Ein neues Great Game um Zentralasien?GEOPOLITIK

Ein neues Great Game um Zentralasien?

Im frühen 20. Jahrhundert prägten Rudyard Kipling und Halford Mackinder den Begriff „Great Game“ für die britisch-russische Konkurrenz um Zentralasien. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehrt sich die Zahl derjenigen, die von einem neuen Great Game sprechen. Durch die US-amerikanische Intervention in Afghanistan, den Konflikt um Irans Atomprogramm, Russlands militärisches Vorgehen gegen Georgien und den Run auf die zentralasiatischen Erdgas- und Erdölvorkommen wird diese These gestützt.

Von Sören Scholvin

Z wei Faktoren erklären die Instabilität Zentralasiens: Erstens sind die Staaten der Region autoritär, korrupt und von einer boomenden Schattenökonomie geprägt. Zweitens konkurrieren dort verschiedene externe Mächte um Einfluss. Hieraus ergeben sich Spannungen, die enormes Konfliktpotenzial bergen.

Zentralasien als machtpolitisches Vakuum

Bis zum Rückzug der Roten Armee aus Afghanistan und zum Ende der Sowjetunion gehörte Zentralasien zum sowjetischen Machtbereich. Anfang der 1990er Jahre entstand dann ein Machtvakuum, in das mehrere globale und regionale Großmächte vorstießen. Insbesondere die EU und die USA streben als regionsferne Akteure nach mehr Einfluss. Mit China, Indien, Iran, Pakistan, Russland, Saudi-Arabien und der Türkei treten regionsnahe Staaten auf, von denen mindestens zwei weltpolitische Ambitionen verfolgen und dafür auf Zentralasien angewiesen sind.

Bereits im frühen 20. Jahrhundert hatte der britische Geopolitiker Halford Mackinder Zentralasiens herausragende geostrategische Bedeutung erkannt. Er argumentierte aus Sicht des britischen Weltreichs, dass die Herrschaft über die eurasische Landmasse die Herrschaft über die ganze Welt ermögliche. Im Kontext der Blockkonfrontation attestierte der US-amerikanische Politologe Nicholas Spykman diesem Raum entscheidende Bedeutung. Dort werde der Konflikt zwischen der Sowjetunion und den USA entschieden.

Der „eurasische Balkan“

Zbigniew Brzezinski, einst Sicherheitsberater von Jimmy Carter und gegenwärtig außenpolitischer Ratgeber Barack Obamas, argumentiert, der Zerfall der Sowjetunion habe in Zentralasien ein geopolitisches Machtvakuum entstehen lassen. Brzezinski (1997: 123-125) bezeichnet Afghanistan, die fünf postsowjetischen Republiken, Iran, den Kaukasus und den Osten der Türkei als „eurasischen Balkan“. Dort träten ähnliche Sicherheitsprobleme (ethnisierte Konflikte, Staatszerfall, Expansionsbestrebungen von Welt- und Großmächten) wie auf dem europäischen Balkan zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Darüber hinaus stelle der „eurasische Balkan“ wegen seines Ressourcenreichtums den Schauplatz globaler Machtkämpfe dar, so wie der Kampf um die Vorherrschaft in Europa einst auf dem europäischen Balkan ausgefochten worden sei.

Um die geopolitische Bedeutung der Instabilität Zentralasiens zu erfassen, ist das „Shatterbelt“-Konzept des US-amerikanischen Geographen Saul Cohen hilfreich. Cohen (1963: 84-85; 1991: 567-568) definiert solche Regionen als Shatterbelt, die von innen heraus instabil und von außen durch Versuche mehrerer externer Mächte, Kontrolle über die Region zu erlangen, gekennzeichnet sind. Einige Staaten des Shatterbelt schlössen Bündnisse mit den konkurrierenden externen Mächten. Folglich würden deren Interessengegensätze in die Region hineinprojiziert und erhöhten die Wahrscheinlichkeit von Konflikten.

Tatsächlich treten zahlreiche sicherheits- und wirtschaftspolitisch höchst beunruhigende Entwicklungen in Zentralasien auf: Der Ressourcenreichtum könnte zu bewaffneten innerstaatlichen Konflikten führen und zu einem „Ressourcenfluch“ werden. Die Übergänge zwischen politisch motivierter Gewalt, Gewaltökonomie und Kriminalität sind fließend. Einigen führenden Politikern werden Verbindungen zum Drogenhandel sowie Korruption bei der Vergabe von Fördergenehmigungen für Erdgas und Erdöl nachgesagt. Parlamentssitze sollen teilweise mit Geld aus Drogengeschäften erkauft werden. Demokratische und wirtschaftliche Entwicklungsperspektiven sowie sicherheitspolitische Stabilität werden auf diese Weise unterminiert. So finden sich beim Freedom House Index alle zentralasiatischen Länder – mit Ausnahme Afghanistans und Kirgisistans, die am unteren Rand der „teilweise freien“ Staaten rangieren – in der Gruppe der „nicht freien“ Staaten. Turkmenistan und Usbekistan gehören sogar zur niedrigsten Unterkategorie und befinden sich hinsichtlich politischer Freiheit und bürgerlicher Rechte auf einem Niveau mit Myanmar, Nordkorea und Somalia. Beim Korruptionsranking von Transparency International finden sich die Staaten der Region ebenfalls weit am unteren Ende.

Die Verschiebung eines Teils des afghanischen Drogenhandels von den Transitländern Iran und Pakistan nach Zentralasien birgt darüber hinaus die Gefahr, dass dort ähnlich wie in Afghanistan Gewaltökonomien entstehen. Bereits jetzt bilden ethnische und religiöse Gegensätze, autoritäre Regime, starke Lokalherrscher und periphere Bergregionen, die militärisch kaum zu kontrollieren sind, nahezu modellhafte Voraussetzungen für Staatszerfall. In Afghanistan selbst besteht kaum Aussicht auf Stabilisierung.

Die Interessen des Westens

Wie Cohens Überlegungen nahe legen, sind nicht nur regionsinterne Faktoren, sondern auch die Konkurrenz externer Mächte ursächlich für Zentralasiens Instabilität. Die Ressourcen dieser Region sind für die EU und die USA von Bedeutung. Rein quantitativ sind die zentralasiatischen Erdgas- und Erdölvorkommen zwar wenig beeindruckend: Kasachstan verfügt über 1,1 Prozent Turkmenistan über 1,5 Prozent und Usbekistan über 1,0 Prozent der prosperierten Erdgasvorkommen. Ähnliche Werte werden beim Erdöl erreicht. Allerdings steht das zentralasiatische Öl nicht unter der Kontrolle der OPEC und besitzt daher hohen strategischen Wert im Hinblick darauf, die Preisregulierungsmöglichkeiten der OPEC einzuschränken. Durch das zentralasiatische Erdgas hoffen die Staaten der EU, von russischen Lieferungen unabhängig zu werden. Sie importieren zurzeit gut 60 Prozent ihres Bedarfs. Im Jahre 2030 wird dieser Wert auf etwa 80 Prozent angestiegen sein. Drei Fünftel davon werden aus Russland stammen.

Der Transport aus Zentralasien nach Europa und Nordamerika muss problematischerweise immer über andere Staaten erfolgen. Aus machtpolitischen Gründen scheiden für den Westen Iran und Russland hierbei aus. Afghanistan und Pakistan sind gegenwärtig zu instabil – Pipelines in diesen Ländern wären ein ideales Ziel für islamistische Terroristen. Bleibt der schmale Korridor über den Südkaukasus und die Türkei. Das Pipelineprojekt Nabucco von Österreich bis in die Türkei könnte den ersten Schritt für eine von Russland unabhängige Anbindung der zentralasiatischen Gasvorkommen an Europa darstellen. Neben dem Pipelinebau im instabilen Südkaukasus und dem Transport durch das nutzungsrechtlich umstrittene kaspische Meer müsste aber der transatlantische Streit um Irans Rolle in einem derartigen Pipelinenetz beigelegt werden. Während die USA auf die Isolation des Teheraner Regimes drängen, mehren sich in der EU die Stimmen derjenigen, die Interesse an Irans umfangreichen Ergasressourcen bekunden.

Für die USA ist Zentralasien zudem sicherheitspolitisch bedeutsam. Armut, Autoritarismus, Drogenhandel, Terrorismus – um diese in enger Verbindung miteinander stehenden Herausforderungen zu bewältigen, bedarf es aus ihrer Sicht der Förderung von Demokratie und prosperierender Marktwirtschaft. Bereits unmittelbar nach der Unabhängigkeit der fünf ehemaligen Sowjetrepubliken hatten die USA politische und wirtschaftliche Kooperationsprogramme lanciert, deren Ziele Demokratisierung und die Stärkung der Marktwirtschaft waren. Gleichzeitig begann eine militärische Kooperation, die mit dem Paradigma der Demokratisierung verbunden wurde. Im Rahmen des Programms Partnership for Peace der NATO wurden seit 1993 Militärs zu Schulungen nach Europa eingeladen. Ihnen sollte das westlich-demokratische Verständnis des Verhältnisses von Militär und Zivilgesellschaft vermittelt werden.

US-Militärbasen werden gekündigt

Nach dem 11. September 2001 wurde Zentralasien zu einem wichtigen Kampfgebiet im Krieg gegen den Terrorismus. Die postsowjetischen Republiken boten den USA ihre Militärbasen und Lufträume zur Nutzung an und erhielten hierfür umfangreiche Finanzhilfen. Militärisch sind die USA zurzeit in Afghanistan mit 18.000 Soldaten außerhalb der ISAF-Verbände präsent. Usbekistan wird von den US-Streitkräften nach deren Ausweisung 2005 mittlerweile in Zusammenarbeit mit der deutschen Luftwaffe erneut als Drehscheibe genutzt. In Kirgisistan verfügt das US-Militär über die Manas Air Base mit rund 1.000 Mann Bodenpersonal. (Inzwischen wurde die Schließung der US-Basis von Kirgistan beschlossen. Red. EM).

Die USA haben jedoch nicht prinzipiell auf militärische Präsenz gesetzt. Sie sind auch bemüht, das Wohlwollen der zentralasiatischen Staaten zu erlangen, um bei Bedarf deren Militärbasen nutzen zu können. Durch das Planspiel Regional Cooperation 2007, bei dem Militärs und Zivilpersonal aus Afghanistan, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Tadschikistan und den USA die Reaktion auf eine simulierte Katastrophe gemeinsam probten, haben sich die Kooperationsbeziehungen gefestigt.

Darüber hinaus gilt die Demokratisierung der Welt und hierbei vor allem der Regionen, aus denen heraus islamistische Terroristen operieren, als sicherheitspolitischer Handlungsimperativ. Folglich liegt es, so zumindest das Primat der scheidenden Regierung Bush, im entscheidenden Interesse der USA, die Demokratisierung Zentralasiens zu fördern. In Extremfällen wie Afghanistan unter den Taliban werden militärische Mittel hierfür als gerechtfertigt angesehen. Obamas Wahlkampfankündigung, Truppen aus dem Irak abzuziehen, um das US-amerikanische Afghanistan-Kontingent aufzustocken, deutet an, dass die kommende US-Regierung Zentralasien noch mehr Bedeutung zuschreibt.

China und Russland als antiwestlicher Block?

Aus Russlands Sicht zählt Zentralasien zu seinem Einflussbereich. Wladimir Putin bezeichnet die Region als „nahes Ausland“ von „wesentlichem nationalen Interesse“. Im Rahmen so genannter Terrorismusbekämpfung waren russische Truppen bis 1999 an der chinesisch-kirgisischen und bis 2005 an der afghanisch-tadschikischen Grenze stationiert. Darüber hinaus arbeitet Russland mit Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan und Weißrussland in der Collective Security Treaty Organization (CSTO) zusammen. Der russisch dominierte Commonwealth of Independent States (CIS) verfügt seit 2001 über ein Antiterrorismuszentrum in Bishkek und eine gemeinsame Schnelle Eingreiftruppe. Auch die CSTO führt gemeinsame Manöver zur Terrorismusbekämpfung durch. Russland ist weiterhin der entscheidende Lieferant für Rüstungsgüter und verfügt über Militärbasen und Truppen in Zentralasien. Über die Eurasian Economic Community (EURASEC) werden Zollsenkungen angestrebt und nichttarifäre Handelshemmnisse abgebaut. Externe Akteure gilt es hingegen zurückzudrängen. Insbesondere die Militärpräsenz der USA und die Mitgliedschaft der fünf ehemaligen Sowjetrepubliken im Programm Partnership for Peace, aber auch das Interesse Chinas und des Westens am eigenen Zugang zu den zentralasiatischen Ressourcen sind aus russischer Sicht problematisch.

Russlands strategischer Vorteil liegt darin, dass die zentralasiatischen Staaten auf das russische Pipelinenetz angewiesen sind, um ihre Ressourcen zu nutzen. Russische Unternehmen bestimmen die aus Zentralasien durchgeleitete Menge und sichern sich in Kooperation mit zentralasiatischen Unternehmen weitere Gasvorkommen. Folglich verfügt Russland über ein beträchtliches Druckmittel, um die zentralasiatischen Staaten von einer einseitigen Zusammenarbeit mit China oder dem Westen abzuhalten. Zusammen mit Iran setzt Russland auf eine Nord-Süd-Lösung der Pipelinetrassen, während US-Amerikaner und Europäer an einer Ost-West-Linie arbeiten. Das große Interesse anderer externer Akteure an Zentralasien schwächt allerdings die russische Position, denn die zentralasiatischen Staaten befinden sich immer mehr in der bequemen Lage, sich ihre miteinander in Konkurrenz stehenden ausländischen Partner aussuchen zu können. Zudem ist Russlands Image wegen der militärischen Intervention in Georgien beschädigt. In der Erklärung von Duschanbe lehnten die zentralasiatischen Staaten zusammen mit China die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens ab. Grund hierfür ist, dass sie selbst Probleme mit sezessionistischen Bewegungen haben (Godehardt 2008).

China benötigt die zentralasiatischen Ressourcen für seine boomende Wirtschaft. Ähnlich wie die EU ist China gegenwärtig in Sachen Energieversorgung einseitig aufgestellt. Das Gros seiner Importe muss die durch Piraterie gefährdete Straße von Malakka passieren. Sollte es dort zu einer internationalen Militärpräsenz kommen, stünde sie höchstwahrscheinlich unter westlichem Kommando. Chinas National Petroleum Corporation ist daher bemüht, Ölfelder unter anderem in Kasachstan zu kaufen. Die Bedeutung, die die Volksrepublik Zentralasiens Rohstoffen beimisst, wird daran deutlich, dass die Pipeline vom chinesischen Alashantou nach Atasu in Kasachstan in der Rekordzeit von nur einem Jahr fertig gestellt wurde.
Wirtschaftlich wächst Chinas Einfluss in Zentralasien: Ging der chinesisch-zentralasiatische Handel während des Kalten Krieges praktisch gegen Null, so stieg er von US$ 465 Millionen im Jahr 1992 auf US$ 7,7 Milliarden 2005. Darüber hinaus verspricht der Warentransport per Eisenbahn von Chinas Küstenregionen durch Zentralasien nach Europa, die Transportzeit zu verkürzen (Swanström/Norling/ Li 2007: 383-384). Vom Ausbau der chinesisch-zentralasiatischen Wirtschaftsbeziehungen erhoffen sich die Politiker in Peking außerdem Impulse für Chinas unterentwickelte Binnenprovinzen, insbesondere für den Unruheherd Xinjiang. Auf diesem Wege soll dort Separatisten entgegengewirkt werden.

Die Schanghai Organisation für Zusammenarbeit

Im Vergleich zum Vorgehen Russlands in Georgien ist China ein kooperativer externer Akteur. Als „Geist von Shanghai“ werden friedliche Nachbarschaftsbeziehungen, Vertrauen, gemeinsamer Wohlstand, Achtung der staatlichen Souveränität und strikte Nichteinmischung in interne Angelegenheiten propagiert. In diesem Sinne stellt die Shanghai Cooperation Organization (SCO) für China ein Instrument dar, mit dem die zwischenstaatliche Kooperation gegen Drogenkriminalität, Separatismus und Terrorismus sowie für verstärkten Handel forciert wird. Mit dem Manöver Peace Mission 2007 haben die Mitglieder der SCO ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur militärischen Kooperation gezeigt. Die Vermutung liegt nahe, hier könnte die Abwehr von Separatisten oder Terroristen in einem zentralasiatischen Staat erprobt worden sein. So verfügt die SCO über ständige Organe, die sich speziell mit der Terrorismusabwehr befassen. Dennoch bleibt die SCO weit hinter der NATO und der CSTO zurück: Sie unterhält keinerlei ständige Kommandoeinrichtungen, keine Schnelle Eingreiftruppe, und ihre politische Grundlage ist wenig gefestigt.

Aus westlicher Sicht wird die SCO zumeist als Bündnis autoritärer Machthaber wahrgenommen, dessen angeblich antiterroristische Zusammenarbeit sich primär gegen Oppositionelle richtet. Tatsächlich liegt ein Vorteil Chinas und Russlands darin, dass sie im Gegensatz zum Westen die autoritären Regime Zentralasiens nicht mit Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten belästigen. Dass US-Truppen im November 2005 Usbekistan auf Druck der SCO verlassen mussten, führt wie die Spekulationen um einen Beitritt Irans dazu, dass die SCO gelegentlich als „Anti-NATO“ bezeichnet wird.

Doch trotz ihrer angeblich antiwestlichen Ausrichtung handelt es sich bei der SCO um keine geschlossen auftretende Organisation. Vielmehr verfolgen China, Russland und Iran teils konträre Interessen. Allein die Tatsache, dass China und Russland miteinander um politischen Einfluss und die Gas- und Ölvorkommen in Zentralasien konkurrieren, verdeutlicht, dass beide Staaten keinen antiwestlichen Block bilden. Jedes bilaterale Abkommen, das China mit einem zentralasiatischen Staat abschließt, schwächt den russischen Einfluss.

Abhilfe könnten lediglich die Versuche Russlands schaffen, China über die SCO in eine institutionalisierte Energiepartnerschaft einzubinden. Doch bisher hat sich die chinesische Führung sehr zurückhaltend gezeigt, russische Vorschläge zu einer weitergehenden Institutionalisierung, beispielsweise durch eine Verknüpfung von SCO und CSTO, umzusetzen. Zu groß sind die chinesischen Befürchtungen, Russland könne einen solchen Zusammenschluss dominieren und gegen Chinas Interessen zu einem rein antiwestlichen Bündnis ausbauen.

Indien, Iran, Pakistan, die Türkei und Saudi-Arabien als Small Players im Great Game

Iran schließlich ist der dritte Player in Zentralasien, dem antiwestliche Intentionen unterstellt werden. Zwar sind traditionell der Nahe und Mittlere Osten Ziel iranischer Hegemonieansprüche, doch mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion bietet Zentralasien eine interessante Alternative für die Iraner, die wegen ethnischer und konfessioneller Gegensätze in der arabischen Welt oft auf Ablehnung stoßen. Die Zentralasienpolitik Irans versucht, die Konfrontation mit Russland zu vermeiden, die Region tendenziell zu stabilisieren, enge Beziehungen zu den neu gegründeten Staaten aufzubauen, externe Konkurrenten (Saudi-Arabien, die Türkei und die USA) zu schwächen und die eigene Führungsfähigkeit deutlich zu machen (Menaschri 1998: 78-80).

Darüber hinaus ist Iran um eine engere Kooperation mit der SCO bemüht. Die Organisation stellt aus Sicht des Teheraner Regimes einen Partner in der Konfrontation mit dem Westen dar und eröffnet nicht nur die diplomatische Chance, den internationalen Pariastatus abzulegen, sondern auch die lukrative Perspektive, ans russische und zentralasiatische Pipelinenetzwerk angebunden zu werden. Irans Außenminister Manuchehr Mottaki verkündete im März 2008, dass sein Land sich um die Vollmitgliedschaft in der SCO beworben habe. Bereits im Dezember 2007 hatte der stellvertretende russische Außenminister Alexander Losyukow angeregt, Iran und Pakistan sollten in die SCO aufgenommen werden. Russlands Interesse an Irans Beitritt ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass beide Staaten auf ein internationales Erdgaskartell setzen und dies über die SCO realisieren könnten. Auch würde Iran als Partner Russlands das Gewicht innerhalb der SCO zu Ungunsten Chinas verschieben. Jedoch ist ein rascher Beitritt Irans unwahrscheinlich. Keiner der SCO-Staaten will in den Konflikt um das iranische Atomprogramm hineingezogen werden. Außerdem fürchten die zentralasiatischen Länder, durch eine Erweiterung der SCO an Einfluss zu verlieren. China ist ebenfalls gegen einen iranischen Beitritt, denn ein Erdgaskartell steht den chinesischen Interessen entgegen und eine antiwestliche SCO widerspricht Chinas Absage an Militärblöcke (Blank 2008).

Trotzdem besteht zwischen China und Iran erhebliches Kooperationspotenzial. Iran ist einer der wichtigsten Öllieferanten der Volksrepublik – rund 15 Prozent ihres Bedarfs bezieht diese vom islamistischen Regime – und angesichts der großen Gas- und Ölvorkommen Irans werden die wirtschaftlichen Beziehungen seitens der politischen Elite in Peking für ausbauwürdig erachtet. Bereits jetzt strömen umfangreiche chinesische Investitionen nach Iran. Darüber hinaus sind China und Iran Partner beim Ausgleichen der US-amerikanischen Dominanz am Persischen Golf und in Zentralasien. Seit den späten 1980er Jahren arbeiten beide Länder eng im Rüstungsbereich zusammen. China liefert nicht nur konventionelle Waffen, sondern auch Trägersysteme und steht in Verdacht, Iran bei A- und C-Waffenprogrammen zu unterstützen (Berman 2006).

Je stärker das US-Militär in Afghanistan beansprucht wird, desto unwahrscheinlicher ist ein Angriff auf den Iran

Ein Engagement in Afghanistan liegt aus iranischer Sicht noch näher als eines in den anderen Staaten Zentralasiens. Nachdem die westliche Intervention die Herrschaft der Taliban beendet hatte, wurde Iran einerseits von westlicher Seite beim Wiederaufbau Afghanistans eingebunden. Andererseits schickte die Teheraner Führung rasch Elitekräfte der Revolutionären Garden in die Provinz Herat, um dort mit Angehörigen der schiitischen Minderheit der Hazara eine Guerilla- und Terrororganisation nach dem Vorbild der Hisbollah aufzubauen, denn je stärker das US-Militär in Afghanistan beansprucht wird, desto unwahrscheinlicher ist ein Angriff auf Iran. Für eine regionale Führungsrolle in Zentralasien fehlen Iran jedoch die Mittel. Daher setzt die iranische Regierung in Afghanistan genau wie im Irak auf einen lang anhaltenden Konflikt niederer Intensität. Auf diese Weise werden eigene Sicherheitsbelange kaum berührt, den USA wird aber massiver Schaden zugefügt (Rubin 2007).

Auch Pakistans und Saudi-Arabiens Rolle in Afghanistan wirkt destabilisierend: Beide Staaten unterstützten verschiedene Mujahedin-Gruppen vom Einmarsch der Sowjetunion bis zum Sturz der Taliban. Während die saudischen Afghanistankämpfer und ihre Financiers sich im Jihad gegen die atheistische Sowjetunion wähnten, ging es Pakistan darum, den eigenen Einfluss im nördlichen Nachbarland zu stärken, eventuell sogar an strategischer Tiefe für eine Konfrontation mit Indien zu gewinnen. Bis heute bestehen weiterhin teils enge Beziehungen zwischen islamistischen Terroristen in Afghanistan und einigen reichen Saudis, Teilen des pakistanischen Staatsapparates und paschtunischen Stämmen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. Sie sind ein wesentlicher Grund für den geringen Erfolg der westlichen Truppen, Afghanistan zu stabilisieren.

Letztlich bleiben Pakistan, Saudi-Arabien und Iran im Vergleich zu China, der EU, Russland und den USA aber Akteure mit sehr begrenztem Einfluss in Zentralasien. Noch stärker gilt dies für die Türkei, deren Streben nach einer Führungsrolle für die Turkvölker Zentralasiens zu Beginn der 1990er Jahre wenig Erfolg brachte, und für Indien, das nur geringe Ansätze zu einem militärischen und wirtschaftlichen Engagement in Zentralasien aufweist. Für die Türkei hat spätestens seit der Machtübernahme der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Ausrichtung auf die EU Vorrang. In Bezug auf Zentralasien könnte Ankara allerdings für die EU eine Brückenfunktion einnehmen. Indien konnte bisher keine dauerhaften strategischen Partner für sein Engagement in Zentralasien finden: Seine Annäherung an die USA belastet die traditionell guten Beziehungen zu Russland, und der langjährige Rivale China hat entscheidenden Einfluss in der SCO.

Ausblick auf die Entwicklung der Krisenregion

Zentralasien weist unterschiedliche Merkmale auf, die Cohen als typisch für Shatterbelts herausgestellt hat: Interne Instabilität wird durch die Konkurrenz externer Akteure verstärkt. Doch die Zusammenarbeit aller externen Mächte ist durchaus denkbar. Sie teilen das sicherheitspolitische Interesse, Zentralasien zu stabilisieren und islamistische Terroristen zu bekämpfen. Selbst Iran hat kein Interesse am Staatszerfall in Afghanistan oder gar an einer neuen Herrschaft der Taliban. Brzezinski (1997: 208-209) spricht sich für ein transeurasisches Sicherheitssystem aus, das eine Ausdehnung der NATO über den gesamten asiatischen Kontinent bedeuten würde. Hierfür müssten China und Russland über Kooperationsabkommen an die NATO gebunden werden.

Wirtschaftliche Interessen sprechen jedoch gegen eine derartige Zusammenarbeit. Schier unüberwindbar ist der Gegensatz zwischen der von Iran und Russland favorisierten Nord-Süd-Trasse für Pipelines und dem vom Westen anvisierten Ost-West-Verlauf. Selbst China und Russland konkurrieren um die zentralasiatischen Ressourcen, denn sollte China direkten Zugriff erhalten, fiele Russlands strategische Position als Transitland weg.

Diese Gegensätze müssen nicht zwangsweise zu Konflikten führen. So bewerten die Regierungen Chinas und Russlands ihre sicherheitspolitische Kooperation offensichtlich höher als ihre wirtschaftlichen Divergenzen. China verwehrt sich einem antiwestlichen Bündnis, und selbst zwischen Russland und dem Westen sind Chancen für eine Zusammenarbeit gegeben. Beispielsweise schlug Russlands Außenminister Sergej Lawrow auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2006 vor, die CSTO und die NATO sollten gemeinsam gegen den Drogenhandel in Zentralasien vorgehen. Derartige Ideen waren wenige Monate zuvor bereits im NATO-Russland-Rat für Afghanistan erörtert worden.

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Literatur

Berman, Ilan (2006): The Logic Behind Sino-Iranian Cooperation, in: China and Eurasia Forum Quarterly, 4,4, S. 15-23.
Blank, Stephen (2008): Iran and the SCO – A Match Made in Dushanbe or Moscow?, in: CACI Analyst, 30.4., www.cacianalyst.org/?q=node/4847 (Zugriff: 12.11.2008).
Brzezinski, Zbigniew (1997): The Grand Chessboard – American Primacy and Its Geostrategic Imperatives, New York.
Cohen, Saul (1963): Geography and Politics in a World Divided, New York.
Cohen, Saul (1991): Global Geopolitical Change in the Post-Cold War Era, in: Annals of the Association of American Geographers, 81,4, S. 551-580.
Godehardt, Nadine (2008): Gegensätze in Zentralasien – China und Russland ziehen nicht an einem Strang, Hamburg, GIGA Focus Asien, Nr. 11.
Menashri, David (1998): Iran and Central Asia – Radical Regime, Pragmatic Politics, in: Menashri, David (Hg.): Central Asia Meets the Middle East, London, S. 73-97.
Rubin, Michael (2007): Understanding Iranian Strategy in Afghanistan, www.aei.org/publications/pubID.26583/pub_detail.asp (Zugriff 1.3.2008).
Swanström, Niklas / Norling, Nicklas / Li, Zhang (2007): China, in: Starr, Frederick (Hg.): The New Silk Roads – Transport and Trade in Greater Central Asia, www.silkroadstudies.org/new/docs/publications/GCA/GCAPUB-12.pdf (Zugriff: 6.11.2008).

Der Autor

Sören Scholvin ist Diplomand am Institut für Geographie der Universität Hamburg und Mitarbeiter im Regional Powers Network (RPN) des GIGA.
E-Mail: scholvin@giga-hamburg.de, Website: http://staff.giga-hamburg.de/scholvin.

GIGA-Forschung zum Thema

Das Regional Powers Network erforscht den Aufstieg regionaler Führungsmächte in Afrika, Asien und Lateinamerika sowie im Nahen und Mittleren Osten; es befasst sich schwerpunktmäßig mit Interessen, Ressourcen und Strategien von Regionalmächten. Das RPN wird im Rahmen des Paktes für Forschung und Innovation finanziert (2008-2010). Weitere Informationen unter: www.giga-hamburg.de/rpn.

GIGA-Publikationen zum Thema

Beck, Martin / Shabafrouz, Miriam (2007): Iran – gewichtiger Gegenspieler westlicher Interessen, Hamburg, GIGA Focus Nahost, Nr. 10.
Godehardt, Nadine (2008): Gegensätze in Zentralasien – China und Russland ziehen nicht an einem Strang, Hamburg, GIGA Focus Asien, Nr. 11.
Kursawe, Janet (2006): Neue Herausforderungen für die NATO in Afghanistan, Hamburg, GIGA Focus Nahost, Nr. 10.
Umbach, Frank (2007): Chinas Energie- und Rohstoffdiplomatie und die Auswirkungen auf die EU-China-Beziehungen, in: China aktuell, Nr. 1, S. 39-56.
Wojczewski, Thorsten / Hanif, Melanie (2008): Indiens neue Energiepolitik und ihre geostrategische Bedeutung, Hamburg, GIGA Focus Asien, Nr. 9.

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Der Text ist zuerst in GIGA Focus Global Nr. 2/2009  erschienen.

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