Die Räumung von KarlshorstZEITGESCHICHTE

Die Räumung von Karlshorst

Die Räumung von Karlshorst

Eine Berliner Zeitzeugin erzählt vom Mai 1945. Die Karlshorster mussten ihre Wohnungen für die siegreichen Russen räumen. „Die Zeit war ein ständiges Wechselbad der Gefühle“, erinnert sie sich. Letztlich aber habe sie in den Russen trotz aller Übergriffe und Schikanen doch mehr die Befreier als die Besatzer gesehen.

Von Juliane Inozemtsev

Zeitzeugin Lotti Reitschert aus Karlshorst.
Zeitzeugin Lotti Reitschert aus Karlshorst.
(Foto: Privat)

B iografien, wie die von Charlotte „Lotti“ Reitschert sind selten geworden heutzutage. Die fast 90-jährige Berlinerin hat ihr Leben lang im östlich gelegenen Stadtteil Karlshorst gewohnt, der heute zum Doppelbezirk Lichtenberg-Hohenschönhausen gehört. „In meiner Kindheit in den zwanziger und dreißiger Jahren ging es hier noch recht ländlich zu, es gab kaum Verkehr und jeder kannte den Anderen“, erzählt die alte Dame mit den kurzen wießen Locken und den braunen Augen.

Als Mädchen besuchte Lotti das Karlshorster Lyzeum. Von den Schrecken des Krieges blieb sie in den folgenden Jahren verschont, obwohl auch in Karlshorst Bomben fielen. „Ab 1941 stand ich in engem Briefkontakt mit einem jungen Soldaten an der Front. Er wurde später mein Mann.“ Auf dem Hochzeitsbild vom Mai 1944 sieht man ein glückliches junges Paar vor dem Karlshorster Standesamt –  heute befindet sich an diesem Ort, weniger romantisch, die Hochschule für Technik und Wissenschaft.

Wir hatten große Angst vor den Russen

Doch das Glück der Beiden währte nicht lange. Lottis Mann kehrte nicht aus dem Krieg heim, den letzten Brief erhielt sie im April 1945, unmittelbar bevor die Befreiung Berlins durch die sowjetische Rote Armee begann. Karlshorst wird damals zum Hauptsitz der sowjetischen Militärführung und bereits in jenen Tagen macht erstmals das Gerücht die Runde, der Stadtteil solle für die Befreier, die zugleich neue Besatzer sind, geräumt werden.

„Die meisten, auch ich, hatten große Angst vor den Russen“, erzählt Lotti. „Die Nazis hatten sie in ihrer Propaganda als Menschenfresser dargestellt. Wir glaubten das, weil wir es nicht besser wussten, denn in Karlshorst hatte es bis dato so gut wie keine Ausländer gegeben.“ Lotti selbst hatte zuvor nur einmal in ihrem Leben Ausländer gesehen, das war während der Olympischen Spiele 1936 gewesen.

Die einrückenden Soldaten der Roten Armee sind keine Menschenfresser, aber viele von ihnen sind wegen des Erlittenen getrieben von Bitterkeit und Rachegefühlen. Und so kommt es kurz nach Kriegsende sehr häufig zu Plünderungen, Brandschatzungen und Vergewaltigungen. Einmal wird auch Lotti  verfolgt, ein russischer Soldat feuert Salven aus seiner Pistole ab und brüllt: „Frau komm!“ Lotti rennt in Todesangst in den nächstbesten Hauseingang, stößt dort mit einem russischen Offizier zusammen. Der fragt sie, was passiert sei. Sie erzählt von dem Verfolger, der Offizier sagt, sie solle keine Angst mehr haben, sie stehe von jetzt an unter seinem Schutz. „Später erfuhr ich, dass die Deutschen seine Frau und seine kleine Tochter Lisa vor seinen Augen erschossen hatten“, sagt Lotti. „Und doch hasste dieser Mann uns Deutsche nicht. Das hat mich tief beeindruckt. Ich wieß nicht, ob ich an seiner Stelle so großherzig hätte sein können.“

„Jeder Karlshorster durfte einen Koffer mitnehmen sowie einen Beutel mit Lebensmitteln. Bis spätestens 18 Uhr sollten alle ihre Wohnungen und Häuser verlassen haben“

Am 3. Mai kommt der offizielle Räumungsbefehl von der sowjetischen Führung. Lotti arbeitet zu dieser Zeit als Sachbearbeiterin in der neu gegründeten Karlshorster Bürgermeisterei unter dem kommissarisch eingesetzten jüdischen Bürgermeister Salomon, einem Überlebenden aus dem  Konzentrationslager. Nachdem die junge Dolmetscherin Tatjana Bredow den Befehl ins Deutsche übersetzt hat, diktieren ihn der Bürgermeister und sein Stellvertreter den Schreibkräften, zu denen auch Lotti gehört. „Wir haben die ganze Nacht vom 3. Zum 4. Mai durchgearbeitet und den Befehl hundertfach mit Durchschlag an der Schreibmaschine abgetippt“, erzählt Lotti.

Die Zettel werden an Bäumen und Hauswänden angeschlagen und außerdem über Megafone durch die Straßen getragen. „Jeder Karlshorster durfte einen Koffer mitnehmen sowie einen Beutel mit Lebensmitteln“, erinnert sich Lotti. „Bis spätestens 18 Uhr sollten alle ihre Wohnungen und Häuser verlassen haben. Viele wussten auf die Schnelle gar nicht, wohin.“

Zunächst habe es geheißen, die Bevölkerung dürfe in einem halben Jahr zurückkehren, so Lotti. „Viele Leute nahmen deshalb nur Sommersachen mit.“ Kaum jemand habe geahnt, dass die Sowjets bis in die 60er Jahre in den Wohnungen bleiben würden. „Ich wieß noch, dass meine Mutter als erstes die schmutzige Wäsche einpackte, weil sie befürchtete, die Russen könnten schlecht über sie denken, wenn sie diese in der Wohnung vorfänden. Eigentlich verrückt, nicht wahr?“, sagt Lotti.  Sie und ihre Eltern bezogen eine kleine Wohnung im sogenannten Fuchsbau, einem Teil von Karlshorst, der außerhalb der Sperrzone lag. „Anfangs war das geräumte Gebiet nur mit Schlagbäumen und vereinzelten Wachposten markiert, erst später  wurde es mit Zäunen abgeriegelt“, so Lotti.

„Mir tat es in der Seele weh, dass sie nun alles einfach so zurücklassen sollten“

In der Nacht vom 8. Auf den 9. Mai 1945 wird die bedingungslose Kapitulation durch die deutschen Nationalsozialisten und die Alliierten in Karlshorst ratifiziert. „Ich war froh, dass der Krieg endlich vorbei war, aber auch ärgerlich darüber, wie die Räumung von Karlshorst vonstatten gegangen war“, sagt Lotti. „Meine Eltern hatten sich erst 1936 komplett neu eingerichtet und dafür hatten sie viele Jahre hart gespart. Mir tat es in der Seele weh, dass sie nun alles einfach so zurücklassen sollten.“

Und so beschließt Lotti,  noch einmal mit ihren Eltern in die Sperrzone zu fahren, um noch Einiges aus der Wohnung zu holen. Sie spricht einen Fuhrwerkbesitzer an, der mit seiner Familie aus den Ostgebieten geflohen ist. Dieser ist bereit zu helfen, will das Fuhrwerk aber selbst lenken. „Er wollte es nicht aus der Hand geben, weil es alles war, was er noch besaß“, sagt Lotti.

Es gelingt ihr, in der Bürgermeisterei einen der wenigen „propuski“ (Passierscheine)  zu bekommen. Er ist genau einen Tag lang gültig und berechtigt dazu, durch das Sperrgebiet zu fahren. Er berechtigt jedoch keinesfalls zum Abholen von Möbeln aus der alten Wohnung. Das ist streng verboten. Doch dieses Risiko gehen alle Beteiligten ein. Aber dann hat der Fahrer des Fuhrwerks ausgerechnet an dem Tag, wo der Passierschein gültig ist, keine Zeit. Und so fahren sie einen Tag später, als geplant. Dass sie nun illegal im Sperrgebiet unterwegs sind, weiß nur Lotti, nicht aber ihre Eltern und der Fahrer des Fuhrwerks. “Rückblickend war das ziemlich leichtsinnig, ich wusste, dass uns allen eine harte Strafe drohen könnte.  Aber als junger Mensch geht man doch davon aus, dass alles gut geht“, sagt sie.

„Persönliche Sachen, wie die Fotoalben der Familie, hatten die neuen Bewohner bereits entsorgt“

Das Hineinkommen in das Sperrgebiet ist zu dieser Zeit noch kein Problem. Es ist ein russischer Feiertag, an dem nur die wichtigsten Wachposten besetzt sind und es gibt genügend Schleichwege. Lotti hat noch einen Schlüssel zur Wohnung, damit kommen sie rein. Dann laden sie so schnell wie möglich auf: zwei Betten, zwei Nachttische, ein Liegesofa, eine Nähmaschine, einen Schrank. „Persönliche Sachen, wie die Fotoalben der Familie, hatten die neuen Bewohner bereits entsorgt“, sagt Lotti. „Aber praktische Dinge hatten auch Vorrang.“ Gerade als sie abfahren wollen, werden sie vor dem Haus von einem bewaffneten Wachposten entdeckt und zur Rede gestellt: „Stoj stoj – nix fahren!“ ruft er. Er sieht sofort, dass der Passierschein abgelaufen ist und schickt Lotti zu seinem Vorgesetzten in die „Kommandantura“. Ihre Eltern und der Fahrer warten indessen angsterfüllt mit dem beladenen Fuhrwerk am Schlagbaum.

Lotti erzählt dem Offizier, dass sie nur ein paar Kleinigkeiten holen wollte. „Natürlich habe ich nicht verraten, dass am Schlagbaum ein voll bepacktes Fuhrwerk steht“, sagt sie, „und zum Glück hat er meine Angaben nicht überprüft.“ Der Offizier stellt ihr einen gültigen Passierschein aus, will aber als Gegenleistung, dass sie um 18 Uhr zu einem Stelldichein wieder kommt.  Lotti ahnt, was das heißt. Doch zum Schein willigt sie ein. „Danach hatte ich eine ganze Weile Angst, dass er mich ausfindig macht.“ Doch sie hatte wieder Glück, nichts dergleichen passierte.

„Diese Zeit war ein ständiges Wechselbad der Gefühle“, sagt Lotti. „Einerseits haben uns die Russen von den Nazis befreit. Doch dann haben sie uns bei der Räumung von Karlshorst alles genommen. Einiges haben wir später zurückbekommen, anderes nie wieder gesehen. Manche haben uns bedroht, wieder andere beschützt.“ Lotti denkt einen Moment nach. Dann sagt sie: „Aber insgesamt habe ich die Russen doch weniger als Besatzer gesehen, denn als Befreier.“

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