Das ist ein völlig unausgeglichenes und auch ungesundes Verhältnis.

„Der Irakkrieg war ein schwerer Fehler der USA – Europa muß künftig einen wesentlich größeren Einfluß bekommen“

EM: Der hessische Ministerpräsident Koch bekennt, die Treue zu den USA sei Doktrin seiner Politik. „Wir dürfen in keiner außenpolitischen Frage Gegner Amerikas werden“, so Koch. Das klingt wieder sehr stark nach uneingeschränkter Solidarität und nicht nach der Vertretung eigener Interessen. Kann das der richtige Weg sein?

Lamers: Tatsächlich ist es von größter Bedeutung, daß Amerika und Europa eine abgestimmte Politik verfolgen. Aber es ist eben von fundamentalem Interesse für Europa, daß diese gemeinsame Politik nicht allein von Amerika formuliert wird. Beim Irakkrieg war dies der Fall. Er war ein schwerer Fehler der USA. In solchen entscheidenden Fragen muß Europa künftig einen wesentlich größeren Einfluß bekommen. Ich bin sicher, das sieht auch Roland Koch so. Meines Wissens war er der einzige Politiker aus der ersten Reihe, der von der Notwendigkeit einer multipolaren Welt mit einem europäischen Pol gesprochen hat. Die unilateralistische Politik sei nicht im Interesse Deutschlands.

EM: Es hat eine Zeit gegeben, da haben die USA Europa zumindest verbal zu seiner Einigung ermuntert. Später gab es dann erste Warnungen, sich keinesfalls auch zu einer Verteidigungsunion zusammenzuschließen. Heute geben sich die USA gar keine Mühe mehr, ihre knallharte Ablehnung einer europäischen Truppe zu kaschieren, manchmal ist der Ton sogar offen feindselig. Hatte Amerika sich von Haus aus nur ein US-Europa vorgestellt?

Lamers: Die Europäer machen es den USA oft auch leicht, solche Ideen zu verfolgen. Der schon erwähnte Wohlverhaltensbrief der „Acht plus Zehn“ ist ein krasses Beispiel dafür. Das war ein innereuropäischer Bruch. Die Gründe dafür liegen aber nach meiner festen Überzeugung nur am Rande in der unterschiedlichen Auffassung über den Irakkrieg. Sondern hier traten die innereuropäischen Rivalitäten offen zutage, das Mißtrauen einander gegenüber und sogar die Ängste voreinander, die es immer noch gibt.

„Solange man die USA mit an den Tisch holt, um europäische Probleme zu lösen, so lange wird es keine originäre europäische Position geben und damit auch keinen eigenen Machtpol.“

EM: Welche Ängste meinen sie?

Lamers: Die vor einer Dominanz oder gar Hegemonie Frankreichs und Deutschlands. Die acht Staaten, die sich auf die Seite der USA gestellt haben, taten dies, weil sie sich der alten Balancefunktion Amerikas erinnerten. Man könnte auch sagen, sie haben sich an den Kontrolleur gewandt, der ursprünglich vor allem gegenüber Deutschland aktiv werden sollte. Man muß sehen, daß die Art, wie Bundeskanzler Schröder gegenüber Amerika aufgetreten ist und wie der französische Staatspräsident die Abweichler und die Beitrittskandidaten gerügt, ja geradezu beschimpft hat, auch nicht dazu angetan sind, solche Ängste zu vermindern, im Gegenteil sie wurden dadurch im Nachhinein bestätigt. Aber dennoch gilt: solange man die USA mit an den Tisch holt, um europäische Probleme zu lösen, so lange wird es keine originäre europäische Position geben und damit auch keinen eigenen Machtpol. Der Streit um das atlantische oder das europäische Europa ist in ein entscheidendes Stadium getreten. Es wird aber noch lange dauern, bis die Positionen abgestimmt und geklärt sind. Das große Europa ist nicht das starke Europa, und deshalb müssen jetzt Deutschland und Frankreich vorangehen, allerdings mit einem weit besseren Stil, als sie das in der Vergangenheit getan haben. Deutschland und Frankreich müssen in der gegenwärtigen Situation der Welt sogar eine Art Einheit bilden, das sage ich mit aller Leidenschaftlichkeit. Es wird kein Europa geben, wenn nicht Frankreich und Deutschland als Einheit die Initiative ergreifen. Sie müssen als Einheit agieren, auch wenn sie nicht ein gemeinsamer Staat sind.

EM: Sollten sie das denn werden und fusionieren?

Lamers: Warum nicht – was nicht ist, kann ja noch werden.

EM: Was meinen Sie mit „besserem Stil“ den Beitrittsländern gegenüber?

Lamers: Man kann mit den kleineren Staaten Europas und vor allem auch mit den zukünftigen Mitgliedern nicht so umspringen, wie das in der Irakkrise der Fall war. So geht das nicht! Die Menschen in diesen Ländern sagen ganz deutlich, wie der französische Präsident uns beschimpft hat zeigt, daß er gegenüber uns genau das gleiche Verhalten an den Tag legt, das er den Amerikanern gegenüber Europa vorhält. Das Wie in der Politik ist genau so wichtig wie das Was. Die europäische Einigung schließt Hegemonie aus. Nicht jedoch Führung. Diese muß von Deutschland und Frankreich ausgehen. Aber es muß Führung durch Überzeugung sein, allenfalls durch sanften Druck kraft ihres Gewichts, aber nicht durch Kommandos.

„Die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist die wichtigste Voraussetzung für Europas eigene Identitiät.“

EM: Im April gab es einen Vierergipfel der Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg zum Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Hat dieses Vorhaben eine Chance?

Lamers: Die Amerikaner unterstellen, das sei die Abkoppelung von der Nato, aber darum geht es nicht. Es ist im Gegenteil der Versuch, innerhalb der Nato Einfluß auszuüben. Bislang versucht Amerika seine dominante Rolle mit allen Mitteln zu erhalten. Es will die Nato als Instrument benutzen können, ohne jemand fragen zu müssen. Ich hoffe, daß dieser Gipfel vom April der wirkliche Anfang einer eigenen europäischen Verteidigungsfähigkeit wird. Natürlich bleibt Europa im Verbund der Nato, aber es muß auch einmal Aktionen durchführen können ohne die Nato. Das ist ein sehr wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr europäischer Eigenständigkeit. Die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist die wichtigste Voraussetzung für Europas eigene Identitiät.

„Viele in der Welt blicken mit Spannung und geradezu sehnsüchtig auf Europa und erwarten, daß es endlich eine größere Rolle spielt als bisher.“

EM: Müßte es nicht längst eine Institution geben, die europäische Außenpolitik formuliert, die eine Idee davon entwickelt – oder genügt da schon ein Außenminister?

Lamers: Das ist leider ein wunder Punkt. Es genügt nicht, daß Europa sagt, was es nicht will, sondern daß es klarmacht, was es will. Die Europäer müssen eine eigene Vorstellung von ihrer Rolle in der Welt entwickeln, eine eigene Vision. Entscheidend ist die Durchsetzung einer globalen Rechtsordnung, nicht nur im wirtschaftspolitischen Bereich, wo es sie ja in Ansätzen gibt, sondern eben auch im Bereich der Sicherheitspolitik. Viele in der Welt blicken mit Spannung und geradezu sehnsüchtig auf Europa und erwarten, daß es endlich eine größere Rolle spielt als bisher.

EM: Roland Koch sagte kürzlich, „die Vorstellung, daß Länder wie Litauen oder Lettland im Zweifel loyaler zu Brüssel als zu Washington sind, ist eine abenteuerliche Illusion.“ Gibt es ohne diese Loyalität jemals ein Europa?

Lamers: Roland Koch hat ausweislich des Auseinanderbrechens in der Irakfrage ja leider recht. Diese Länder haben gerade erst ihre Souveränität wiedergewonnen, deren sie in früheren Zeiten durch Preußen, durch Deutschland, durch Rußland wiederholt beraubt wurden. Ihre Ängste sind verständlich, allerdings werden sie irgendwann zu spüren bekommen, daß auch im Verhältnis mit Amerika ihre Souveränität Grenzen hat. Deshalb kommt es besonders darauf an, daß Frankreich und Deutschland mit viel Sensibilität auf diese Länder zugehen und sie einbinden. Denn wenn es nicht gelingt, daß Länder wie Litauen und vor allem Polen eines Tages ihre Loyalität zu Brüssel über die gegenüber Washington stellen, dann kann man Europa vergessen. Wenn aber andererseits Frankreich und Deutschland es schaffen, den Beschluß vom April zur gemeinsamen Verteidigungsunion umzusetzen, dann wird Polen unbedingt dabei sein wollen.

EM: Vielen Dank für dieses Gespräch.

EU Interview USA

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