EU-Europa versus EU-Ost

EU-Europa versus EU-Ost

Rußland und die EU sind die stärksten Akteure auf dem europäischen Kontinent des 21. Jahrhunderts. Wird die strategische Partnerschaft EU – Rußland ganz Europa zu einem „gemeinsamen Haus“ vereinen helfen oder wird der Kontinent zweigeteilt? Die Ankopplung Rußlands an das übrige Europa soll zunächst über die Energieallianz gelingen.

Von Alexander Rahr

EM – In den 15 Jahren nach dem Fall der Mauer hat sich der europäische Kontinent grundlegend verändert. West- und Mittelosteuropa bilden nun ein gemeinsames EU-Europa, welches seine Wertvorstellungen und Einfluß auf seine direkte Nachbarschaft – Osteuropa, Eurasien, Maghreb, Naher und Mittlerer Osten – ausbreiten möchte. Rußland, die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken bilden aus Sicht der EU das „erweiterte Europa“ (Wider Europe). Ob sich das Verhältnis zwischen der EU und dem „erweiterten Europa“ weiter konstruktiv oder konfrontativ gestalten wird, vermag heute niemand zu sagen. Desinteresse von Seiten der EU am Ostteil Europas, wo die Transformationsprozesse erheblich langsamer als in Mittelosteuropa vor sich gehen, sowie eine wachsende Desillusionierung der Russen und Ukrainer im Hinblick auf die EU haben den Einigungsprozeß verlangsamt.

Der folgende Artikel gründet sich auf Aussagen der Teilnehmer der trilateralen deutsch-französisch-russischen Konferenz, die mit Unterstützung der Planungsstäbe der Außenministerien der drei Länder Ende Juni 2004 in der DGAP (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.) durchgeführt wurde. Des Weiteren wird der Inhalt des Dialogs hochkarätiger russischer und westlicher Politiker beim traditionellen EU -Rußland-Forum der DGAP im Frühjahr in Berlin wiedergegeben. Konzepte, wie die vom Westen enttäuschte Ukraine in die EU-Nachbarschaftsstrategie eingebunden werden kann, sollen auf dem bevorstehenden Bergedorfer Gesprächskreis in Lwiw (Ukraine) diskutiert werden.

Die vier Gemeinsamen Räume

Die EU steht vor dem Problem, wie sie sich gegenüber dem neuen, unter Wladimir Putin wirtschaftlich erstarkten, aber autoritär regierten Rußland positionieren soll. Im Westen gibt es dazu unterschiedliche Auffassungen. Eine gemeinsame Strategie gegenüber Rußland zu begründen, wird nach der EU-Erweiterung auf die vormals kommunistischen mittelosteuropäischen Staaten schwieriger werden. Gerade in diesen Ländern gibt es starke antirussische Ressentiments.

Es gibt in Europa nicht wenige Stimmen, die zu einer Politik der Eindämmung gegenüber einem undemokratischen und für Europa wesensfremden Rußland raten. Andere – und dazu gehören Bundeskanzler Gerhard Schröder, der französische Präsident Jacques Chirac und der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi – befürworten hingegen eine konkrete strategische Partnerschaft mit Rußland, die langfristig den Osten des europäischen Kontinents stabilisieren, die eigene Energiesicherheit erhöhen und die Prosperität Europas durch eine Verbindung zum lukrativen russischen Markt steigern könnte.

Um Moskaus Wunsch nach einer Partizipation am Aufbau des künftigen Europas zu entsprechen, ohne Rußland gleich den Weg in die EU und NATO zu öffnen, haben die EU und Rußland das Modell der „Vier Gemeinsamen Räume“ (Wirtschaft, Außen- und Sicherheitspolitik, innere Sicherheit, Kultur, Information, Bildung) konzipiert. Entlang dieser Konstruktion könnte theoretisch der Weg einer strategischen Nachbarschaft bis hin zur Bildung eines „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ beschritten werden. Die Länder „dazwischen“, wie beispielsweise die Ukraine, könnten in diese Initiative eingebunden werden, sofern sie dies wünschen.

Kernstück des „gemeinsamen Wirtschaftsraums“ soll die Energieallianz werden. Nach einheitlicher Expertenmeinung wird die Nachfrage nach Öl und Gas auf dem Weltmarkt zunehmen. Rußland, so wurde auf einer vor kurzem in Washington stattgefundenen Energiekonferenz festgestellt, wird spätestens 2015 als weltgrößter Energielieferant neben Saudi-Arabien die Weltmarktpreise unmittelbar bestimmen. Dann könnte die EU eines Tages mit Asien und den USA um die Partnerschaft mit Rußland konkurrieren. In EU-Kreisen beginnt man zu verstehen, daß Rußland sich bald zu einem unersetzlichen strategischen Partner in Fragen der Energiesicherheit positionieren könnte. Die heute noch bestehenden Abhängigkeiten Rußlands vom Westen (Auslandsschulden) würden umgekehrt werden.

Nach heutigen Schätzungen werden die russischen Fördermengen, wenn sie nicht drastisch gesteigert werden, nicht ausreichen, um gleichzeitig Asien und Europa mit den notwendigen Mengen von Öl und Gas zu beliefern. Deshalb wird es von strategischer Bedeutung sein, wer vom Ausland her den erforderlichen Technologie- und Kapitaltransfer nach Rußland leistet, um den russischen Energiesektor zu modernisieren. Diese Konzerne hätten dann die besseren Karten für die Zukunft. Die benötigte Investitionssumme für die nächsten zehn Jahre beläuft sich Schätzungen zufolge auf 85 Milliarden Euro. Rußland kann sie allein nicht aufbringen.

Rußland braucht die EU als Modernisierungspartner.

Als vor 130 Jahren in Rußland die industrielle Revolution begann, strömten auch europäische Industriekonzerne und Banken, ohne Risiken zu scheuen, nach Osten, gründeten in Baku die ersten Ölfirmen und begannen, Rußland mit dem Westen über die wirtschaftliche Schiene zu verkoppeln. Trotz der Tatsache, daß die westlichen Industriellen durch die Oktoberrevolution und die folgende Verstaatlichung der gesamten Wirtschaft große Einbußen erlitten, kehrten sie bei nächster Gelegenheit nach Rußland zurück. Auch jetzt klopfen sie vehement an die noch immer nicht vollständig geöffneten Türen des russischen Marktes.

Rußland benötigt die EU vordergründig als Modernisierungspartner. Putin lockt die Europäer mit einer viel versprechenden Energieallianz und setzt geschickt auf die europäische Wirtschaft als Hauptstütze seiner Außenpolitik. Die Wirtschaft applaudiert Putins Modernisierungskurs im Innern. Sein entschiedener Kampf gegen regionalen Separatismus, Korruption, die Verringerung der russischen Auslandsschulden, der neue Steuerkodex, transparentere Privatisierungsmethoden, der Abbau staatlicher Subventionen, schließlich der Beginn der Bankreform waren konkrete Erfolge einer Politik, auf die man unter Boris Jelzin vergeblich gehofft hatte.

Putin möchte die russische Wirtschaft entlang von vier wichtigen Säulen aufrichten: Energie, Rüstung, Transport, Banken. Die Schlüsselunternehmen in diesen drei Bereichen sollen einer Kontrolle des Staates unterstellt werden. Die Personalentscheidungen und die Strukturveränderungen in diesen drei Wirtschaftszweigen sprechen eine eindeutige Sprache.

Vom Energiesektor hängt der Wiederaufstieg Rußlands zur Großmacht ab

Putin hat den Energiesektor, der 40 Prozent der staatlichen Steuereinnahmen, 55 Prozent der Exportgewinne und 20 Prozent der russischen Wirtschaft ausmacht, zum wichtigsten Bestandteil nationaler staatlicher Interessen proklamiert. Der Staat wird es nicht zulassen, daß dieser Sektor, von dem der Wiederaufstieg Rußlands zur Großmacht abhängt, von Partikularinteressen profitsüchtiger Oligarchen beherrscht oder unter die Kontrolle von ausländischen transnationalen Unternehmen gerät. Die in den neunziger Jahren privatisierten Ölkonzerne sollen nicht verstaatlicht werden, müssen sich aber in das neue Regelwerk des Kremls einfügen, ansonsten droht ihnen das Schicksal von „Jukos“, an dem gerade ein Exempel statuiert wird. Der Konzern »Jukos« hatte, anders als die anderen russischen Ölmultis, seine Exportgewinne nicht mit dem Kreml geteilt und darüber hinaus Strategien entwickelt, die den Interessen des Kremls zuwiderliefen.

Deutschland ist für Putin das Schlüsselland

Können ausländische Firmen unter solchen Voraussetzungen, wo offensichtlich ungeschriebene Gesetze existieren, auf dem russischen Energiemarkt überhaupt erfolgreich tätig werden? Putin hat gerade deutschen, französischen und britischen Investoren neue Offerten gemacht. Ausländische Firmen werden im Energiebereich als Partner benötigt, können aber selbst nicht Eigentümer russischer Energiekonzerne werden.

Deutschland ist für Putin das Schlüsselland für die Verwirklichung seines Konzepts der Energieallianz. Mit Hilfe deutscher Firmen und politischer Unterstützung des Bundeskanzlers soll demnächst ein deutschrussisch-ukrainisches Gaskonsortium entstehen; neue Riesenpipelines durch die Ostsee sollen den Gasexport aus Rußland über Deutschland in die EU steigern.

Wie sieht es mit einer militärischen Zusammenarbeit und einer Kooperation in Außen- und sicherheitspolitischen Fragen, also im zweiten „gemeinsamen Raum“, aus? Während der Irak-Krise im Frühjahr 2003 bildete Rußland, zusammen mit Deutschland und Frankreich, eine Opposition zum amerikanisch-britischen Krieg in Irak. Damit profilierte sich Rußland als Subjekt europäischer Politik bei der Gestaltung der künftigen Weltordnung. Im so genannten Quartett für die Lösung des Nahost-Problems schwenkte Rußland auf die außenpolitische Linie der EU ein. Während Deutschland und Frankreich heute mit dem Eurokorps den Frieden in Afghanistan sichern, gibt es Hinweise darauf, daß Rußland ein Militärkontingent für Friedensoperationen nach Irak entsenden könnte. Rußland hat sein Territorium für NATO-Transporte nach Afghanistan zur Verfügung gestellt. Ein künftiges Zusammenwirken im Rahmen sowohl der NATO als auch der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erscheint realistisch. Zum ersten Mal in 100 Jahren gibt es zwischen Europa und Rußland keine erkennbaren Gegensätze in Bezug auf die Architektur der künftigen Weltordnung.

Enge Kooperation ist im „gemeinsamen Raum für innere Sicherheit“ zu verzeichnen. Im Kreml ist für diesen Bereich einer der einflussreichsten Politiker, FSB-General Wiktor Iwanow, abgestellt worden. Falls auf diesem Gebiet wesentliche Fortschritte erzielt werden, könnte sich Putins Wunsch nach einer Abschaffung des Visumsregimes zwischen der EU und Rußland realisieren lassen. Unterschiedliche Auffassungen gibt es zwischen der EU und Rußland hinsichtlich der Frage der russischen Minderheiten in den Baltischen Ländern und Tschetschenien. Rußland fordert von der EU eine strikte Einhaltung des Minderheitenschutzes für ethnische Russen; der Sonderbevollmächtigte für EU-Fragen, Sergej Jastrschembskij, beschwerte sich auf einer Expertenveranstaltung der Körber-Stiftung Anfang Juli in Berlin darüber, daß Russen in Lettland und Estland noch immer den Status von Nicht-Staatsbürgern hätten, der mit EU-Normen nicht vereinbar wäre. Von europäischer Seite werden Rußland weiterhin schwere Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien vorgehalten.

Konkurrenz um das „nahe Ausland“

Die konstruktiven Beziehungen zwischen der EU und Rußland sind in letzter Zeit getrübt worden. Im postsowjetischen Raum bahnen sich ernsthafte Konflikte zwischen Rußland auf der einen und der EU und Amerika auf der anderen Seite an. Misstrauisch beobachtet Moskau die neue Nachbarschaftsstrategie der EU Richtung Osten, in der in Bezug auf Länder wie Ukraine, Belarus, Moldawien, Georgien von einem neuen „nahen Ausland“ der EU gesprochen wird. Bislang betrachtete Moskau diese Länder als sein exklusives „nahes Ausland“.

Rußland und die EU sind offensichtlich nicht bereit, die westlichen GUS-Länder als einen „gemeinsamen Nachbarschaftsraum“ zu begreifen. Friedensoperationen der EU auf dem Balkan mit möglicher Ausweitung auf Moldawien (Transnistrien) und den Kaukasus (Abchasien, Süd-Ossetien, Berg-Karabach) werden in Moskau verworfen. Die EU kritisiert, daß russische Friedensmissionen auf postsowjetischem Territorium ausschließlich dem Einflusserhalt Rußlands dienten. Für künftige Planungen beansprucht jede Seite jeweils die Führung solcher Friedensmissionen.

Die Zukunft und die Folgen des historischen Prozesses der EU- und NATO-Osterweiterung sind also schwer abschätzbar. Begann am 1. Mai 2004 die Ära eines geeinten Großeuropas oder provoziert die Ausdehnung des Westens in den Osten Europas hinein eine neue Spaltung des europäischen Kontinents? Werden die russischen Eliten, wenn sie ihre traditionellen Großmachtträume ablegen werden, eine Wiedervereinigung mit dem historischen Europa suchen, wie es die Polen und andere Mittelosteuropäer getan haben? Dann könnte in der Tat der vierte „gemeinsame Raum für Kultur, Bildung, Information“ ein festes Fundament bekommen. Oder wird Rußland auf postsowjetischem Territorium ein antiwestliches Bündnis schmieden wollen und die EU zur Distanzierung provozieren?

Die Wiedererlangung des Großmachtstatus bleibt oberste Priorität russischer Politik

Rußland möchte vor allem ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der künftigen Architektur Europas erhalten, das seiner Größe und Bedeutung entspricht. Eine EU-Dominanz über den Kontinent lehnt Rußland ab. Gleichzeitig wehrt sich Rußland gegen westliche Einmischung im postsowjetischen Raum, den Moskau weiterhin als Region eigener nationaler Interessen betrachtet. Rußland würde mit der EU gern einen gemeinsamen Wirtschaftsraum bilden, bis hin zur Verschmelzung des rohstoffreichen Raums Sibiriens mit dem technologisch hochentwickelten Potential Europas (Putin-Rede im Bundestag 2001). Keinesfalls möchte Rußland jedoch Abstriche an seiner staatlichen Souveränität sehen; die Wiederaufrichtung Rußlands zur Großmacht bleibt oberste Priorität russischer Politik.

Westliche Kritik an seinem nicht-liberalen Wertesystem lehnt Rußland auch heute kategorisch ab. In der Elite und Gesellschaft hat sich ein Konsens herausgebildet, daß Liberalismus und Demokratie hinten anzustellen sind, bis Rußland sich innerlich und äußerlich wieder gefestigt hätte (Richard Pipes). Für Putin gibt es keinen Grund, diesen »Gesellschaftskontrakt« zu kippen. Rußland offeriert der EU eine Interessen- statt Wertegemeinschaft, Wirtschaftspragmatismus statt Zivildialog, eine Modernisierungs- statt Demokratiepartnerschaft.

Das zeigt, daß Rußland und die EU unterschiedliche Vorstellungen vom künftigen Europa besitzen. Für die Westeuropäer ist das moderne Europa vor allem ein „System universaler Werte.“ Für Rußland war und bleibt Europa ein geographischer Begriff. Diese verschiedenen Perzeptionen von Europa sind nicht neu, der Streit ist mindestens 150 Jahre alt. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts erachteten Preußen, Österreich, Großbritannien, Frankreich, Spanien das riesige Russische Reich im Osten des Kontinents als etwas Fremdes und Bedrohliches. Die westliche Presse berichtete, wie heute, äußerst kritisch über Rußland.

Rußland hatte damals wie heute ein ambivalentes Bild vom Westen. Einerseits wollte das Land vom technologisch weiterentwickelten Westen lernen, westlichen Wissenschaftlern nacheifern, westlichen Lebensstil genießen, anderseits sahen sich die Russen gegenüber den Europäern als geistig überlegen (Idee vom „Dritten Rom“) und lehnten die vom Westen proklamierten „universalen Werte“ für ihre Gesellschaft als Fremdkultur ab (siehe N. Ja. Danilewskij, „Rußland und Europa“, Sankt Petersburg 1871). Was das heutige Europa-Verständnis der Russen angeht, so sollte niemand sich der Illusion hingeben, daß dort eine Generation weltoffener, den westlichen Werten verpflichteter russischer Führungspersönlichkeiten heranwächst. Mit dem großen Geld, mit dem Aufstieg russischer Unternehmer in die Hitlisten der Reichsten dieser Welt gewinnt ein russisch-isolationistisches Weltbild an Einfluss. Russische Werte werden zunehmend als etwas Eigenständiges und nicht kompatibel mit den Traditionen der westlichen Welt aufgefasst. Die Annäherung an den Westen geschieht aus russischer Sicht nur deshalb, um das Imperium zu stärken. Eine Integration ist unerwünscht (Die Welt). Die heutigen Russen wollen materiell wie im Westen leben, favorisieren aber kein westliches liberales Modell für ihr eigenes Land (Andrej Fedorow).

Moskau hat das neue politische Gewicht der erweiterten EU unterschätzt

In vielen anderen Fragen im Verhältnis Rußland – EU zeigt sich die russische Seite in letzter Seit verschnupft. Moskau hat das neue politische Gewicht der erweiterten EU unterschätzt und reagierte völlig überrascht, als die EU anfing, in den Verhandlungen mit Rußland eine früher nicht gekannte politische Hartnäckigkeit an den Tag zu legen. Die EU führte Visen für russische Transitreisende von und nach Kaliningrad ein, erließ Exporteinschränkungen für russische Güter in die neuen mittelosteuropäischen Mitgliedsländer der EU und reagierte auf den angebotenen Energiedialog mit eigenen Forderungen an Rußland, die staatlichen Energiemonopole zu dezentralisieren. Entrüstet zeigte sich die russische Seite über zwei Strategiepapiere der EU vom Februar 2004, in denen Rußland für seine Abkehr von demokratischen Prinzipien scharf kritisiert wurde.

Putins Unbehagen gegenüber der EU steigt. Aus seiner Sicht hat die EU viele seiner Vorschläge zur Kooperation abgelehnt. In seiner viel beachteten Rede vor den russischen Diplomaten erwähnte er die EU als Partner mit keinem Wort, stellte aber Deutschland, Frankreich und Italien als die einzigen europäischen Länder heraus, die an einer echten Freundschaft mit seinem Land interessiert seien. Laut Putin will der Westen ein starkes Rußland sogar verhindern und würde deshalb Kampagnen organisieren, die das Ziel hätten, Rußlands Image zu beschädigen. Heftig kritisierte der Kremlchef „ausländische Kräfte“, die ihn daran zu hindern suchten, sich mit den ehemaligen Sowjetrepubliken wieder zu vereinigen. Der einstige Pragmatismus, der Putins Außenpolitik gekennzeichnet hatte, scheint einem emotionalen Freund-Feind-Denken gewichen zu sein.

Die zweite Amtszeit Putins verdeutlicht eine andere außenpolitische Ausrichtung. Der Fokus der Diplomatie liegt jetzt auf der GUS. Offensichtlich glaubt Putin, daß er vom Westen nicht mehr Entgegenkommen erwarten konnte als grünes Licht zum Beitritt zur WTO und die Festigung der Mitgliedschaft in der G-8. Den erhofften Freibrief für den Wiederaufbau der verlorenen Einflusssphäre im ehemaligen sowjetischen Raum wird er nicht erhalten.

Liebäugeln mit einer EU-Ost

Rußland hat ambitionierte Pläne, die weit über eine Modernisierungspartnerschaft mit der EU hinausgehen. Moskau will schnellstmöglich wieder eine Großmachtrolle in der Weltpolitik spielen und glaubt dies, angesichts der günstigen Ausgangslage auf dem Energieweltmarkt, verwirklichen zu können. Saudi-Arabien hat bekanntlich mehr Ölreserven als Rußland, ist aber nicht die zweitgrößte Atommacht der Welt. Zur Großmachtwerdung benötigt Rußland ein Bündnis mit den ehemaligen Sowjetrepubliken, die allerdings in der Vergangenheit keine Anstalten unternommen hatten, der russischen Hemisphäre wieder beizutreten. Putin wird versuchen, die Auszeit, die sich die EU in Bezug auf weitere Erweiterungspläne gegeben hat, zu nutzen, um eine eigene „EU-Ost“ zu kreieren.

Da Putin eine Wiedervereinigung mit Weißrussland in seiner ersten Amtszeit nicht gelang, richtet der Kremlchef in seiner zweiten Amtszeit seine Integrationsstrategie auf die Ukraine. Die Ukraine ist immer der wichtigste Baustein im künftigen russischen Integrationsmodell gewesen. Präsident Leonid Kutschma wurde, wenige Monate vor Beendigung seiner Präsidentschaft, zum Beitritt in den Einheitlichen Wirtschaftsraum Rußland – Ukraine – Kasachstan – Weißrussland und zur Absage an das Ziel einer Mitgliedschaft in der EU und NATO gedrängt. Eine strategische Pipeline, die zunächst kaspisches Öl unter Umgehung Rußlands nach Westen transportieren sollte, wurde kurzerhand umgepolt und soll jetzt russisches Öl ans Mittelmeer pumpen. Die Ukraine, die sich zuvor immer für eine Diversifizierung russischer Energielieferungen ausgesprochen hatte, half mit dieser Maßnahme, das russische Transportmonopol zu festigen. Die Ukraine ist desillusioniert. Sie hatte auf eine Beitrittsperspektive zur EU und NATO gehofft. Stattdessen wurde sie mit der billigeren Variante einer vagen Nachbarschaftsstrategie abgespeist. Kutschmas dramatischer Schwenk in Richtung Moskau ist eine Art Rache an der EU und der NATO für die Vernachlässigung seines Landes.

Gas-OPEC mit Kasachstan und Turkmenistan

Zwei weitere Bausteine bilden schon das Fundament dessen, was sich der Kremlchef als Integrationsmodell für die Zukunft vorstellt: eine Kernenergieallianz Rußlands mit den beiden anderen wichtigsten Öl- und Gasproduzenten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion, Kasachstan und Turkmenistan. Ein strategischer Zusammenschluss dieser Staaten würde in der Tat eine Art Gas-OPEC entstehen lassen, mit der die Industrieländer Europas und Asiens sich in jedem Falle gut stellen müßten.

Aus heutiger Sicht ist Putins „EU-Ost“ allerdings zum Scheitern verurteilt. Noch hegen fast alle GUS-Länder, mit Ausnahme von Belarus, insgeheim die Hoffnung, in nicht allzu ferner Zukunft doch noch Mitglieder von EU und NATO werden zu können. Aber auch Weißrussland wird, so die gemäßigte Politikerin und mögliche Präsidentschaftsanwärterin Natalija Mascherowa, die weder dem Lukaschenko-Lager noch der radikalen Opposition in Minsk angehört, seine Souveränität nicht mehr zugunsten einer Rückkehr nach Rußland verlieren. Die Politik des neuen georgischen Staatschefs Michail Saakaschwili ist darauf gerichtet, Georgien so schnell wie möglich aus der GUS zu lösen und in westliche Strukturen zu verankern. Auch wenn sich Länder wie die Ukraine zeitweise an Moskau orientieren, weil die Türen nach Westen für sie verschlossen bleiben: den Blick nach Brüssel werden sie niemals aufgeben.

Die EU und Rußland befinden sich heute in einem Konsolidierungs- und Identifikationsprozess. Die EU wird sich voraussichtlich innerhalb des nächsten Jahrzehnts auf den Balkan ausdehnen; Rußland wird versuchen, die ehemaligen Sowjetrepubliken in einen „Einheitlichen Wirtschaftsraum“ und ein „Kollektives Verteidigungsbündnis“ zu integrieren. Im Streit über „universelle Werte“ fühlt sich Rußland zunehmend aus dem europäischen Kulturraum nach Asien abgedrängt (Michail Deljagin). Doch tatsächlich streiten sich die EU und Rußland auch schon – was viel gefährlicher ist – wieder über Einflußsphären auf dem europäischen Kontinent. Probleme, die längst unter den Trümmern des Kalten Krieges begraben schienen, kommen plötzlich wieder ans Tageslicht.

Erinnerungen an vergangene Zeiten werden wach. Ist die Hinwendung zu Europa für Rußland immer nur Mittel zum Zweck gewesen? Der spätere Kanzler Peter I., Ostermann, hatte einmal verkündet: „Wir brauchen Europa auf einige Jahrzehnte, dann aber müßten wir ihm den Hintern kehren“ (A. W. Just, „Rußland in Europa“, Stuttgart 1949, S. 221). Dem widersprach Putin noch, als er beim letzten deutsch-russichen Gipfel in Moskau laut davon träumte, daß Russen und Deutsche einmal eine gemeinsame Hauptstadt – Brüssel – besitzen könnten. Für Putin könnte das Projekt EU-Ost auch die Vorstufe für eine gemeinsame Integration Rußlands und der ehemaligen Sowjetrepubliken mit dem EU-Europa werden.

Kann Rußland tatsächlich wieder Großmacht werden?

Eine der spannendsten Fragen des 21. Jahrhunderts lautet: Kann Rußland tatsächlich wieder Großmacht werden, mit Ländern wie China, Indien, mit der EU um diese Rolle konkurrieren? Für die EU ist diese Frage nicht abwegig, sie wird sich überlegen müssen, wie sie das neue Potential Rußlands zu ihren Gunsten nutzen kann. Die EU wird ihre Energiebezüge, ob sie will oder nicht, in den kommenden Jahren aus Rußland verdoppeln müssen. Die Steigerung des Gefahrenpotentials von Seiten des islamischen Extremismus für die gesamte westliche und eurasische Zivilisation wird eine Sicherheitspartnerschaft mit Rußland, so wie nach den Anschlägen vom 11. September 2001 konzipiert, unabdingbar machen.

Die Frage, wie sich das Verhältnis eines künftigen EU-Europas zum riesigen Nicht-EU-Europa-Staat Rußland entwickeln soll, muß zur Priorität einer außen- und sicherheitspolitischen strategischen Planung des neuen Auswärtigen Dienstes der EU werden. Wahrscheinlich ist die Frage einfach zu beantworten: eine demokratische Großmacht Rußland, die ihr neu erworbenes Potenzial zur Verbesserung des Lebensstandards ihrer riesigen Bevölkerung nutzt, ist keine Gefahr für den Westen, sondern in der Tat ein Stabilitätsgarant. Gespannt beobachtet der Westen, wie Putin derzeit sein kommunal-soziales Reformprogramm durchführt. Ein undemokratisches Groß-Rußland, das seinen angehäuften Reichtum in Rüstungsprogramme steckt und in dem eine übermächtige Staatsgewalt, wie im Falle „Jukos“, wieder die Keule schwingt, versetzt Europa in Angst und Schrecken.

*

Der Autor ist Programmdirektor der Körber-Arbeitsstelle Rußland/GUS und Koordinator des EU-Rußland-Forums (in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission). Im Jahr 2000 veröffentlichte er unter dem Titel „Wladimir Putin. Der Deutsche im Kreml“ eine Biographie des russischen Präsidenten. Der Artikel erschien zuerst im GUS-Barometer der DGAP (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.), September 2004, Nr. 36.

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