09.08.2023 13:11:56
EM-INTERVIEW
Von Robert Kalimullin
Zur Person: Ildar Abusjarow |
Ildar Abusjarow ist einer der interessantesten Schriftsteller der jüngeren Generation Russlands. In seinen Texten spiegelt sich die beeindruckende kulturelle und religiöse Vielfalt Russlands. Er wurde 1975 in Nischnij Nowgorod (damals Gorki) geboren. Heute lebt und arbeitet Ildar Abusjarow in Balaschicha bei Moskau. Zahlreiche seiner Erzählungen wurden in den bedeutendsten Literaturzeitschriften veröffentlicht. Seine Romane „Chusch“, „Mutabor“ und „Agrablenije po-Olbanski“ riefen in Russland kontroverse Debatten hervor. Der Sammelband „Trolleybus nach Osten“ mit Erzählungen Abusjarows in Übersetzung von Hannelore Umbreit erschien in Deutschland 2011 im Weissbooks Verlag. Während der Unruhen in Ägypten Anfang 2011 berichtete Abusjarow aus Ägypten für russische Medien, und für die deutsche FAZ. Siehe auch die Rezension zu Abusjarows „Trolleybus nach Osten“ im Eurasischen Magazin 10/2011. |
Eurasisches Magazin: Revolutionen gingen früher von einzelnen Gehirnen aus, die man alle noch heute kennt, von der Französischen Revolution über Marxismus, Leninismus bis Nationalsozialismus. Was ist im sogenannten Arabischen Frühling anders. Wo sind die Köpfe? Woher hatten die Menschen ihr revolutionäres Gedankengut und wodurch wussten sie, dass es Zeit war, loszuschlagen?
Ildar Abusjarow: Hier sind es eher die Erinnerungen als die Köpfe, die die Menschen bewegen. Die Erinnerung daran, dass das Volk sich bereits in den Jahren 1919 bis 1921, zur Zeit der ägyptischen Aufstände, und 1952, zur Zeit der Revolution, erhob. Solche Perioden der nationalen Erhebung sind als Marksteine äußerst wichtig für das Volk. Für sein Selbstbewusstsein und seine Selbstachtung. Diese Erinnerungen können vieles ersetzen. Ägypten ist ein sehr traditionelles Land, und solche Perioden der nationalen Erhebung werden von Mund zu Mund in Form von Legenden überliefert. Die Köpfe aber, denke ich, sind dieselben: der Prophet Mohammed mit der Idee der Gerechtigkeit und der Prophet der Revolution Marx und vielleicht jemand von den Ideologen des Liberalismus.
EM: Wie würden Sie diese revolutionäre Mischung nennen?
Abusjarow: Das ist eine Art islamischer Sozialismus mit liberaler Tendenz. Denn auf dem Tahrir-Platz waren, abgesehen vom Volk, die hauptsächlichen treibenden Kräfte die Nasseristen, die Muslimbrüder und die Kommunisten. Wenn man in der metaphorischen Sprache der Sagen und Märchen spricht, ist die Revolution eine dreiköpfige Schlange, die in der Dunkelheit an der Kette sitzt und auf ihre Chance wartet. Man schlägt einen Kopf ab, während ein anderer erscheint.
EM: Ist das jetzt ein Mangel, dass nicht eine erkennbare Ideologie, eine revolutionäre Theorie oder ein Programm wie das Kommunistische Manifest o. ä. am Anfang dieser Bewegung stand?
Abusjarow: Das ist eher ein Plus, als ein Minus. Denn das Volk fühlt intuitiv vieles besser als die Politiker, wenn sie währenddessen niemand manipuliert und Gehirnwäsche betreibt. Es gibt so eine Wahrheit: was das Volk will, das will Gott. Die Menschen sind Gottes Statthalter auf Erden, das glauben sowohl die ägyptischen Christen als auch die Muslime.
In Ägypten auf dem Tahrir-Platz hat die Leute eine Art bürgerlicher Gott geführt, ein universaler Verstand oder Geist, und die Menschen selbst spürten intuitiv, was sie tun und wohin sie gehen mussten. Sie konnten sich wunderbar selbst organisieren. Im alten Ägypten nannte man diese Kraft „Tarikon“.
EM: Sie waren im Sommer in Ägypten und haben dort die Proteste auf dem Tahrir-Platz miterlebt. Mit welchen Gefühlen haben Sie den Aufbruch in Ägypten damals verfolgt, und was fühlen Sie angesichts der aktuellen Meldungen aus Ägypten?
Abusjarow: Zur Zeit des „arabischen Frühlings“ erfüllte mich, wie auch die gesamte Nation, eine Welle der Begeisterung. Dieses trunken machende Gefühl der Freiheit, dieser emotional-moralische Schwung hat vieles ersetzt. Doch bereits damals stellte ich mir Fragen und konnte mir nicht recht klar werden über die grundsätzlichen Ursachen und möglichen Folgen der arabischen Revolutionen. Für mich ist bis heute quälend unklar, ob diese Revolutionen einen Tag des Zorns darstellen, ein Ergebnis starker Proteststimmung, die die Welt überrumpelte? Oder war das bekannte Chaos, mit dessen Hilfe das Land zu solch einem Zustand des Bruderkampfes herabgewürdigt wird, dass die Gesellschaft sich nicht konsolidieren kann, sondern mit endloser innerer Demontage beschäftigt ist, den Neokolonisatoren und den von ihnen Beherrschten nützlich? Wird das Land unter Einflussgruppen aufgeteilt und werden mittels Bestechung und Erpressung für ein paar Pfennig alle Ressourcen abgepumpt?
Wenn ich darauf blicke, was derzeit auf den Straßen Kairos geschieht und mich an die Teilung des Sudans erinnere, dann neige ich zur zweiten Variante. Die Neokolonisten benutzen zu ihren Zwecken das gleiche Instrumentarium, mit dessen Hilfe sowohl Muammar Gaddafi als auch die ägyptischen Generäle sie einmal ihrer Macht beraubt und aus ihren Ländern verjagt haben. Das heißt, sie benutzen die Revolution mit dem Ziel der Unterjochung.
EM: Wie lief das damals im Sudan, wie sieht das Muster aus?
Abusjarow: Um sich den möglichen weiteren Verlauf der Entwicklung der Ereignisse auszumalen, reicht es, auf die benachbarten Länder Sudan und Somalia zu schauen. Einst stand der Sudan unter dem Protektorat Ägyptens, doch als Konsequenz von Druck oder „Wind aus dem Westen“ war Nasser gezwungen, diesen Teil des Landes abzugeben. Das heißt, einmal wurde Ägypten praktisch schon geteilt.
EM: Was heißt das für die Zukunft des heutigen Ägyptens?
Abusjarow: Eine der möglichen Varianten ist eine Teilung Ägyptens nach konfessionellen Kriterien. Kurz vor der Revolution gab es bereits Provokationen gegen die Kopten in Nag Hammadi, als aus vorbeifahrenden Autos sechs junge Ägypter erschossen wurden, die nach dem Weihnachtsgottesdienst aus der Kirche kamen. Gleich nach den blutigen Ereignissen traf in Ägypten eine Delegation der Kommission der USA für internationale Religionsfreiheit ein, um lautstarke Stellungnahmen abzugeben und eine Reihe von Treffen mit Menschenrechtlern und Geistlichen abzuhalten. Doch der Patriarch der Koptisch-Orthodoxen Kirche Shenouda III. lehnte ein Treffen ab und beschuldigte die Delegation, sich in innere Angelegenheiten Ägyptens einzumischen.
EM: Das Jahr 2011 begann in Ägypten mit einem Bombenanschlag auf eine koptische Kirche. Im Zuge der Proteste gegen das Regime von Mubarak schienen die religiösen Konflikte auf einmal vergessen. Im Herbst folgten neue Spannungen zwischen Christen und Muslimen, jetzt richten sich die Demonstrationen wieder gegen das Militär. Wo verlaufen die Konfliktlinien in der ägyptischen Gesellschaft wirklich?
Abusjarow: Das ist eben eine Frage von mangelnder Verantwortung, von Unreife der Gesellschaft. Die Kopten waren lange eine Minderheit. Doch die Revolution berauscht sie mit den Möglichkeiten, die sich öffneten. Sie entschieden, dass es Zeit sei, volle Gleichberechtigung zu fordern. In diesem Wunsch unterstütze ich sie natürlich. Doch andererseits gibt es eine Masse bestehend aus einer zornigen, hungernden, armen muslimischen Bevölkerung, unter der der Mythos umgeht, dass die Kopten die wohlhabendste und einflussreichte Gruppe sind, dass die Kopten das profitable Bankengeschäft und die Tourismusbranche an sich gezogen haben. Unter den Bedingungen, dass die Verbraucherpreise steigen, wird diese Bevölkerung noch zorniger. Daher sehe ich, dass die größten Gräben in Ägypten nicht zwischen Christen und Muslimen verlaufen, sondern zwischen Armen und Reichen. Denn Ägypten ist ein Land mit einer kolossalen sozialen Ungleichheit. Ein Land, in dem einige alles können, andere sich aus der Mülltonne ernähren.
EM: Und was wäre Ihrer Meinung nach eine Perspektive für Ägypten, um die Gräben in der Gesellschaft zu überwinden?
Abusjarow: Jede Generation lebt ihr Leben, und ist leider nicht geneigt, aus den Fehlern ihrer Vorgänger zu lernen. Jede Generation genügt sich selbst, man kann auch sagen, ist egoistisch. Sie will in der Jugend lieben, sich vergnügen, berauschende Mittel ausprobieren, ihr Bewusstsein erweitern und die eigene Wahrheit suchen. Und jede Generation glaubt, dass ihre Wahrheit besonders ist, anders als die Wahrheiten der anderen und besonders der vorangegangenen Generation.
Doch die gegenwärtige Generation, scheint mir, ist doppelt egoistisch. Sie strebt danach, alles zu erreichen und ist gierig auf das Leben. Doch das Ego des Menschen ist so aufgebaut, dass er dazu neigt, die Schuld an allen seinen Misserfolgen seinen Nächsten oder der Regierung zu geben. Das Ego ist immer bereit, auf Kosten anderer zu leben, wenn es um eigene Interessen geht. Vielleicht ist es Ihnen aufgefallen: je mehr Rechte eine Minderheit hat, desto aggressiver wird sie. Einerseits ist es gut, dass jede neue Generation eine Verbesserung der Lebensbedingungen und politischen Freiheiten fordert. Darin ist auch ein Fortschritt enthalten. Sind andererseits aber die jungen Menschen bereit, die volle Verantwortung für diese Freiheiten auf sich zu nehmen und die Situation zu kontrollieren?
EM: Und wie verhält es sich damit heute in Ägypten, wie in den Ländern des arabischen Frühlings?
Abusjarow: Mit der heutigen Generation ist eine wichtige Sache passiert. Sie lebt in der Epoche eines nie dagewesenen Booms der Internetkommunikationsmittel. Schon jetzt werden die Revolutionen in Ägypten und Tunesien Twitter-Revolutionen genannt. Doch man kann sie mit vollem Recht auch Volksrevolutionen nennen. Denn die Bevölkerung wurde durch Armut und Demütigung, die die Persönlichkeit zerstörten, zu quälender Ausweglosigkeit gebracht.
Im Islam wird das „Ego“ Nafs genannt. Und der große Djihad besteht im Kampf des Geistes Ruch mit Nafs. Doch es ist sehr schwer, mit dem Ego zu kämpfen, wenn es sich an einem Konsumkult aufheizt, in dem man täglich Luxus, Überfluss und Permissivität sieht. Das menschliche „Ich“ braucht äußerlichen Glanz, schnellen Erfolg, ein teures Telefon, ein Auto der neuesten Super-Marke. Es muss sich selbst in der Gesellschaft beweisen. Wenn dies nicht gelingt, ist es zu Gewalt gegenüber den Nächsten bereit. Grundlose Emotionen können entstehen, wenn es das Bedürfnis gibt, die Verantwortung auf jemanden abzuwälzen. Die „Gräben“ kann man in dieser Situation nur durch Anerkennung seiner persönlichen Verantwortung und durch allgemeine Konsolidierung im Namen hoher gesellschaftlicher Ziele oder bodenständigen gesunden Menschenverstands überwinden.
EM: Wie ist die Stimmung in Russland angesichts des arabischen Frühlings? Gibt es ein Gefühl, dass dies eine größere Protestwelle sein könnte, die einmal auch Russland erfasst, oder erleben die Menschen die Proteste als etwas, das weit weg ist?
Abusjarow: In Russland haben die Herrschenden eine manische Angst vor allem, was mit der Revolution verbunden ist. Andererseits unterstützt Russland traditionell die arabischen Verbündeten. Daher ist die Position des offiziellen Moskau in diesem Sinne voreingenommen und vorhersehbar. Sie ist auf der Seite der herrschenden Regimes, mit denen sie günstige Geschäftsbeziehungen entwickelt hatte.
Was die Stimmung in der russischen Bevölkerung angeht, so ist diese sehr freiheitsliebend. Man muss nur daran denken, wie der ewige Präsident Putin bei der Siegerehrung des Kämpfers Fedor Emelianenko beim „Kampf ohne Regeln“ in der Olimpijskij-Sportarena kürzlich ausgepfiffen wurde. Die politische Situation in Russland und die bevorstehenden Wahlen in Russland kann man auch mit einem „Kampf ohne Regeln“ vergleichen. Doch die Menschen verstehen und fühlen. Und revolutionäre Gedanken und Proteststimmung werden, wie in Ägypten und Tunesien, über das Internet und Mund-zu-Mundpropaganda verbreitet.
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