„Der bedeutende Augenblick“GESEHEN

„Der bedeutende Augenblick“

Eine Retrospektive zum Schaffen des russischen Fotografen Jewgeni Chaldej

Von Juliane Inozemtsev

Neuer Siemens Hochgeschwindigkeits-Zug in den russischen Nationalfarben auf dem Bahnhof in St. Petersburg  
Berlin, Männer 1945
(Foto: Jewgeni Chaldej)
 

E twa vier Jahre liegen zwischen den beiden Schwarz-Weiß-Fotografien und mehr als 2000 Kilometer. Das eine Bild wurde 1941 im nordrussischen Murmansk aufgenommen, das andere 1945 in Berlin. Beide stammen von dem russischen Fotografen Jewgeni Chaldej und hängen nun in der ihm gewidmeten Ausstellung „Der bedeutende Augenblick“ im Berliner Martin-Gropius Bau – nicht nebeneinander, aber doch in einem Raum.

Es war am 22. Juni 1941, erinnert sich Chaldej in seiner Biografie, als in Murmansk an nur einem Tag rund 350.000 deutsche Brandbomben auf die vorwiegend aus Holzhäusern bestehende Stadt niedergingen. Nachdem sich die Rauchwolken endlich verzogen hatten, fotografierte er ein altes Mütterchen, das mit einem einzigen großen Koffer als ganzer Habe an den verrußten Holzstehlen vorüberging. „Schämen Sie sich nicht, unser Unglück aufzunehmen?“, rief sie dem damals 24-Jährigen zu. Das beschäftigte ihn noch sehr lange.

Auf dem anderen Bild von 1945 ist ebenfalls eine alte Frau zu sehen. Sie steht vor den Resten eines Hauses in Berlin, dessen Steinwände unter den Bomben wie Zwieback zerbröselt waren. Nur die Stahlträger waren übrig geblieben. Inmitten der völlig zerstörten Umgebung wirken beide Frauen sehr klein.

Früh entdeckte Liebe zur Fotografie

Chaldej, der nur vier Jahre eine Schule besucht hatte und schon mit 13 Jahren als Arbeiter in ein Stahlwerk gesteckt wurde, entdeckte seine Liebe zur Fotografie schon früh. Mit 12 baute er sich seine erste Kamera, bevor ihm eine Tante Geld für eine zwar gebrauchte, aber richtige „Leica“ gab. Als er 15 war, veröffentlichte er sein erstes Foto in der Betriebszeitung. Von da an ging es Schritt für Schritt voran. 1936 wurde er Bildreporter bei der staatlichen sowjetischen Nachrichtenagentur TASS in Moskau und von 1941-1945 war er offizieller Kriegsfotograf der Roten Armee.

Chaldej war ein russischer Patriot jüdischer Herkunft, der mit seinen Landsleuten litt und hoffte. Natürlich dienten seine Bilder der sowjetischen Kriegspropaganda. Das schmälert jedoch nicht ihren heutigen historischen Wert. Und unter den ausgestellten Bildern finden sich auch viele zurückhaltende Aufnahmen, die erst bei längerem Betrachten ihre emotionale Wirkung voll entfalten. Dazu gehört ein Bild von 1941, aufgenommen in Moskau, auf dem eine Handvoll Menschen mit angespannten Gesichtern über Lautsprecher hört, dass deutsche Truppen am frühen Morgen Kiew, Minsk, Sewastopol und Brest angegriffen haben. Es war der erste Kriegstag und diese Menschen ahnten nicht, was noch kommen würde.

Bilder nachträglich bearbeitet

Reichstag, 1945  
Reichstag, 1945
(Foto: Jewgeni Chaldej)
 

Bemerkenswert ist, dass es Chaldej trotz des Grauens jener Jahre gelang, bei den meisten Aufnahmen das Menschliche im positiven Sinne zu bewahren. So fotografierte er 1945 in der zertrümmerten Französischen Straße in Berlin zwei alte Männer: der eine blind, der andere sein Blindenführer. Beim Betrachten dieses Bildes kann man die seelische Erschöpfung der beiden Alten, um die herum alles in Schutt und Asche liegt, förmlich spüren. Chaldej erzählte später, dass er sie gefragt habe, woher sie kämen und wohin sie gingen. Sie selbst wussten keine Antwort darauf, doch der junge Fotograf sah in ihren Augen: „Sie waren am Ende der Welt angekommen.“

Chaldej machte keinen Hehl daraus, dass er einige seiner Bilder nachträglich bearbeitet hat. Er selbst sprach dabei lediglich von „Korrekturen“, die der Dramatik dienen würden. Die Original-Negative bewahrte er jedoch auf. Von seiner berühmt gewordenen Reichstags-Fotografie, auf der Soldaten der Roten Armee am 2. Mai 1945 die sowjetische Flagge hissen, existieren mehrere Varianten. Auf einer hatte Chaldej dunkle Rauchwolken hinzumontiert, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits verzogen hatten. Außerdem hatte er die Armbanduhr eines Soldaten retuschiert, da die Szene nachgestellt worden war.

Nachdem der Krieg zu Ende war, fotografierte er unter anderem Hermann Göring bei den Nürnberger Prozessen, außerdem Stalin, Churchill und Roosevelt auf der Potsdamer Konferenz. 1948 entließ ihn die Agentur TASS dann überraschend. In seiner Personalakte stand als Begründung, er würde politische Themen „nicht ins rechte Licht rücken“ und „nicht an seinem politischen Niveau arbeiten“. Fotograf blieb er trotzdem, unter anderem für die russische „Prawda“.

Unerkannt in einer kärglichen Ein-Zimmer-Wohnung gelebt

In den Jahren und Jahrzehnten nach Kriegsende wurden die Bilder Chaldejs vielfach weltweit abgedruckt, ohne dass der Name des Fotografen bekannt gewesen wäre. Während sein amerikanischer Kollege Robert Capa mit den Bildern von der Landung der Alliierten in der Normandie berühmt geworden war, lebte Chaldej unerkannt in einer kärglichen Ein-Zimmer-Wohnung am Stadtrand von Moskau. Erst in den 90er Jahren entdeckte Ernst Volland, Mitbesitzer einer kleinen Berliner Fotoagentur, ihn und sein privates Archiv mit tausenden Negativen auf einer Russlandreise zufällig wieder. Volland ist auch einer der Organisatoren der aktuellen Ausstellung.

1993, vier Jahre vor seinem Tod, kam Jewgeni Chaldej noch einmal nach Deutschland. Ein Foto gibt es, auf dem er bei Sonnenschein vor dem restaurierten Reichstag steht und eine seiner alten Fotografien von dem ausgebombten Gebäude in den Händen hält. Dabei lächelt er so befreit, als habe er erst in diesem Moment und an diesem Ort richtig glauben können, dass der Krieg wirklich vorbei ist.

*

„Der bedeutende Augenblick“ – eine Retrospektive zum Schaffen von Jewgeni Chaldej; bis zum 28. Juli im Martin-Gropius-Bau in Berlin; Eintritt: 5,- Euro, ermäßigt: 3,- Euro.

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