Die schwierige Demokratie in der islamischen Welt

Die schwierige Demokratie in der islamischen Welt

Die schwierige Demokratie in der islamischen Welt

Welche historischen Wurzeln den Herrschaftssystemen in den islamischen Ländern zugrundeliegen. Weshalb es auch nach 200 Jahren Verwestlichung noch kaum demokratische Strukturen gibt. Warum die herrschenden Schichten in den Ländern des Orients daran auch nicht interessiert sind. Und welche Rolle der Westen – insbesondere die USA – für die Demokratie in der islamischen Welt spielen.

Von Arnold Hottinger

Arnold Hottinger  
Arnold Hottinger  

Demokratie ist nicht nur in der islamischen Welt, sondern überall schwierig. Um Bestand zu haben, muß sie sich täglich bewähren. Man muß den Europäern und den Amerikanern immer wieder sagen: der Gedanke einer vollen Demokratie rückte auch in Amerika und Europa erst am Ende des 18. Jahrhunderts in den Bereich des politisch Möglichen: in Amerika kurz vor der französischen Revolution und in Europa dann mit ihr. Um aber einigermaßen stabile demokratische Regime einzurichten, brauchte es in den Vereinigten Staaten erst einen grausamen Bürgerkrieg, der von 1860 bis 1866 tobte. In Europa wechselten sich ganze Ketten von Fortschritt und Reaktion mit periodischen, manchmal höchst katastrophalen Zusammenbrüchen der demokratischen Systeme ab, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts andauerten.

„Orientalische“ Herrschaftsstrukturen

Im Nahen Osten ist die Demokratie ein Importprodukt aus dem europäischen und amerikanischen Kulturkreis, das erst nach dem europäischen Kolonialismus und nach dem 2. Weltkrieg machtmäßig und politisch möglich wurde. Und nun ist es – genau wie es auch in Europa und Amerika der Fall war - zunächst langen experimentellen Perioden ausgesetzt, in denen es immer von neuem zusammenbricht und dann versucht, sich erneut durchzusetzen.

Es handelt sich um ein Importprodukt, weil die islamischen Völker ihre eigenen Regierungssysteme besitzen, die sich mit vielen Wandlungen durch ihre ganze Geschichte hindurch erhalten haben. In ihnen spielt „Beratung“ der Machthaber zwar eine Rolle, Demokratie jedoch, im Sinne der Möglichkeit von friedlichen Machtwechseln durch Stimmabgabe der Bevölkerung, ist unbekannt.

Das einheimische Herrschaftssystem im Nahen Osten ist uralt, viel älter als der Islam. Es hat seine Ursprünge in Ägypten und Mesopotamien, wo es mit der Zivilisation begann. Im Zuge der Einrichtung der ersten Stadtstaaten, die sich später in manchen Fälle zu Imperien ausweiteten, entstand, was man als das „orientalische Herrschaftssystem“ beschreiben kann. Es besteht im wesentlichen aus dem Zusammenspiel von Einmannherrschaft und Religion: der Herrscher wird als Vertreter Gottes auf Erden gesehen, die Götter oder ein Gott haben ihm die Herrschaft anvertraut. Er ist ihr oder sein Statthalter auf Erden. Seine Legitimation als gottgeweihter Machthaber obliegt in der Praxis den Priestern oder Gottesgelehrten. Doch der Machthaber pflegt in der Lage zu sein, diese Priester oder Gottesgelehrten weitgehend selbst ein- oder abzusetzen. Manchmal ist er selbst „Pontifex Maximus“ wie die römischen Kaiser.

„Altar und Thron“ in Europa

Damit ist schon angedeutet, daß dieses hier „orientalisch“ genannte Herrschaftssystem auch im „Westen“ existiert durch das ganze Altertum, das Mittelalter und die Neuzeit hindurch. Die demokratischen Zwischenspiele, die es im Altertum gab, waren nur von kurzer Dauer. Dennoch kann man das Herrschaftßystem „orientalisch“ nennen, weil es im „Orient“ (wozu auch Byzanz gehört und die Tochter des Byzantinischen Reiches, das Zarenreich) reiner ausgeprägt ist als im „Westen“. In Europa kommt es schon früh zur Errichtung zweier von einander weitgehend unabhängiger, von einander periodisch den Vorrang fordernder und daher oft zusammenstoßender, Machtsphären mit der Trennung von Kaiser- und Papsttum. Diese Trennung kennt der Orient nicht. Der Herrscher bleibt Herr über „seine“ religiöse Hierarchie: als byzantinischer Kaiser, als russischer Zar und als äthiopischer Kaiser, als Khalifa im Islam und später als Shah, als Sultan und Malek (König), sowie in republikanischen Staaten als allmächtiger „Präsident“. Er setzt die Oberhäupter der religiösen Hierarchie ein, damit sie seine Legitimität „absegnen“, und diese sind normalerweise, wenn sie richtig gehandhabt werden, bereit, das zu tun.

Die nur in Europa in Erscheinung tretende Machttrennung - zuerst zwischen Kaiser und Papst - erlaubt es dann weiteren Mächten, eine mehr oder weniger große Unabhängigkeit vom Herrscher zu erlangen: dem Adel, der im Westen erblich wird und dem Kaiser als eigener Stand gegenübertritt, was im Orient nicht geschieht. Später wachsen die mehr oder weniger unabhängigen Städte empor mit ihren eigenen Versammlungen, ihren Parlamenten, ihren eigenen Finanzen und einer selbständigen Verwaltung. Auch sie gibt es nicht im Orient. Dort unterstehen die Städte ohne eigene Stadtregierungen dem Hof oder dem Gouverneur des Machthabers. Die europäischen Städte wurden bekanntlich die Ursprungszellen der europäischen Demokratie.

Spezifisch „orientalisch“?

Im Osten und hier nun spezifisch in der islamischen Welt bleibt die Machtfülle des „gesalbten“ Herrschers, der über die weltlich-militärische Hierarchie, aber auch über die religiösen Würdenträger Macht ausübt, ungeschmälert bestehen, bis Atatürk 1924 den letzten Khalifa absetzt. Der türkische Präsident verkündete damals, dieser sei „überflüssig“ geworden.. Überflüssig war er, weil Atatürk über eine neue Legitimitätsgrundlage verfügte: den aus Europa importierten, aber nun turkifizierten Nationalismus. Auch in der – im Unabhängigkeitskampf gegen die Kolonialmächte - nationalistisch gewordenen übrigen islamischen Staatenwelt setzten sich zunächst die Einmannregime durch. Wenn sie dies brauchten, waren sie auch weiterhin in der Lage, „ihre“ religiöse Hierarchie für ihre Zwecke einzusetzen. Als Nasser den Arabischen Sozialismus einführte, ernannte er einen Scheich al-Azhar, Mahmud Shaltut, der sich darum bemühte, nicht nur den Arabischen Nationalismus, sondern auch gleich den Sozialismus islamisch zu legitimieren.

Der erfolgreiche General Rezah Khan wurde in Teheran nach den Wirren des Ersten Weltkrieges Verteidigungsminister und riß durch einen Putsch die Regierungsmacht an sich. Er zögerte, ob er auch wie Atatürk „Präsident“, das heißt ein moderner nationalistischer Diktator werden solle. Seine Beschützer, die Briten, rieten ihm, die alte persische Tradition des Schahinschah, König der Könige, fortzusetzen, und so nahm er den Schah Titel an. Er verstand sich jedoch nicht gut mit den schiitischen Gottesgelehrten, mit denen er mehrmals spektakulär zusammenstieß. Die gewaltsam modernisierende Politik, die er betrieb, war vielen der hohen Geistlichen mißliebig, weil sie sich gegen eine große Zahl von Traditionen und Privilegien richtete, die den konservativen Geistlichen als islamisch geheiligt galten. Khomeini, damals noch kein hervorragender Ayatollah, jedoch ein politisch interessierter Geistlicher, haßte den Vater und den Sohn der Pahlawi Dynastie, wie sie sich nannte, deren Ende er später herbeiführen sollte.

Der Machthaber als Vertreter Gottes

Vom Standpunkt der islamischen Geistlichkeit galt normalerweise der Machthaber, Sultan, Shah, Malek, auch wenn er nicht „Khalifa“ (Nachfolger des Propheten) für die Sunniten und nicht „Imam“ für die Schiiten war, als „legitim“, solange die Bevölkerung unter ihm als Muslime leben konnte. Sie lehrten, sogar gegen einen „ungerechten Herrscher“ solle die Bevölkerung sich nicht erheben, solange er dafür sorge, daß sie als Muslime zu leben vermöchten, weil sein Unrecht in diesem Falle immer noch besser sei als ein Bürgerkrieg unter Muslimen („fitna“). Dieser sei als das größere Übel zu vermeiden.

Die schiitische Geistlichkeit war überwiegend der Ansicht, sie vertrete „kollektiv“ den verschwundenen Imam, der am jüngsten Tage zurückkehren werde. Doch anerkannte sie die de facto Macht des Shahs, der in Iran auf eine sehr alte vorislamische Tradition zurückschauen konnte. Ihm gegenüber nahm sie das Recht in Anspruch ihn zu beraten und ihm, so wie der gesamten Gemeinschaft der Gläubigen, den Weg des Islams zu weisen, jedoch ohne selbst die Regierungsmacht zu beanspruchen. Es war erst Khomeini, der im irakischen Exil von Najaf in den 60er und frühen 70er Jahren die neue Lehre von der „Herrschaft durch den Gottesgelehrten“ entwickelte, die den Schah als „Feind des Islams“ und Usurpatoren der Macht einstufte. Khomeinis Lehre setzte sich politisch durch, doch ist sie theologisch keineswegs unumstritten. Viele schiitische Geistliche höchsten Ranges, auch innerhalb Irans, sind der Ansicht, die Lehre von der „Herrschaft des Gottesgelehrten“ laufe Gefahr, die Religion zu beschmutzen, weil die Politik unvermeidlich unsauberes und umstrittenes Tun mit sich bringe, so daß ein geistlicher Herrscher die Religion in Mitleidenschaft ziehe. Die vielen Vorwürfe, die heute im iranischen Volk gegen die angebliche und wohl auch tatsächlich bestehende Korruption unter den herrschenden Geistlichen umgehen, scheinen diesen Kritikern recht zu geben.

Im traditionellen Herrschaftssystem, in dem die Geistlichen (Ulema) sich damit begnügten, den Machthaber zu beraten, gab es neben den politisch ehrgeizigen Geistlichen immer auch solche, welche die Zusammenarbeit mit dem Staate ablehnten. Oft wird von Frommen berichtet, die das Amt eines Qadi (Richters nach der Schari’a), das ihnen vom Machthaber angeboten wurde, ablehnten, sogar wenn dieser „Khalifa“ war, das heißt legitimer Nachfolger des Propheten. Manchmal zum Zorn des Machthabers. Solche Fromme wollten mit den Belangen „der Welt“ („dunia“) nichts zu tun haben. Dies pflegte insbesondere die Haltung der in den späteren Jahrhunderten immer einflußreicheren Mystiker („Sufi“) zu sein. Doch der Herrscher fand immer auch angesehene Geistliche, die sich bereit zeigten, Würden geistlicher Art von ihm anzunehmen. Die ebenfalls im späteren Islam allgegenwärtigen Madâres (von Sing. Madrasa, - Hochschule), die der Herrscher mitfinanzierte, waren Ausbildungsstätten für Geistliche, die den Gläubigen und ihrem Staat dienen sollten.

Im schiitischen Bereich besteht eine größere Unabhängigkeit der Geistlichen vom staatlichen Machthaber als im sunnitischen, weil die schiitische Geistlichkeit über ihre eigenen Finanzquellen verfügt. Sie sind durch Stiftungen mit großem Landbesitz gegeben, aber noch mehr durch die Verpflichtung der Gläubigen, ihre religiöse Steuer (Zakat) an die Gottesgelehrten ihres Vertrauens zu entrichten. Im Sunnismus ist es eine staatliche Kommission, welche die Zakat Gelder entgegennimmt. In ihr sitzen ebenfalls angesehene Gottesgelehrte, jedoch eben die, welche der Staat oder Machthaber dafür bestimmt.

Die Komponente der Stammesherrschaft

Das hier geschilderte „orientalische“ Herrschaftssystem kann man als einen politischen Makrokosmos ansehen, der seinerseits durch einen Mikrokosmos ergänzt und durchdrungen ist. Neben dem imperialen und religionsgestützten System besteht immer auch das Stammeswesen. Es ist weniger ausführlich dokumentiert als das Makrosystem, weil die Historiker und Chronisten sich in erster Linie mit den Belangen des Reiches befassen. Doch neben den in den Städten verankerten Höfen und Reichen gibt es stets auch die Stämme. Ihre Ordnung ist noch älter als der orientalische Gottesstaat. Sie beruht weniger auf Religion als Legitimitätsbasis, denn auf Familien- Sippen- und Stammessolidarität. Das Stammeswesen überdauert alle Großreiche, weil es auf der Natur der nahöstlichen Länder beruht: weite Landstriche von Wüste und Gebirge können nur wandernden Stämmen eine Lebensgrundlage bieten, und sie können einzig mit Hilfe der Stämme wirtschaftlich genutzt werden.

Die Stämme kennen keinen Staat. Ihre politische Organisation beruht auf der patriarchalischen Herrschaft über Familie, Großfamilien, Sippen und Stämme. Die Stammesmitglieder führen ihren Ursprung auf einen mythischen gemeinsamen Urvater zurück. Die Familienbindung im weitesten Sinne bildet damit die Legitimationsgrundlage der Stammesherrscher. Die Stämme haben eine religiöse Zugehörigkeit, doch ohne Tempel, Moschee, geistlichen Stand. Die Schrift mag ihnen bekannt sein. Ihre Mitglieder haben jedoch wenig Gelegenheit, sie zu üben und vergessen sie daher wieder, sogar wenn sie sie einmal gelernt haben. Traditionen mythischer und religiöser Natur werden mündlich weitergegeben. Und die Gedichtform dient dazu, sie in den Gedächtnissen zu verankern.

Die Stämme üben die wichtigste Funktion, die in den bebauten Landstrichen dem Staat zufällt selbst aus, nämlich die Sicherheit ihrer Mitglieder zu garantieren. Im Inneren des Stammes geschieht dies durch Druck auf Mitglieder, die gegen die Normen verstoßen. Im Äußeren gegenüber fremden Stammesgruppen durch die Androhung von Stammesfehde für den Fall, daß ein Übergriff gegen ein Mitglied des eigenen Stammes vorkommt und durch die damit verbundene Abschreckung.

Die Stämme sind eng mit Dörfern und Städten verbunden

Zwischen den Stämmen und der seßhaften Bevölkerung spielt sich ein beständiges Geben und Nehmen ab, sowohl wirtschaftlich wie auch demographisch. Marginale und verarmte Stammesgruppen drängen in die bebauten Landstriche ein. Manche Stammesmitglieder arbeiten als Wanderarbeiter, wenn Arbeitskräfte benötigt werden. Umgekehrt tröpfeln Bauern in die Wüste und in die Gebirge zurück, wenn ihre Landwirtschaft aus irgendeinem Grunde zusammenbricht. Die Stammeskrieger sind gute Soldaten und finden als Söldner in den Regierungszentren Verwendung. Die Söldner können sich aber auch zu Herren aufschwingen. Ganze Stämme können in das bebaute Land einbrechen und es sich unterwerfen. Ich erinnere an den Zyklus Ibn Khalduns: Stammessolidarität bewirkt Kriegsmacht. Sie erobert die Städte und gründet Reiche in der „Madaniya“, das Wort für „Kultur“, das man auch mit „städtische Zivilisation“ übersetzen kann. In der „Kultur“ verweichlichen sie und werden dadurch zu künftigen Opfern neuer Einfälle aus der Wüste.

In der arabischen Welt sind die Stämme besonders eng mit den Dörfern und Städten verbunden, weil die arabische Kultur auf die Stammeskultur zurückgeht und die Araber stolz auf ihr kulturelles Erbe aus der Beduinenzeit sind. Der Koran wurde in einem Milieu offenbart, das der Stammeskultur eng verbunden war. Die Handelsstadt Mekka wurde von mehreren arabischen Stämmen gemeinsam bewohnt, die sich selbst nach den Stammesgesetzen regierten. Eine Stadtregierung gab es nicht. Auch Medina bestand aus mehreren zusammenlebenden Stämmen. Muhammed gehörte zur Sippe Hashem und zum Stamm Quraish. Spätere Fachleute für die politischen Aspekte der Religion, wie der berühmte al-Mawardi, stellten die Forderung auf, ein legitimer Nachfolger des Propheten (Khalifa) müsse obligatorisch dem Stamm der Quraish angehören. Es waren die Stämme Arabiens, die den Heiligen Krieg in die Länder der Hochkultur rund um die Arabische Halbinsel hinaustrugen und das muslimische Weltreich eroberten. Die Bewohner der neu eroberten Länder, die zum Islam übertraten, mußten sich einem der Stämme als so genannte Klienten (Mawâli, Sing. Maula) anschließen und wurden bis zur abbasidischen Revolution nicht vollberechtigte Träger und Nutznießer des neu eroberten Reiches.

Klientelstrukturen in den Städten

All dies verstärkt das Ansehen der Stammesstrukturen bis auf den heutigen Tag in der arabischen Welt. In den Städten findet man verwandte Kleinstrukturen der politischen Organisation, die wie bei den Stämmen auf Familienstrukturen und auf familiärer Solidarität beruhen. Dies sind die reichen und angesehenen Großfamilien, oft Landbesitzer, aus denen „Honoratioren“ hervorgehen. Als solche bezeichnet man die Häupter von Klientelgruppen mehr oder weniger ausgedehnter Natur. In Libanon werden sie oft als „Zu’ama“ (Sing. Za’im) angesprochen, weil sie die politische Rolle von „Chefs“, „Anführern“ spielen, im Krieg wie im Frieden. Diese Position ist oft erblich, weil sie auf dem Familienbesitz beruht und auch seiner Mehrung gelten kann. Ein derartiger „Chef“ hat Anhänger, die durch Dick und Dünn zu ihm halten. In Friedenszeiten stimmen sie für ihn, so daß er ins Parlament kommt, wo immer ein solches besteht. In Unruhezeiten dienen sie ihm mit der Waffe. Im Gegenzug vertritt der „Za’im“ ihre Interessen gegenüber der Regierung sowie gegenüber Rivalengruppierungen. Chef und Klientele sind fast immer geographisch umschrieben als Angehörige einer bestimmten Region, Landschaft, Stadt, sogar bestimmter Stadtviertel, und sie gehören so gut wie ausnahmslos der gleichen Religionsgemeinschaft an. Dies hängt direkt mit den Familienstrukturen zusammen, weil man normalerweise innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft heiratet.

Für die Frage nach der Demokratie sind diese Kleinstrukturen wichtig. Sie sind, wie die Makrostrukturen, ausnahmslos patriarchalisch autoritärer Natur: Einmann-Herrschaften pyramidalen Aufbaus, in denen der Familienvater der Honoratiorenfamilie das Sagen hat. Bittere Rivalitäten zwischen den verschiedenen Honoratiorenfamilien sind häufig, so daß oft zwei derartige Gruppen um Gefolgschaft und Vorrang innerhalb einer geographischen und sozial-religiösen Einheit ringen.

Die vorkolonialen und die kolonialen Epochen haben viel zur Machtförderung dieser städtischen und ländlichen Kleinstrukturen beigetragen, weil die fremden Konsuln und später Kolonialgouverneure sich gerne auf die vermittelnde Macht der Gruppenchefs abstützten, um auf die Bevölkerung, zu der sie der Kultur und der Sprache wegen wenig direkten Zugang besaßen, indirekten Einfluß auszuüben. Doch auch schon die „islamischen“ Herrscher, die von Istanbul, Teheran, Agra, Kairo, Marrakech aus regierten, waren auf die Vermittlerschicht der Stammesherren und Stadthonoratioren angewiesen. Weder die Höfe noch ihre Gouverneure an Ort und Stelle, waren wirklich in der Lage, die einheimischen „Untertanen“ umfassend zu kontrollieren. Sie verfügten nicht über das Werkzeug einer fein ausgebauten „europäischen“ Bürokratie, durch welches ein jeder Einzelne registriert und erfaßt werden konnte.

Das Entscheidende für die Frage der Demokratie liegt darin, daß diese Kleinstrukturen ebenfalls immer Machtpyramiden autoritär patriarchalischer Art sind. Jene Urzellen der europäischen Demokratie, welche die Gemeindeversammlungen und die Stadt-Regierungen in Europa bildeten, kollektive Regierungsgremien, fehlen völlig in der „orientalischen“ politischen Tradition.

Heute, nach 200 Jahren Verwestlichung

Der heutige Orient lebt nicht mehr abgesondert vom „Westen“ innerhalb der Koordinaten seiner eigenen Kultur. Seit rund zwei Jahrhunderten wächst der Einfluß europäischer und amerikanischer Vorbilder in allen Lebensbereichen beständig. Die Einflußnahme begann mit den Militärs. Um sich der vordringenden europäischen Mächte zu erwehren, sahen die östlichen Staaten sich gezwungen, Armeen im Stil der Europäer aufzubauen, weil diese sich als klar überlegen erwiesen. Doch die „Verwestlichung“ des Orients blieb nicht beim Militärwesen stehen. Schrittweise umfaßte sie alle Lebensbereiche, Verwaltung, Wirtschaft, Industrie, Technologie, Recht, alle Wissenschaften, das gesamte Bildungswesen, politische und philosophische Ideen und Grundvorstellungen, Transportwesen einschliesslich Straßenbau und Luftverkehr, Kommunikationen aller Art von Zeitung und Radio bis zum Internet. Es handelt sich stets um Übernahmen unter Druck und Zwang, weil die westlichen Modelle und Vorstellungen sich immer wieder als die wirksameren erweisen. Sie werden in bis heute immer anwachsendem Masse benötigt, um in der internationalen Konkurrenz einigermaßen bestehen zu können.

Die Lawine von Übernahmen hat die nahöstlichen Gesellschaften zutiefst verändert. Wie weit die Veränderungen gehen, führt man sich am besten vor Augen, indem man an eine der heutigen nahöstlichen Großtädte denkt. – Wie viel von ihrem gesamten Leben und Tun ist heute noch „traditionell“ und wie viel „verwestlicht“. Ihre Führungen stehen vor Aufgaben, die um eine Dimension komplexer sind als jene, welche die Führungen westlicher Staaten zu bewältigen haben. Die zusätzliche Dimension ergibt sich daraus, daß die islamischen Gesellschaften heute gezwungen sind, sich einerseits in der „modernen Welt“ zu behaupten, sie aber andrerseits ihr eigenes kulturelles Erbe nicht aufgeben möchten.

Unzeitgemässe Einmannherrschaften

Die Debatte um die Demokratie im Nahen Osten muß heute in diesen Zusammenhang gestellt werden. Die Einmannherrschaften im makro und mikro Bereich haben einst schlecht und recht funktioniert. Sie wurden über Gesellschaften ausgeübt, die im wesentlichen Agrarländer waren und einer religiös umschriebenen konservativen Geisteshaltung verpflichtet waren. Fehlentscheide konnten natürlich auch in solchen, sich relativ langsam verändernden, eher statischen Gesellschaften vorkommen. Doch die Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheiden nimmt mit der Komplexität der zu meisternden Entwicklungen und die wachsende Zahl von Entscheidungen, die unter zunehmendem Entscheidungsdruck gefällt werden müssen, exponentiell zu.

Man kann empirisch aufzeigen, daß die Einmannregime in Entwicklungsländern in einer großen Zahl von Fällen ihre Länder ins Verderben treiben, weil der Herrscher immer weniger in der Lage ist, die Realitäten seines Landes zu erkennen. Er schließt sich selbst von einer jeden Kritik aus und umgibt sich mit einer Schicht von Schmeichlern und Ja-Sagern, die all seine Fehlentscheide loben. Gleichzeitig halten ihn seine Geheimdienste mit Gewalt an der Macht, und die Zensur sorgt dafür, das er immer weiter gelobt und nie kritisiert wird. Er kann über Jahre hinweg Fehler akkumulieren, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, bis es zu einem vollen Zusammenbruch seines Landes und mit ihm auch seines Regimes kommt. Nasser, Suharto, Reza Schah Pahlawi, Saddam Hussein und seine sämtlichen Vorläufer im Irak seit 1932, Zia ul-Haqq und mehrere seiner pakistanischen Vorgänger, Daoud Khan von Afghanistan mögen als prominente Beispiele gelten, die bereits gestürzt sind. Die Einmannherrscher der jungen islamischen Staaten Zentralasiens sind meistens noch an der Macht, doch gehen sie auf ähnlichen Wegen. Es gibt Ausnahmen wie etwa die relativ erfolgreiche Diktatur von Hafez al-Asad in Syrien. Zu diesen Ausnahmen will man auch die „Präsidenten“ Sadat und Mubarak von Ägypten zählen, Zein ad-Din Ali und sein Polizeiregime in Tunesien, die „Präsidenten“ Boumediène und Chadli von Algerien, „Präsident“ Ali Saleh Abdullah von Jemen, „Präsident“ Bashir im Sudans sowie seine sämtlichen Vorgänger seit 1956 und auch andere, wie Ghaddafi von Libya, König Hassan II von Marokko, „Präsident“ Siad Barré von Somalia. Es muß von der Einschätzung eines jeden Einzelnen abhängen.

Das Bild vom Landesvater, der straft und belohnt, welches all diese Machthaber aufrechtzuerhalten zu suchen, wirkt immer noch bei den Bevölkerungen, um so mehr als Radio, Fernsehen und staatliche Zeitungen es lückenlos unterstützen. In den meisten islamischen Staaten gilt als ein ungeschriebenes Gesetz: „der Präsident“ darf nicht kritisiert werden. Dies wird damit begründet, daß er als Landesvater ein nationales Symbol darstelle. Übergangen wird freilich dabei, daß der „Präsident“ in sehr vielen Fällen ein militärischer Machthaber ist, der durch einen mehr oder weniger blutigen Putsch die Macht an sich gerissen hat. Das uralte System wirkt nach: wer an der Spitze der Macht sitzt, ist dorthin durch Gottes Willen gelangt. Er vertritt IHN auf Erden.

Doch neben der Faszination, die der Machthaber ausübt, besteht immer auch ein mehr oder weniger dunkles Bewußtsein des Umstandes bei seinen Untertanen, daß die bestehende Ordnung ein wesentliches Hindernis auf dem Weg der Entwicklung und des Gleichziehens mit den Industriestaaten des Westens darstelle. Die Doppelwirkung: Faszination und Kritik, entspricht der Doppelsituation zwischen eigener Tradition und Moderne, in der die islamischen Völker leben. Die Modernisierung schreitet unaufhaltsam voran und mit ihr wächst auch die Kritik am „Gesalbten“. Was natürlich noch nicht heißt, daß demokratische Zustände leicht zu erreichen wären. Anläufe gab es und wird es weiter geben. Doch daß sie eine Demokratie hervorbrächten, die Dauer verspricht, braucht eine Konfluenz von vielen Entwicklungen und Glücksfällen, die so leicht nicht zustande kommt.

Neue Rahmenbedingungen nach dem Kalten Krieg?

Man kann annehmen, die Rahmenbedingungen für erste Schritte auf Demokratie hin hätten sich nach dem Ende des Kalten Krieges insofern verbessert, als heute die Rivalität der zwei Supermächte um die „grauen Zonen“ der Dritten Welt aufgehoben ist. Sie hatte früher bewirkt, daß ein jeder der beiden Rivalen alle Machthaber gleich welcher Art in der umkämpften Zone als Verbündete aufnahm, in erster Linie um zu vermeiden, daß sich der Gegenspieler im Kalten Krieg der entsprechenden Position bemächtige. Die leer ausgehende Supermacht unterstützte mehr oder minder diskret die Putschisten, die gegen das mit ihrem Rivalen „verbündete“ Land agitierten. Primär ging es beiden Gegenspielern im Kalten Krieg darum, Einfluß zu nehmen und den Einfluß des Gegners zurückzudämmen. Welcher Art Regime dabei beeinflußt und unterstützt wurde, pluralistisch oder totalitär, war Nebensache.

Heute, nach dem Ende des Kalten Krieges behaupten die USA, sie wollten auf eine Demokratisierung der islamischen Völker hinwirken. Freilich, was sie zu diesem Zweck bisher Praktisches taten, erwies sich als kontraproduktiv: der Krieg im Irak, den die USA bisher zwar militärisch, jedoch nicht politisch und nicht einmal sicherheitsmäßig zu gewinnen vermochten, schafft Erbitterung und Unsicherheit in der ganzen Region. Er trägt dazu bei, die angeblichen Demokratisierungswünsche Washingtons in den Augen der betroffenen Muslime gründlich in Frage zu stellen.

Demokratisierung als Sachzwang

Doch die Fehlgriffe der Amerikaner schließen nicht aus, daß die nahöstlichen Völker – vor allem ihre gebildeten Schichten - immer deutlicher erkennen, daß eine echte Demokratie eine der bisher unerreichten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Umgang mit den Herausforderungen der Moderne darstellt. Gedankenfreiheit und Pluralismus, Gewaltentrennung und eine demokratische Kontrolle der Machthaber stellen nun einmal Grundvoraussetzungen für das wirkliche Funktionieren einer modernen Gesellschaft dar. Ohne sie können einzelne Neuerungen aus den Industriegesellschaften gekauft, importiert oder imitiert werden, jedoch zu einer kreativen Eigenentwicklung innerhalb der modernen globalisierten Welt kann es schwerlich kommen. Dieser Umstand macht den Durchbruch zur Demokratie zu einer Frage des politischen und kulturellen Überlebens. Heute braucht man sie. Daher besteht ein Zwang, die althergebrachten und tief verwurzelten Machttraditionen der Region aufzugeben und neue Organisationsformen anzustreben, die es erlauben, die Grundvoraussetzungen für ein in der Gegenwart fruchtbares politisches, wirtschaftliches und kulturelles Leben zu erfüllen.

Die Machthaber sehen die Lage indes keineswegs so wie ihre Völker. Sie sind praktisch alle überzeugt, daß die beste Lösung für sie und ihr Volk darin liege, daß sie an der Macht blieben. Wenigstens vorläufig noch. Präsident Mubarak hatte sich dazu herabgelassen, anzuordnen, daß nun Präsidentenwahlen mit mehreren Kandidaten durchgeführt werden. Aber die Polizeiorgane sorgten dafür, daß alle Kandidaten, die möglicherweise eine Siegeschance gehabt hätten, von vorneherein ausgeschaltet wurden. Oder sie mußten unter Bedingungen auftreten, die einen Sieg oder auch nur einen bedeutenden Wahlerfolg unmöglich machten.

Terrorismuskrieg gegen Demokratie

Der so genannte Krieg gegen den Terrorismus macht es für ihre Sicherheitsleute leicht, gegen alle islamistischen Gruppen einzuschreiten, ob sie nun Gewalt predigen oder nicht. Den Gewaltlosen läßt sich immer vorwerfen, sie sympathisierten mit den Gewaltwilligen. Der Islamismus ist aber heute in vielen islamischen Staaten die führende Oppositionsideologie. In manchen Staaten bildet er das Sammelbecken, in das alle Oppositionsströmungen, besonders die volkstümlichen, einmünden. Viele Beobachter glauben: wenn man den Islamisten in der Tat sechs Monate völlige Meinungsfreiheit gewährte, um für ihre Thesen zu werben, würden sie in den meisten Staaten echte Wahlen gewinnen. Je ärmer und hoffnungsloser die dortige Bevölkerung wäre, desto wahrscheinlicher wäre ihr Sieg. Die Sicherheitsdienste könnten parallel zum Wirken der Amerikaner nur warnen und einschreiten, bevor es zu derartigen wirklich freien und für die bestehenden Mächte (in den muslimischen Ländern und in Washington) möglicherweise gefährlichen Wahlen komme. Also Demokratie, wenn es uns paßt. Keine Demokratie oder bloß gefilterte, wenn wir glauben, sie könnte sich gegen unsere Vorstellungen entwickeln?

Die Machthaber können diese Situation nutzen, um sich selbst immer wieder als unentbehrlich darzustellen. Und genau dieses praktizieren sie.

*

Dieser Beitrag wurde zunächst als Vortrag gehalten in der Ringvorlesung „Der ‚neue‘ Nahe Osten?“ an der Universität Erfurt im Sommersemester 2005. Er wird im Herbst 2005 im gleichnamigen Sammelband des RhinoVerlags Weimar erscheinen. Zu beziehen über den Verlag oder die Pressestelle der Uni Erfurt.

Arnold Hottinger wurde 1926 in Basel in der Schweiz geboren. Er hat Spanisch, Arabisch und Italienisch studiert. Seine Ausbildung erhielt er in Paris, Chicago, Beirut und Kairo. Er arbeitete bis 1992 für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) und das Schweizer Radio als Korrespondent in Beirut. Hottinger kennt alle islamischen Länder und hat folgende Bücher verfaßt: „Die Mauren, Arabische Kultur in Spanien“, NZZ Verlag 1995. „Akbar der Grosse, Macht über Indien durch Versöhnung der Religionen“, NZZ Verlag 1998. „Gottesstaaten und Machtpyramiden, Demokratie in der islamischen Welt“, NZZ Verlag 2000. „Islamische Welt, Der Nahe Osten: Erfahrungen, Begegnungen, Analysen“, NZZ Verlag 2004.

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