Eurasische Einwanderer schaffen ArbeitsplätzeHEIMAT IN DEUTSCHLAND

Eurasische Einwanderer schaffen Arbeitsplätze

Eurasische Einwanderer schaffen Arbeitsplätze

Sie kommen aus ganz Eurasien in die Bundesrepublik Deutschland. Zwar gibt es in der Bevölkerung noch immer Angst, die Zuzügler könnten Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen. Aber nicht wenige Migranten schaffen inzwischen selbst Arbeitsplätze. Laut Statistischem Bundesamt leben in Deutschland mehr als eine halbe Million Unternehmerinnen und Unternehmer mit Migrationshintergrund. Sie bringen als besondere Qualifikation Mehrsprachigkeit, internationale Kontakte, Flexibilität und die Kenntnis anderer Kulturen mit. Tatjana Balzer stellt fünf Erfolgsgeschichten von eurasischen Einwanderern vor. Vier von ihnen sind Unternehmer.

Von Tatjana Balzer

Leonid Kaplan  
Leonid Kaplan  

L eonid Kaplan kam aus der ukrainischen Stadt Lwow, die einst Lemberg hieß, nach Deutschland. Der Ingenieur für Radioelektronik war zu Hause Abteilungsleiter eines namhaften Betriebes, der seinen Sitz in der damaligen Sowjetunion hatte. Er besaß bereits 12 Patente, konnte auf 40 Veröffentlichungen in der wissenschaftlichen Presse verweisen. Mit 48 Jahren fing er ein neues Leben in Deutschland an.

„Viele gingen damals ins Ausland“, erzählt Leonid Kaplan. „Die Sowjetunion war zerstört, die Wirtschaft brach zusammen. Die meisten gingen in die USA, nach Deutschland und nach Israel. Ich habe Deutschland ausgewählt, weil meine Familie und ich in Europa bleiben wollten. Mir waren immer die Mentalität und die Kultur der Deutschen sehr nahe. Als Jugendlicher und als Student habe ich viel über Deutschland und von deutschen Schriftstellern und Philosophen gelesen: Schiller, Goethe, Hegel, Kant, Böll. Auch die Musik von Beethoven und Bach mochte ich sehr gern.“

„Ich habe meinen Platz gefunden“

1993 kam Leonid Kaplan mit seiner Familie nach Köln. Er absolvierte zuerst einen deutschen Sprachkurs und bekam dann ein Praktikum in einem Reisebüro. Schließlich entschied er sich dafür, sich selbstständig zu machen und ein eigenes Reisebüro zu eröffnen. Dazu mietete der Ex-Ukrainer einen kleinen Raum, in dem er zunächst allein arbeitete. Nach einiger Zeit begann seine Frau mitzuarbeiten, und heute beschäftigt Kaplan vier weitere Angestellte.

Sein Reisebüro bietet verschiedene Dienstleistungen im Bereich Reisen rund um die Welt an, wie jedes andere Reisebüro auch. Kaplan hat jedoch auch Spezialitäten im Angebot: Reisen nach Russland und in die GUS-Staaten. Nach seinen Worten sind 50 Prozent aller Reisen, die sein Büro abwickelt, Geschäftsreisen. Vertreter deutscher Firmen, Journalisten sowie Musiker der Kölner Musikhochschule, Gruppen von Studenten und Schülern nehmen gern Flüge der russischen Fluglinien in Anspruch und beantragen über Kaplan ihre Visa bei den Botschaften.

Jeden Tag, von 9 bis 20 Uhr, beschäftigt sich Kaplan mit Reisen für andere. Dabei reist er selbst nicht viel. Einmal im Jahr fährt er im Winter nach Österreich, um sich beim Skifahren zu entspannen, und im Herbst spielt er Tennis irgendwo am Meer. Sport ist seine Leidenschaft schon seit seiner Jugend. In der Studienzeit war Leonid Kaplan erfolgreicher Leichtathlet für die Studentenschaft der Ukrainischen Republik.

„In meinem Leben habe ich nichts einfach so bekommen“, resümiert der Unternehmer Kaplan. „Mein Leben teilt sich in zwei Teile. Alles, was ich erreichen wollte, erreichte ich in der Heimat: Patente, Anerkennung und vieles mehr. Daher fühle ich mich nicht so, dass mein bisheriges Leben nicht gelungen wäre. Aber es hat sich so ergeben, dass ich nunmehr in Deutschland lebe. Das große Land, wo ich fast 50 Jahre gelebt habe, existiert nicht mehr. Der große Betrieb, in dem ich erfolgreich gearbeitet habe, auch nicht. Was ich vielleicht bedauere, ist, dass ich so spät nach Deutschland gekommen bin. Wenn ich in jüngeren Jahren gekommen wäre, hätte ich vielleicht mehr Möglichkeiten gehabt, hier etwas in meinem früheren Beruf zu erreichen. Aber mit knapp 50 versuchte ich dies überhaupt nicht mehr. Ich hatte also keine Illusionen, darum habe ich auch keine Enttäuschungen erlebt. Ich denke, ich habe meinen Platz in der deutschen Wirtschaft gefunden. Die Arbeit, die ich jetzt mache, gefällt mir und gibt mir persönliche Stabilität“.

Krankenschwester, Buchhalterin, Geschäftsfrau

Natalie Grempel  
Natalie Grempel  

Man kann ohne weiteres behaupten, dass diese Frau ihre Ziele überall erreichen könnte, an jedem Ort, in jedem Land. Doch seit sieben Jahren lebt Natalie Grempel in Deutschland. Sie hat einen Krankenpflegedienst aufgezogen, dem sie als Geschäftsführerin vorsteht. Mit ihren 32 Jahren beschäftigt sie bereits 20 Mitarbeiter.

Wahrscheinlich könnte sie nicht nur an jedem Ort und in jedem Land erfolgreich sein, sondern auch in vielen Bereichen. Geboren wurde sie 1974 in der russischen Stadt Saratow an der Wolga. Dort ist sie auch aufgewachsen. Mit 15 Jahren hatte sie neben der achtjährigen allgemeinen Schule - entspricht dem Hauptschulabschluss in Deutschland - auch bereits neun Jahre lang eine Musikschule besucht.

Natalie Grempel machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Anschließend arbeitete sie ein Jahr in einer Klinik. Ziemlich überraschend entschied sie sich dann, Wirtschaft und Finanzwesen an einer Universität in ihrer Heimatstadt zu studieren. Parallel dazu arbeitete Natalie in einer Produktions- und Transportfirma, in den letzten Jahren als Buchhalterin und stellvertretende Leiterin des Betriebes. „Krankenschwestern und sogar auch Ärzte hatten es in Russland zu jener Zeit, sowie auch heute sehr schwer. Mit dem, was sie verdienten, konnte man kaum den Lebensunterhalt bestreiten. Deswegen bevorzugte ich, mich im wirtschaftlichen Bereich weiter zu entwickeln“, erklärt die junge Unternehmerin heute.

Der Abschluss des Wirtschaftsstudiums wurde in Bayern nicht anerkannt

Als sie damals im Jahr 2000 nach Deutschland kam, landete sie zunächst in Bayern. Einen Deutschkurs konnte sie nicht besuchen, weil ihr Sohn erst zehn Monate alt war und die Mutter noch voll beanspruchte. Sie lernte die neue Sprache deshalb für sich alleine zu Hause.

Ihr russischer wirtschaftlicher Abschluss wurde in Deutschland nicht anerkannt, dafür aber – nach einem sechsmonatigen Praktikum in einer Klinik – die Ausbildung als Krankenschwester. Deswegen suchte Natalie eine Stelle in diesem Bereich, bewarb sich bundesweit und fand einen Arbeitsplatz in Köln. Zweieinhalb Jahre arbeitete sie dort als examinierte Schwester und entschied sich 2005, ihren eigenen Krankenpflegedienst zu gründen.

Die Frage, ob sie es bedauert, dass ihr wirtschaftliches Studium, das sie in Russland absolviert hatte, hier nicht anerkannt wurde, beantwortet Natalie ohne Zögern: „Nein. Man muss sich nicht nur auf einen Weg konzentrieren, sondern auch bereit sein, etwas in seinem Leben zu ändern. In Russland lohnte es sich nicht als Krankenschwester zu arbeiten, deshalb war es besser, etwas anderes zu machen. In Deutschland ist jedoch alles anders. Es hat sich so ergeben, dass nur mein medizinischer Abschluss anerkannt wurde. Daher arbeite ich hier in diesem Bereich und bin sehr zufrieden“.

Und was ist mit ihrer musikalischen Ausbildung? Das sei für sie nur ein Hobby zur Entspannung. Beruflich fühle sie sich eher technisch und als Organisatorin begabt. Die Erfahrungen, die sie in Russland in einer Produktions- und Transportfirma als Managerin und Buchhalterin gesammelt hat, würden ihr heute sehr helfen. „Mein jetziges Ziel ist es, den Krankenpflegedienst auszubauen“, sagt Natalie. Daher bildet sie sich derzeit abends und an Wochenenden an einer Berufsakademie für Krankenpflege berufsbegleitend fort. Außer Arbeit und Weiterbildung widmet sich die junge Unternehmerin ihrer Familie und ihrem inzwischen achtjährigen Sohn.

In vietnamesischen Häusern sind die Türen stets offen

Xuan Tho Nguyen  
Xuan Tho Nguyen  

Zum zweiten Mal veranstaltete Deutschland im letzten Sommer die Fußballweltmeisterschaft (nach 1974). 2006 war auch Xuan Tho Nguyen aus Hanoi einer derjenigen, die dieses Ereignis mit vorbereiteten. In Köln richtete seine Firma ein Fernsehstudio für das staatliche vietnamesische Fernsehen ein, aus dem alle 64 WM-Spiele über die FIFA-Zentrale nach Vietnam übertragen wurden.

Rund 10 000 Kilometer trennen Köln am Rhein vom südostasiatischen Hanoi. Im Jahr 1991 ist Xuan Tho Nguyen zusammen mit seiner Frau und zwei Söhnen - damals vier und acht Jahre alt – aus Vietnam nach Deutschland aufgebrochen. Von den sechziger bis in die achtziger Jahre existierten Kooperationsprogramme zwischen Nordvietnam und einigen sozialistischen Ländern in Europa. Auch mit der damaligen DDR. Daher kamen zu jener Zeit vietnamesische Gastarbeiter und Jugendliche nach Ostdeutschland, um dort zu arbeiten oder ausgebildet zu werden. Auch Xuan Tho wollte in Deutschland einen Beruf erlernen und kam 1967 mit 16 Jahren aus Hanoi nach Brandenburg. Fernsehstudiotechniker wollte er damals werden – und nach fast vier Jahren hatte er es geschafft.

Besser selbstständig als arbeitslos

Nach der Ausbildung kehrte Xuan Tho 1971 in seine vietnamesische Heimat zurück. Er studierte Fernsehtechnik, wurde Ingenieur und arbeitete viele Jahre im vietnamesischen Fernsehen. Als er 40 war, entschied er sich – mittlerweile mit seiner Familie – wieder in Deutschland zu leben. Die ersten drei Jahre arbeitete er in Köln für verschiedene Unternehmen, wo er hauptsächlich elektronische Sendegeräte reparierte. Die Arbeit entsprach nicht seinen Qualifikationen. In Vietnam hatte er als Abteilungsleiter gearbeitet und sich mit Planungen und Projektierungen beschäftigt. In Deutschland war es aber nicht leicht, eine vergleichbare Stelle zu bekommen.

Xuan Tho konnte sich nicht einmal sicher sein, dass er die Arbeit nicht auch wieder verlieren konnte, die er in Deutschland bekommen hatte. Schließlich gab es genug Beispiele von Arbeitslosigkeit. Diese Überlegungen führten schließlich zu seiner Entscheidung, sich selbstständig zu machen. Dank seiner bisherigen Tätigkeit hatte er schon einige Kontakte in Köln geknüpft. Er frischte auch seine Beziehungen in Hanoi auf und fing im Herbst 1994 an, auf eigene Rechnung Medientechnik zu liefern und Rundfunkstudios einzurichten.

„In der ersten Zeit war es sehr schwierig, ich musste jeden Monat etwas von früheren Ersparnissen nehmen, und bald war alles weg“, erinnert sich Xuan Tho. Leichter wurde es ihm erst nach zwei Jahren, als seine Firma immer mehr Aufträge bekam. Zunächst arbeitete er nur mit seiner Frau Minh Chau zusammen. Xuan Tho war Geschäftsführer und zugleich Techniker in der Werkstatt. Minh Chau übernahm die Sekretariatsaufgaben, half in der Buchhaltung und beim Versand. Seit einiger Zeit gibt es aber weitere Mitarbeiter in der Firma – deutsche Kollegen.

In vierzehn, statt in fünf Jahren zum eigenen Haus

Die Schwierigkeiten der Integration in Deutschland hat Xuan Tho, wie er jetzt gesteht, am Anfang unterschätzt. Als er nach Köln kam, dachte er, er habe sofort Arbeit, ein schönes Auto und bald, etwa in fünf Jahren, würde er ein Haus für seine Familie kaufen. Aber der Wunsch, ein eigenes Haus zu besitzen; dauerte auch für ihn etwas länger, er brauchte vierzehn Jahre dafür.

Was gefällt Xuan Tho in Deutschland am besten? „Das Wirtschaftssystem“, sagt er, „Das ist transparent, es gibt wenig Risiko. In Vietnam ist es jetzt natürlich viel offener geworden, nicht so wie früher, aber es gibt immer noch sehr viele Risiken. Und das politische System in Deutschland finde ich auch vorteilhafter. Obwohl es für meinen Beruf weniger relevant ist, halte ich die Meinungsfreiheit zum Beispiel für sehr wichtig. Vietnam ist politisch jetzt freier geworden, doch existiert immer noch das Einparteiensystem. Das alltägliche Leben finde ich in Vietnam viel lebendiger und interessanter. In jedem Haus in Vietnam stehen die Türen stets offen, und das Leben spielt sich hauptsächlich auf der Straße ab. In Deutschland sind die Türen zu und die Straßen, besonders an Wochenenden und abends, oft menschenleer.“

Heute verkauft das Unternehmen von Xuan Tho Nguyen die modernste Medientechnik deutschland- und weltweit. Das Fernsehstudio für die WM-2006 hat Xuan Tho beispielsweise mit dem neuesten Video-Toaster ausgerüstet, einer Anlage, die es erlaubte alles zu machen, was Journalisten brauchten: Live Talkshow, Editing, Graphik Präsentation.

So wie die Firma wächst, wachsen auch die Söhne. Der älteste, Trung, studiert ostasiatische Wirtschaft, Viet, der jüngere, besucht ein Berufskolleg. In Deutschland fühlen sie sich wohl, jedoch auch nach Vietnam fliegen sie gern. 10. 000 Kilometer von Nord-Westen nach Süd-Osten in elf Stunden. Die Übertragungen der Spiele während der Fußballweltmeisterschaft 2006 aus Deutschland überwanden diese Strecke bis auf die andere Seite der Weltkugel viel schneller. Dafür sorgten eben Xuan Tho Nguyen und seine Mitarbeiter.

Eine Brücke zwischen Anatolien und Köln

Ali Demir  
Ali Demir  

Seine Mutter konnte weder lesen noch schreiben. Sein Vater besuchte lediglich eine Grundschule. Ali Demir selbst hat zwei Hochschulabschlüsse erreicht: den einen in der Türkei, den anderen in Deutschland. Und für seine Kinder wünscht er eine interessante politische Kariere auf europäischer Ebene.

Ali Demir ist Lehrer und Unternehmer. Bis Mittag lehrt der gebürtige Türke Mathematik in einer Tages- und Abendschule. Nachmittags ist er selbstständiger Steuer- und Unternehmensberater.

Seit vielen Jahren kommen Leute in sein Büro im lebendigen Viertel in Köln-Mülheim. Nicht nur um Steuererklärungen machen zu lassen oder wegen verschiedener Unternehmens- und Finanzberatungen, sondern auch mit zahlreichen Integrationsproblemen. Und für jeden Besucher hat Ali Demir Zeit und Geduld, jedem gibt er einen guten Rat.

Mit seiner Beratertätigkeit fing er in den achtziger Jahren an, kurz nachdem er 1977 seinem Vater aus Anatolien gefolgt war. Damals war Ali Demir 26 Jahre alt, hatte gerade sein Studium für Finanzwesen in der Heimat abgeschlossen und kam nach Köln, um Deutsch zu lernen und seine Fachkenntnisse zu vertiefen.

Der Vater besuchte lediglich die Grundschule, sein Sohn hat zwei Hochschulabschlüsse

An seinen Vater erinnert sich Ali Demir mit viel Wärme: „Er wollte immer, dass wir, seine Kinder eine möglichst gute Bildung bekommen. Der Vater selbst hatte nicht einmal die Möglichkeit zur weiterführenden Schule zu gehen, er besuchte lediglich eine Grundschule.“ Kam sein Vater also nach Deutschland, damit seine Kinder eine bessere Ausbildung bekamen? „Nein“, antwortet der Lehrer und Unternehmer, „zunächst ging es nicht darum. Unser Vater wurde Gastarbeiter in Deutschland, um schulische Bildung für seine Kinder in der Türkei finanzieren zu können.“

Für Ali und seine Geschwister war die Schulausbildung nicht einfach. Zuerst gingen sie auf eine Grundschule, zehn Kilometer von ihrem Dorf entfernt, jeden Tag zu Fuß. Dann hat ihr Vater sie in die Mittelschule geschickt, die schon 20 Kilometer entfernt vom Dorf lag. Da es nicht mehr möglich war, einen so langen Weg zu Fuß zurückzulegen, hat der Vater für seine Kinder ein Zimmer unweit der Schule angemietet. Das Zimmer kostete nicht wenig Geld, und für ihn, den Bauern aus Anatolien, war es schwierig, das zu bezahlen. Deshalb ging er nach Deutschland und arbeitete hier 16 Jahre lang bei der Eisenbahn.

„Für mich war es immer ein Traum, in Europa zu studieren“, erzählt Ali Demir. „Dank des Vaters konnte ich diesen Traum verwirklichen“. In Deutschland ging er also noch mal zur Universität. Er lernte Deutsch, studierte Volkswirtschaft und arbeitete bei einer Produktionsfirma als Helfer, um sein Studium finanzieren zu können. Und schon damals half er in seiner wenigen Freizeit seinen Landsleuten beim Ausfüllen verschiedener Anträge. Was hat er nicht alles ausgefüllt! Kindergeldanträge, Schlechtwettergeldanträge, Anträge auf Behindertenausweise und natürlich Lohnsteuererklärungen.

Ali Demir berät Türken, Deutsche und Menschen vieler weiterer Kulturen

Heute ist Ali Demir nicht nur Lehrer und Unternehmer, sondern auch der Vorsitzende der Interessengemeinschaft Keupstraße e. V. (in dieser Straße leben sehr viele Türken) und Mitglied des Integrationsrates der Stadt Köln. Er schreibt zudem regelmäßig Aufklärungsartikel für türkisch- und deutschsprachige Zeitungen. Die einst von ihm aufgebaute Brücke zwischen türkischen Einwanderern und der deutschen Gesellschaft ist noch fester und stabiler geworden. Inzwischen kommen nicht nur seine Landsleute zu ihm. Die Hälfte seiner Mandanten sind Türken, ein Viertel sind Deutsche und noch ein Viertel stellen Vertreter anderer Kulturen dar. „Ich achte jeden Menschen, unabhängig von dessen Glauben und Herkunft“, sagt Ali Demir. „ Für mich ist der Mensch selbst wichtig. Ich persönlich fühle mich nicht als Ausländer, vielleicht nicht einmal als Türke. Ich fühle mich einfach als Person dieser Gesellschaft.“

In der Keupstraße pulsiert das Geschäftsleben bis in den späten Abend. Der Arbeitstag von Ali Demir dauert auch lange, oft 16 Stunden. Daneben muss er natürlich auch noch für seine Familie da sein. „Meine Frau arbeitet als Lehrerin für Naturwissenschaften und Türkisch in einer Gesamtschule“, erzählt Ali Demir stolz. „Unsere beiden Töchter lernen in einem Gymnasium, der Sohn geht noch zur Grundschule. Unser Sohn ist noch klein, aber unseren Töchtern empfehle ich schon jetzt, dass sie Wirtschaft oder Politikwissenschaften studieren. Vielleicht können sie später mein Büro übernehmen. Oder mein Wunsch wäre, dass sie Notarinnen oder Wirtschaftsprüferinnen werden oder dass sie sich mit Politik beschäftigen, vielleicht auch auf europäischer Ebene. Ich möchte schon, dass sie etwas für diese Zivilisation machen, mitspielen, mitgestalten. Ich selber konnte das alles nicht schaffen. Aber entscheiden werden sie natürlich selbst.“

Inzwischen besitzt das Dorf in Anatolien, aus dem Ali Demir kommt, seine Internetseite. Auf der hat Ali Demir neulich einen Wettbewerb für Jugendliche ausgelobt: Die drei besten Geschichten über das Dorf will er mit Preisen auszeichnen. „Ich muss etwas für die Jugendlichen tun“, sagt er. Zudem unterstützt er finanziell einen Kölner Kulturverein. „Ich muss auch etwas für die Kultur tun“, meint Ali Demir.

Die Doktorantin kam fast ohne Deutschkenntnisse

Elena Abrosimova  
Elena Abrosimova  

Elena Abrosimova kam vor elf Jahren nach Deutschland. Zu Hause in Russland hatte sie ein Universitätsdiplom als Historikerin erworben. Sie war 33 als sie mit ihrem Mann, ihren zwei Kindern und fast ohne Deutschkenntnisse einreiste. Zunächst lebte ihre Familie von Sozialhilfe. Heute sind die Abrosimovs durchaus gut situierte Menschen. Elena arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungszentrum Jülich und an ihrer Doktorarbeit.
 
Natürlich hatte sie es nicht leicht. Aber ihren zielstrebigen Charakter bewies sie schon in Sankt Petersburg, woher sie kommt. Dort studierte sie und arbeitete gleichzeitig: zunächst in einem Kindergarten, danach ­ als sie schon in höheren Semestern war ­ an einem Gymnasium als Geschichtslehrerin. Zu jener Zeit hatte sie bereits zwei kleine Kinder.

In Deutschland war ihr Ziel von Anfang an die Universität. „Ich wollte einfach nicht meine Erfahrungen aufgeben“, sagt sie, „und ich wollte es zu etwas bringen.“ Nachdem sie einen Sprachkurs für Einwanderer abgeschlossen hatte, ging sie ins Aachener Arbeitsamt und bekam von ihrem Berater zu hören, dass sie mit ihrem Diplom in Deutschland nichts anfangen könne. Jedoch fand Elena im Internetportal des Arbeitsamtes den Zusatzstudiengang „Europastudien“ angeboten, und zu ihrem Glück gab es den auch in Aachen.

23.000 Mark Kredit, um studieren zu können

Das Studium war eine echte Herausforderung für Elena. Aber sie wollte es ja weiterbringen. Sie studierte Europapolitik, europäische Wirtschaft, Europarecht, europäische Geschichte, sowie Kultur- und Sozialwissenschaften. Um ihr Studium finanzieren zu können, nahm Elena einen Kredit von damals 23.000 Mark auf. Statt der Regelstudienzeit von vier Semestern hatte sie sechs Semester gebraucht. Aber die Mühen hatten sich gelohnt. Elena wurde Magistra in Europastudien mit einer Magisterarbeit, in der sie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit europäischer Länder am Beispiel des Ostseeraums erforschte und darstellte.

Das Thema ihrer Magisterarbeit hatte Elena nicht zufällig ausgewählt. Sie selbst kommt aus dem Teil Russlands, der an der Ostsee liegt wie noch zehn weitere Staaten mit ihren Küstenregionen. Elena faszinierte die Geschichte und die Zukunft des einzigen rein europäischen Meeres.

Die Frau aus St. Petersburg ist überzeugt davon, dass sich ihr Studium auch deswegen gelohnt hat, weil sie dabei viele interessante Menschen kennen lernen und Beziehungen anknüpfen konnte. Nicht zuletzt im Forschungszentrum in Jülich, wo sie sich als Praktikantin beworben hatte. Dort bekam Elena eine Praktikumstelle in der Abteilung „Außenbeziehungen Wirtschaft“. Nach einem Jahr wurde in derselben Abteilung eine Stelle als Sachbearbeiterin frei, und Elena rückte auf. Sie arbeitete halbtags in Jülich und studierte weiter im Fach Politikwissenschaft.

Ein Konzept für die grenzüberschreitende wissenschaftliche Kooperation

2004 absolvierte Elena ihr politologisches Studium und wurde Magistra in Politologie. Ihr Abteilungsleiter ging damals in Rente. Die Abteilung „Außenbeziehungen Wirtschaft“ wurde geschlossen. An der Organisation der internationalen Beziehungen wollte man sparen. Doch Elena konnte beweisen, dass die Aufrechterhaltung der grenzüberschreitenden wissenschaftlichen Kooperationen und Initiativen eine genauso wichtige Aufgabe darstellt wie Forschungen im Bereich der Physik oder der Chemie. Sie schrieb ein Konzept, in dem sie alle ihre Vorschläge darlegte, wie diese wichtige Arbeit weiter zu entwickeln wäre, und sie bekam Recht.

Zwar teile man ihr eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer anderen Abteilung zu, aber sie beschäftigt sich nach wie vor mit nahezu den gleichen Aufgaben: mit wissenschaftlichem Management, internationalen wissenschaftlichen Kooperationen, speziellen Förderprogrammen, besonders zwischen Deutschland und osteuropäischen Ländern, sowie mit Russland und den GUS-Staaten. Sie plant und organisiert diverse Projekte und arbeitet an ihrer Doktorarbeit, die mit ihrer Tätigkeit im Forschungszentrum eng verbunden ist.

„Es gab eine Zeit, als es besonders schwierig war“, sagt Elena. „Als ich mit dem Zusatzstudiengang „Europastudien“ anfing. Viele meiner Bekannten belächelten mich. Ihre Lieblingsfrage war: ‚Und als was wirst du arbeiten, wenn du mit deinem Studium fertig bist?’ Meine Kinder waren auch nicht begeistert: ‚Mama! Diese deine Lernerei! Wie lange kann man schon lernen!’ Natürlich war all dies auch für Kinder nicht leicht. Sie waren damals im Teenageralter und brauchten meine Unterstützung. Aber ich war noch schwächer als sie. Meine Kinder taten mir Leid, und ich mir selbst auch. In Russland war ich doch immer ein Vorbild für meine Kinder gewesen: Ich hatte im Gymnasium gelehrt, wo sie gelernt hatten, und war ein angesehener Mensch gewesen. Und in Deutschland war ich plötzlich noch schwächer als sie: ohne Sprache, ohne Beruf. Und diesen Prozess zu stoppen, ihn abzuwandeln und wieder ein Vorbild für meine Kinder zu sein – das ist auch mein wichtiger Sieg.“

*

Tatjana Balzer ist freiberufliche Journalistin. Nach einem sprachwissenschaftlichen Studium (Slavistik) in der ehemaligen Sowjetunion arbeitete sie als Journalistin in Togliatti. Hauptsächlich war sie bislang im kulturellen, medizinischen und wirtschaftlichen Bereich tätig. Sie ist Autorin zahlreicher Artikel und Co-Autorin mehrerer Broschüren und Bücher. Tatjana Balzer wurde 1960 in Russland geboren. Seit 2000 wohnt sie in Köln und arbeitet an verschiedenen Projekten mit deutschen und russischen Verlagen. Ihre Themen sind Zeitgeschehen, Politik, Wirtschaft, multikulturelle Gesellschaft und Integration.

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