Der Zug der FreiheitERINNERUNGEN

Der Zug der Freiheit

Im Spätsommer 1989 sammelten sich Tausende ausreisewillige DDR-Bürger in der Prager Botschaft, nachdem bereits im Sommer Tausende Bürger über Ungarn und Österreich in die BRD geflüchtet waren. Unter abenteuerlichen Umständen lebten bis zu 4.000 Flüchtlinge zeitgleich auf dem Gelände der Botschaft, während über ihr Schicksal verhandelt wurde. Am 30.9.1989 verkündete der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher die Zustimmung der Regierung der DDR zur Ausreise.

Von Mirko Sennewald

D ieser historische Moment war ein Meilenstein der Friedlichen Revolution. Mit Zügen wurden die Flüchtlinge ins bayrische Hof gebracht, sie mussten aus völkerrechtlicher Sicht der DDR-Führung noch einmal über das Territorium der DDR fahren. Entlang der Strecke Dresden-Freiberg-Karl-Marx- Stadt-Plauen lösten die Züge erste Demonstrationen aus. Öffentlicher Widerstand in der DDR wurde sichtbar, aber zumeist gewaltsam aufgelöst.

Nun soll diesem Ereignis gedacht werden – natürlich mit einem Zug. Ein Sonderzug mit fünf historischen Wagen fährt entlang der Strecke der Züge mit den Botschaftsflüchtlingen von 1989 von Prag über Dresden, Freiberg, Chemnitz, Plauen nach Hof.

Kulturelles Rahmenprogramm an den Haltepunkten

Die einzelnen Waggons fungieren als Kunsträume in denen jeweils ein Projekt gezeigt werden soll. Zusätzlich präsentieren sich Zeitzeugen in Interviews und Jugendgruppen aus Sachsen und den mittel- / osteuropäischen Staaten mit weiteren Projekten. Kurator für die Kunstprojekte ist Holger Wendland. An den Haltepunkten findet ein kulturelles Rahmenprogramm statt, z.B. in Hof ein Feuerwerk und die Einweihung eines Denkmales.

Der Ablauf am 30. September wird sich folgendermaßen gestalten: Ankunft der Projektteilnehmer in Prag (Aufbau der Präsentation). Empfang in der Prager Botschaft, Stadtführung durch Prag, Besichtigung der damaligen Schauplätze.

Abfahrt am 01. Oktober 2009 ab Prag um 8:00 Uhr. Es gibt Aufenthalte in Dresden, Freiberg, Plauen An den Haltepunkten werden einzelne Veranstaltungen unter Beteiligung der Städte durchgeführt. Ankunft in der Zielstation Hof am späten Abend. Es schließt sich ein Festprogramm der Stadt Hof an. Zum Abschluss am 2. Oktober findet eine gemeinsame Auswertung der Fahrt statt.  

Die Waggons des Sonderzuges

Waggon 1: 1989-2009 Ausstellung Agentur Anzenberger / Österreich Die Agentur Anzenberger präsentiert 170.000 Arbeiten von über 200 Fotografen weltweit. Ein Großteil dieser Fotografen arbeitet regelmäßig für Publikationen wie: National Geographic, Geo, Der Spiegel, Focus, Stern, Time, Newsweek, New York Times, usw. Aus ihrem reichhaltigen Archiv kollektiert die Gründerin und Inhaberin der Agentur, Regina Anzenberger, eine Fotoausstellung der Schauplätze der Revolutionen in Mittel- und Osteuropa 1989/90. Darunter die Schauplätze Ungarn, CSSR, Rumänien und Bulgarien im Vergleich zu 2009. Die Agentur Anzenberger verfügt über reichhaltiges Material und ein weites Netzwerk von Fotografen in Ost und West.   

Waggon 2: Film, Ausstellung und Performance Kai-Uwe Kohlschmidt / Deutschland. Der 1968 in Leipzig geborene Kai-Uwe Kohlschmidt gründete nach Abitur und Instrumentalausbildung am Konservatorium Cottbus 1982 die Band Sandow. In den Wendewirren der deutschen Teilbarkeit sollte die Band mit ihrem Debütalbum an der Schwelle zur Berühmtheit stehen und dennoch den entscheidenden Schritt, den der unaufhörlichen, disziplinierten Selbstwiederholung verweigern. Seit 1987 arbeitete Kai-Uwe Kohlschmidt auf verschiedenen Kunstfeldern immer wieder für Fernsehen, Kino, Radio und Theater. Seit 1989 bestritt er mit verschiedensten Projekten Tourneen durch Deutschland, Russland und Frankreich. 2004 beteiligte er sich an einer Kunstexpedition zum Nanga Parbat (8125m) nach Pakistan. In seinem Waggon wird das Hörspiel „Im Feuer“ über die Zeit 1988-92 aus Sicht einer Künstlerboheme zu hören sein. Zudem installiert er ein kleines Studio, in dem Interviews mit Hörern des Hörspieles geführt werden. Die Interviewergebnisse sollen auf den Bahnhöfen gesendet werden.

Waggon 3: Der Waggon der Dresdner Sinfoniker Die Dresdner Sinfoniker gehören zu den führenden Sinfonieorchestern für zeitgenössische Musik. Sie wurden 1997 von den Musikern Markus Rindt und Sven Helbig gegründet. Das aus Mitgliedern nahezu aller wichtigen Orchester Europas bestehende Ensemble arbeitet ausschließlich projektorientiert und deckt Zusammenhänge zwischen wegweisenden Strömungen aktueller Musik auf, wo sie niemand vermutet. Zum Repertoire zählen Komponisten wie Steve Reich, John Adams, Gija Kantscheli, Awet Terterjan, Frank Zappa, John McLaughlin, Mark- Anthony Turnage, Louis Andriessen oder Tan Dun. Internationale Aufmerksamkeit erregten die Dresdner Sinfoniker mit dem Liederzyklus „Mein Herz brennt“ von Torsten Rasch nach Texten und Musik der Gruppe Rammstein. Für diese, 2003 bei der Deutschen Grammophon erschienenen CD, erhielten sie den ECHO Klassik. Dem Anlass angemessen wollen die Dresdner Sinfoniker einen musikalischen Beitrag leisten und den Zug auf seinen Stationen begleiten. Mitbegründer Markus Rindt war 1989 selbst als Flüchtling an Bord eines Zuges. An den Stationen werden vier Hornisten „Born for Horn“ von Werner Pircher präsentieren. In Dresden bekommt das Quartett von 12 weiteren Hornisten Verstärkung und führt das Stück „Intrada“ für 16 Hörner von Helmut Eder auf.

Waggon 4: Hier ist der Totalitarismuskitsch zu Hause.  Artur Klinau aus Minsk füllt den Waggon mit Büsten, Wimpeln, Flaggen, einem Wodka-Samowar und Marschmusik, eine Verkaufsausstellung mit Performance. Artur Klinau (geb. 1965) ist einer der umtriebigsten kritischen Geister, die in der weißrussischen Hauptstadt Minsk aufrecht, tapfer und auf höchstem intellektuellen Niveau den scheinbar anachronistischen Wirren trotzen. Klinau ist Fotograf, Architekt und Publizist, Herausgeber der bislang einzigen unabhängigen Kunstzeitschrift pARTisan. Mehr aber ist Klinau messerscharfer Philosoph und humorvoller Kommentator aktueller und vergangener Epochen. Mit seinem kleinen Buch „Minsk - Die Sonnenstadt der Träume“ hat er seiner Heimatstadt ein riesiges Denkmal gesetzt, das in seiner Art der Verbindung von Geschichte, Architektur, Politik aber auch „Herz und Verstand“ seinesgleichen sucht. Artur Klinau sammelt seit Jahren auf den Flohmärkten Europas die Überbleibsel des Totalitarimus. Drei Garagen bergen bereits die unzähligen Büsten, Wimpel, Orden, Bilder, Ikonen und Flaggen. Mit der Ausstellung dieser geradezu schräg anmutenden Zeitzeugen nimmt Klinau auf seine eigene zynische Art die Zeit des realexistierenden Sozialismus aufs Korn. Der Totalitarismuskitsch ist käuflich, untermalt wird die Ausstellung von Marschmusik und einem Samowar, aus dem allerdings kein Wasser sondern Wässerchen fließt.

Waggon 5: Hier werden Samizdat-Produkte von Holger Wendland und Detlef Schweiger aus Deutschland ausgestellt. Lange bevor die Generation „Internet und Handy“ die technischen Möglichkeiten entdeckte, Kunst und Informationen einfach elektronisch zu veröffentlichen, gab es Mittel und Wege politisch unliebsames, querulantes oder in der damaligen Sprachregelung „kontrarevolutionäres Material“ zu veröffentlichen. Insbesondere Künstler machten vom SAMIZDAT, dem illegalen Eigendruck, Gebrauch. Staatlich unerwünschte Literatur, Malerei und Grafik fand so den Weg in die Gesellschaft. Von Hand zu Hand heimlich weitergereicht, unter teils abenteuerlichen Bedingungen gedruckt oder illegal auf Thermopapier kopiert, spielte SAMIZDAT in der DDR, CSSR und Polen eine wichtige Rolle unter Künstlern und Oppositionellen. Die Ausstellung widmet sich erhaltenen Drucken aus den 70er und 80er Jahren.   

Begleitendes Programm: Mit Partnern aus unserem internationalen Netzwerk wurden konkrete Projekte vereinbart, die im Zug präsentiert werden sollen. Darüber hinaus bereiten wir Zeitzeugen-Berichte vor sowie wissenschaftliche Vorträge.

Es kommt zu internationalen Jugendbegegnungen mit Teilnehmenden aus Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland (Belarus), Deutschland, Georgien, Polen, Tschechien, die kurze Theaterstücke, Videos und Dokumentationen zur Bedeutung des Jahres 1989 in ihren Ländern vorbereiten und daraus eine gemeinsame Zukunftsperspektive entwickeln. Ihnen stehen Zeitzeugen und Künstler zur Seite.

Die Projektentwicklung verfolgt das Ziel, Besucher und Mitfahrer zu motivieren, die einzelnen Abteile zu besuchen sowie Einzelpräsentationen im Gesamtkontext zu präsentieren. Die Jugendlichen der Europäischen Wirtschafts- und Sprachenakademie Dresden veranstalten ein so genanntes Planspiel zum Thema Ausreise. Sie sehen es als Erweiterung des Geschichtsunterrichtes und werden mitreisende Jugendliche einbinden, damit sie auf diese Weise mit dem Thema vertraut gemacht werden.

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Weitere Informationen: www.kulturaktiv.org

Lesen Sie dazu auch EM 08-2004 „Mit der Drahtschere in die Freiheit“. Das ist nach dem Wissensstand der EM-Redaktion die einzige authentische Schilderung der Flucht eines DDR-Bürgers über Ungarn in den Westen, mit Beteiligung des Reporters!

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Siehe auch: „Feierliches Gedenken an Grenzöffnung in Ungarn“ in EM 07-2009.

Deutschland Geschichte Osteuropa

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