Familienleben zwischen Ukraine, Russland und DeutschlandBERLIN-KRIM-BERLIN

Das Epizentrum von Sewastopol

Familienleben zwischen Ukraine, Russland und Deutschland

Juliane Inozemtsev ist freie Journalistin und Buchautorin aus Berlin. 2012 erschien im Lübbe Verlag ihr Buch „Werft die Gläser an die Wand - meine russische Familie und ich“. Die studierte Slawistin lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern hauptsächlich in Berlin, aber auch einige Monate im Jahr auf der Krim, in Sewastopol, der Heimatstadt ihres Mannes. Im EM schreibt sie darüber, was sie dort alles erfährt und erlebt. Die Namen der handelnden Personen sind zum Schutz der Privatsphäre geändert.

Von Juliane Inozemtsev

Sewastopol: Blick auf die Hafenbucht
Sewastopol: Blick auf die Hafenbucht
Foto: Inozemtsev

Meine Schwiegermutter und ich sind mit dem Auto auf dem Weg in das beliebte Einkaufszentrum Musson. Normalerweise fahren wir über das schöne Stadtzentrum von Sewastopol, aber wegen einiger Baustellen nimmt „Mama Walja“ diesmal eine Umgehungsstraße. Für mich ist dieser Weg neu.

Zunächst schlängeln wir uns auf einer sehr schmalen, sehr kurvigen Straße aus unserem Viertel heraus, danach wird die Fahrbahn etwas breiter, und ich sehe, dass sie durch ein Industriegebiet führt, genauer gesagt durch ehemaliges Industriegebiet. Wir fahren an großen Werk- und Lagerhallen aus grauem Beton vorbei. Fast alle Scheiben der Gebäude sind zerbrochen. Zu Sowjetzeiten hätten hier viele Menschen in Lohn und Brot gestanden, erzählt Mama Walja, zum Beispiel bei der Produktion von Radioelektronik (Funktechnik). Doch die meisten dieser Gebäude seien schon bald zwei Jahrzehnte nicht mehr in Betrieb. In der steppenartigen Umgebung wirken sie beinahe gespenstisch.

EM-Kolumne "Berlin-Krim-Berlin"
Teil 1: Eine deutsch-russische Familie erzählt vom Leben in zwei Welten

Die Schwarzmeerflotte schafft Arbeit

Als wichtigster Arbeitgeber der Stadt Sewastopol gilt die russische Schwarzmeerflotte, die rund 25 Prozent des gesamten Stadtbudgets finanziert. Es heißt, Russland zahle jährlich rund 100 Millionen US-Dollar Pacht an die Regierung der Ukraine, um die Flotte in der strategisch wichtigen Hafenstadt belassen zu dürfen. Des Weiteren lebt die Region von der Fisch verarbeitenden Industrie, von den Werften, in denen Schiffe vor allem gewartet und repariert werden, vom Weinanbau und, sehr wesentlich, vom Tourismus. Jährlich kommen mehr als eine halbe Million Besucher in die Stadt auf der ukrainischen Halbinsel Krim. Das ist viel, wenn man bedenkt, dass Sewastopol selbst nur knapp 380.000 Einwohner (Stand: 2005) hat. Die Touristen kommen vor allem aus Russland, der Ukraine und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Westeuropäer, Amerikaner oder Asiaten trifft man noch vergleichsweise selten.

Mama Walja und ich fahren indes immer noch durch die Industriezone, vorbei an kleineren und größeren Trümmer- und Schuttbergen. Wir passieren auf unserer Fahrt auch einige ehemalige Militäranlagen. Bis Mitte der 90er Jahre war Sewastopol als wichtiger militärischer Stützpunkt ein „sakrytyj gorod“ - eine „geschlossene Stadt“, in die man nur mit einem Passierschein gelangte. Mit der Öffnung der Stadt wurde dann ein Großteil des Militärs abgezogen. Zurück blieben die Kasernen, die seitdem langsam, aber stetig verfallen. Dieser Teil von Sewastopol war mir bisher verborgen geblieben. Wie unendlich weit weg scheint mir in diesem Moment das wunderschöne Zentrum, mit seinen klassizistischen Gebäuden aus leuchtend weißem Kalkstein direkt am Meer, mit den hohen alten Bäumen, den üppigen bunten Blumenbeeten, den „fontany“ – „Springbrunnen“ und Cafés. Dabei liegt die Flaniermeile des „Primorskij Bulvar“ - des „Boulevards am Meer“ in der Luftlinie nur etwa fünf Kilometer entfernt. 

Mama Walja ist eine echte Lokalpatriotin

Natürlich ist der Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie in vielen Städten auf der Welt groß  - auch in Westeuropa. Gerade im Osten Deutschlands, wo viele Betriebe und weite Teile der Großindustrie nach der Wende kaputt gingen, sieht man auch heute noch verfallene Industrieanlagen und brachliegendes Gelände. Aber der Anblick hier wirkt dennoch anders auf mich, irgendwie gravierender. Vielleicht weil sich dieses Gebiet über mehrere Kilometer Länge erstreckt.

Mama Walja gegenüber äußere ich meine Gedanken nicht. Ich weiß, wie sehr sie ihre Stadt liebt. Sie ist eine echte Lokalpatriotin, und ich befürchte, Kritik an Sewastopol würde sie immer auch etwas persönlich nehmen. Mein Eindruck ist, dass sie an den Anblick hier schon so gewöhnt ist, dass ihr nicht mehr auffällt, wie es tatsächlich aussieht. Da sie selbst noch nie im Ausland war, hat sie auch wenig Vergleichsmöglichkeiten.

Mich aber macht der Anblick traurig. Sewastopol, eine der Heldenstädte des Zweiten Weltkrieges, und an anderer Stelle so faszinierend schön, so voller Leben und Flair, ist für mich eine zweite Heimat geworden. Mir liegt viel an dieser Stadt und an ihren Menschen.

Manchmal ist Schweigen eben auch im Russischen Gold

Während  ich noch grübele, sagt Mama Walja plötzlich: „Sejchas my edem cherez Epitsentr.“ Ich verstehe: „Wir fahren durch das Epizentrum“, und es klingt, als hätte sie es mit einem Augenzwinkern gesagt. Ich bin baff. So viel Selbstironie und schwarzen Humor hätte ich meiner Schwiegermutter gar nicht zugetraut. Aber ich finde, mit ihren Worten hat sie den Nagel auf den Kopf getroffen, denn so wie im Zentrum eines kleineren Erdbebens sieht es nach meinem Empfinden tatsächlich aus. Doch um ihre Gefühle nicht zu verletzen, murmele ich nur leise Zustimmung. 

Später berichte ich meinem Mann Wanja von dem Erlebten, und er schaut mich überrascht an. „Nein“, sagt er, „das hat sie nicht gemeint“. Das Wörtchen „cherez“ habe doch im Russischen verschiedene Bedeutungen. Sie wollte sagen: „Wir fahren jetzt am Epizentrum vorbei.“ So heiße hier nämlich ein „Gipermarket“ - eine Art riesiger Super- und Baumarkt. An ein Erdbeben habe sie dabei ganz sicher nicht gedacht!

Wir schauen uns an und lachen. So leicht entstehen Missverständnisse! Manchmal ist Schweigen eben wirklich Gold - egal ob im Russischen oder im Deutschen.

EM-Kolumne "Berlin-Krim-Berlin"
Teil 1: Eine deutsch-russische Familie erzählt vom Leben in zwei Welten

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