09.08.2023 13:11:56
STRATEGIEDEBATTE
Von Nico Lange
n seinem Beitrag zur Strategiedebatte weist Wolf Oschlies die Diskutanten darauf hin, daß es vor allem die russische Sichtweise zu beachten gelte, wolle man das Verhältnis zwischen Rußland und der EU sinnvoll erörtern. Illustrierend präsentiert er ein Potpourri aus Umfragen, Einzelmeinungen und Kommentaren. Die Relevanz dieser empirischen Sprengsel erschließt sich jedoch nicht.
Traditionell nimmt staatliche Außenpolitik – und das gilt ganz besonders für Rußland – nur wenig Rücksicht auf die öffentliche Meinung. Man kann davon ausgehen, daß auch zukünftig außenpolitische Richtungsentscheidungen von der russischen Regierung getroffen werden, unabhängig davon ob sie in der Bevölkerung mehrheitsfähig sind. Es wird daher vor allem auf die Wahrnehmung der EU durch einige wenige Funktionseliten ankommen, nicht auf die Meinung der Bevölkerung. Aber auch das Selbstverständnis dieses Establishments spielt eine nicht unerhebliche Rolle.
Betrachtet man das internationale Auftreten der russischen Führungsschicht – beispielsweise die Verweigerung von Gesprächen mit der Brüsseler Bürokratie und die Geringschätzigkeit gegenüber ‚kleineren’ EU-Mitgliedstaaten – so kann man sich der Auffassung von Alexander Rahr nur anschließen, daß Rußland seinen weltpolitischen Standpunkt überschätzt. Mit einem Selbstbild, das durch Beharren auf dem Großmachtstatus der Sowjetzeit geprägt ist, und einem Weltbild, das vor allem auf den simplen Grundsätzen der realistischen Schule und alten Weisheiten der Geopolitik beruht, ist die EU aus der Sicht der Gestalter der russischen Außenpolitik bestenfalls ein Instrument in den Händen der mächtigsten Mitgliedstaaten zur Durchsetzung ihrer Interessen. Eine außenpolitische Relevanz Brüssels oder gar eine europäische weltpolitische Handlungsfähigkeit scheinen für sie vollkommen unplausibel. Folglich ziehen sie bilaterale Beziehungen mit den als mächtig erachteten europäischen Staaten in jedem Fall den Kontakten auf EU-Ebene vor. Die derzeitigen Probleme der EU sind für russische Außenpolitiker nur die Bestätigung dessen, was man ohnehin schon immer zu wissen meinte.
Das russische Selbstverständnis als Großmacht schlägt sich auch in den außenpolitischen Konzepten der Putin-Regierung nieder, vor allem in der Idee einer „multivektoralen“ Politik zur Konstruktion einer multipolaren Weltordnung. Kai Ehlers zeigt sich als Anhänger dieser Vorstellungen. Sein „eurasischer Integrationsknoten“ beschreibt Rußland als einen der künftigen Pole. Zwischen Ambitionen und Fähigkeiten klafft hier jedoch ein tiefer Hiatus. Nicht nur daß man kürzlich den Verlust von Einfluß in Georgien, der Ukraine und Usbekistan hinnehmen mußte, auch die innerstaatlichen Zentrifugalkräfte durch nach Autonomie strebende Regionaleliten sind keineswegs dauerhaft gebannt. Dazu kommt, daß der derzeitige wirtschaftliche Aufschwung zu großen Teilen auf dem Verkauf von Rohstoffen beruht. Die enormen Gewinne werden überkommene Strukturen wohl eher weiter stützen, als daß sie die dringend notwendigen innenpolitischen Reformen forcieren.
Schon die bloße Selbstbehauptung Rußlands gegenüber innenpolitischem Reformdruck, regionalen Autonomiebestrebungen, chinesischen Regionalinteressen, Aktivitäten der USA zur Unterstützung der Unabhängigkeit von GUS-Staaten im Umkreis, Avancen durch die NATO und den Einbindungsversuchen von Seiten der EU scheint ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen zu sein. Von einer künftigen Attraktivität Rußlands als eigenständigem „Integrationsknoten“ kann daher keine Rede sein.
Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit sind uns freilich auch aus der EU nicht unbekannt. Oschlies hat recht, wenn er konstatiert, daß die Europäische Union dieser Tage – nicht nur in russischen Augen – ein desolates Bild abgibt. Unrecht hat er jedoch, wenn er Anatolij Cyganok bemüht, um uns zu vermitteln, daß keines der Szenarien, die einen Ausweg aus der Verfassungskrise darstellen könnten, signifikante Auswirkungen auf Rußland hätte. Die nicht unwahrscheinliche Variante der baldigen Fortsetzung des Integrationsprojekts als differenzierte Integration mit einem Kerneuropa aus Frankreich und Deutschland könnte eine sehr enge wirtschaftliche und politische Einbindung der Russischen Föderation einschließen. Aus der Sicht Frankreichs wäre die Bindung Rußlands an Europa ein Schritt in Richtung der auch in Paris favorisierten Multipolarität, für Deutschland sprechen vor allem wirtschaftliche Gründe dafür. Wie würde Moskau sich in diesem Fall verhalten? Es ist anzunehmen, dass die oft beschriebenen Selbstfindungsprozesse Rußlands auf diese Weise einen Impuls in Richtung Europa erhalten könnten. Zumindest wäre es für den Kreml zunehmend schwieriger, sich permanent alle außenpolitischen Optionen offen zu halten, sollten Paris und Berlin außen- und sicherheitspolitisch deutlich auf Moskau zugehen.
Die Grundsatzfragen werden nicht diskutiert
Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Rußland werden immer wieder in den Mittelpunkt von Analysen gestellt. Und zwar sowohl in der Strategiedebatte des Eurasischen Magazins – zuletzt von Oleg Zinkovski – als auch in anderen Publikationen. Die Zukunft der europäisch-russischen Beziehungen auf ökonomische Aspekte zu reduzieren, ist jedoch zu kurz gegriffen. Wenn man die Symbolik der „Männerfreundschaften“, die Rede von einer „Schicksalsgemeinschaft“ zwischen Europa und Rußland und die Forderungen nach „neuem Selbstbewußtsein“ bzw. einem „angemessenen Platz auf der Weltbühne“ betrachtet, so geht es offensichtlich doch um weit mehr.
Vor diesem Hintergrund ist es sehr bedauerlich, daß in Deutschland und in Europa momentan weder öffentliche Debatten über die Zukunft Europas noch über das künftige Verhältnis zwischen Rußland und der EU geführt werden. Gar nicht zu reden von Auseinandersetzungen über eine Kombination beider Problemfelder. Die deutsche Außenpolitik ist seit Monaten durch Wahlkampf und Ämterverteilung gelähmt, Europas Handlungsfähigkeit ist infolge negativer Referendumsergebnisse minimal. Das hilflose „Klein-Klein“ des letzten EU-Rußland-Gipfels, auf dem langfristige Ziele überhaupt nicht thematisiert wurden, und auch der gerade verstrichene EU-Gipfel bestätigen dies eindrücklich. Wohlwollend könnte man hier bestenfalls noch von „inkrementeller Politik“ sprechen. Wohl kaum jemand wird jedoch davon überzeugt sein, daß in Fragen der künftigen sicherheitspolischen Gestaltung Europas und der Entwicklung einer europäischen Außenpolitik entscheidende Schritte nach vorne gemacht werden können, wenn man weiterhin versucht Grundsatzfragen zu umgehen. Dieses Durchwursteln kann keinen Erfolg haben.
Das Hauptproblem in den bislang vorgetragenen Überlegungen über einen Beitritt Rußlands zur Europäischen Union besteht aus meiner Sicht darin, daß die so entstehende Gemeinschaft vorrangig als Gegenmachtbildung zu den USA definiert wird. Die „Achse Paris-Berlin-Moskau“ und andere Schlagwörter, aber auch die Formulierungen von Rahr, daß Rußland letztlich zum Zusammengehen mit der EU „gezwungen sein“ wird, machen dies deutlich. Mit Blick auf die derzeit rückläufigen Demokratisierungsprozesse in Rußland und die sicherheitspolitischen Herausforderungen, vor allem in Zentralasien, sollte man jedoch darüber nachsinnen, ob sich nicht doch eine positive Definition einer europäisch-russischen Union finden ließe. Es müßte ein Leitbild entstehen für gemeinsame außenpolitische Zukunftskonzepte von Brüssel und Moskau, das weit über das Behelfskonstrukt einer „strategischen Partnerschaft“ hinausgeht. Ein bißchen Utopie und Glaubensbekenntnis können außenpolitische Entwürfe schon vertragen.
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Nico Lange ist Politikwissenschaftler und seit 2004 Gastdozent an der Fakultät für Internationale Beziehungen der Staatlichen Universität St. Petersburg.
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