Faust liegt naheTRAGÖDIE

Faust liegt nahe

Faust liegt nahe

Vielleicht sind manchem Volkswirt oder Finanzfachmann, manchem Banker oder Anleger diese Zeilen im Strudel der weltweiten Krise wieder einmal durch den Kopf gegangen: „Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.“ Faust I. Vor 200 Jahren, 1808, ist der Titel „Faust“ erstmals im Druck erschienen. Wir haben also eine Art Faustjahr. Und nichts hat Johann Wolfgang von Goethe, dieser deutsche Dichter, eine der herausragendsten Persönlichkeiten der Weltliteratur, von seiner Aktualität verloren, auch wenn er nicht expressis verbis ein Master-Studium „Finance and Banking“ erwähnt.

Von Hans Wagner

E r wird auch gespielt. Zwar nicht landauf, landab, aber doch in einer durchaus beachtlichen Zahl von Häusern der Republik. Ein Münchner Anzeigenblatt verlost sogar Karten für eine Aufführung des Klassikers unter den Lesern, die folgende Frage beantworten können: „Welchen Namen trägt der Teufel in Goethes Faust?“ – Zur Auswahl stehen Beelzebub, Mephisto, Satan und Baal.

Goethe hat seine Figur des „Mephisto“, unabhängig von einer älteren Sagengestalt, weitgehend neu konzipiert und sie zu einer ganz eigenen Figur verwandelt. Das ist aber schon fast in Vergessenheit geraten, so sehr ist sein Mephisto in die deutsche Sprache eingegangen. Heute hat dieser „Geist der stets verneint“ wieder Hochkonjunktur als Fiesling, als Verführer, als  Entfessler des Chaos.

Faust ist jung

Eine der gegenwärtig spannendsten und reizvollsten Aufführungen des „Faust - Der Tragödie erster Teil“,  wurde 2008 im oberbayerischen Rosenheim konzipiert. Dort feierte am 3. Oktober die „Theaterinsel“ in der Chiemseestraße ihr fünfjähriges Bestehen  mit der Premiere einer Faust-Inszenierung des Regisseurs Toni Müller. Der in der Region geborene Theatermensch Müller stand selbst mit drei Jahren das erste Mal auf der „Bühne“ als dritter Zwerg im Weihnachtsspiel des Kindergartens. Und er ist mit inzwischen über 60 Jahren so jung geblieben, sich mit einem Ensemble an den Weltklassiker Faust zu wagen, von dessen Laienschauspielern einige nur wenig älter sind als er damals: Den Schüler in Müllers Faust spielt der elfjährige David Auer, der schon in „Romeo und Julia“ eine Prinzenrolle hatte. Das Gretchen wird von Elisabeth Fessler verkörpert, einer Schülerin am Karolinengymnasium der Stadt, die auch schon in dem Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ brillierte.

Die Jugendlichkeit des Ensembles macht einen gewichtigen Teil des Reizes der Müllerschen Inszenierung aus. Nicht verstaubte Perücken und steife Kostümierung beherrschen die Bühne, sondern junges Blut und Temperament. Daraus erwächst ein großer Teil der  Spannung. Dem Geheimrat hätte dieses Völkchen sehr wahrscheinlich auch gefallen.

„Jedes gesprochene Wort auf der Bühne ist reiner Goethe“

Dabei ist Goethes „heiliger“ Text unangetastet geblieben. Die Freunde seiner Sprachkunst brauchen nichts zu befürchten. Die Probenpraxis schildert Toni Müller in einer Art Werkstattbericht:  „Textstellen, die den Schauspielern zuwider waren – Goethe hat einiges geschrieben, was einem zuwider sein kann – wurden gestrichen, dann wieder zurückgeholt, weil wir erst im Verlaufe der Proben die Aussagen begriffen - Szenen wurden umgestellt und andere wurden gekürzt. Jedes Wort wurde untersucht, abgefragt, angenommen und/oder verworfen. Aber, und das ist meine eiserne Grundregel, jedes gesprochene Wort auf der Bühne ist reiner Goethe, keine fremden Texte wurden eingeschoben, wenn uns eine Stelle unspielbar schien, wurde sie gestrichen. Anders kann man mit diesem Sammelsurium Goethischer Weisheit gar nicht umgehen, denn dieser Text besitzt die alles umfassende Potenz, einen in den Wahnsinn zu treiben.“

Die jungen Leute hatten Freude an diesem Wahnsinn, erfuhren viel über sich und das menschliche Dasein, trotz ihrer kurzen Lebensläufe. Der Regisseur beobachtete dieses Spannungsfeld während seiner Arbeit sehr genau. Er schrieb dazu: „Selbstbewusste junge Menschen reiben sich an ihren Vätern, bei dieser Produktion hatten sie zwei Reibungsflächen. Ihren Regisseur, den altersmild gewordenen, aber dennoch im entscheidenden Moment unerbittlichen Toni Müller und dann unser aller Übervater Goethe, der immer wieder versuchte, auch den Regisseur in die Knie zu zwingen, und alle Mitwirkenden in ein hartes Ringen um Verstehen und Verstandenwerden trieb.“

Eingesperrt in einen Turm von Büchern

Der Regisseur des Rosenheimer Fausts hat für seine Inszenierung auf überflüssige Requisiten verzichtet, die den Zuschauer vom gesprochenen Wort hätten ablenken können. Die Bühne ist in düsteres Schwarz gekleidet. Mitten im Raum ragt angestrahlt ein Bücherturm empor, dessen Innenraum hohl ist.

Dieses Bühnenbild schwebte Toni Müller nach eigenem Bekunden schon lange vor Augen: „Der einzige Ausgangspunkt meiner Inszenierung war meine jahrelang gepflegte Idee, Faust zu Beginn des Stückes in einen Turm von Büchern einzusperren.“
 
Und so sitzt der arme Tor eingekerkert in all sein Wissen, all sein Zweifeln zwischen Tausenden von gelehrten Seiten und bunten Buchrücken. Am Ende ist der Bücherturm zusammengestürzt, und die Bände liegen zerstreut und zertrampelt auf der Bühne.

Wild geht es auf in Auerbachs Keller. Das ist bei dem Altersdurchschnitt der Protagonisten nicht anders zu erwarten. Disko Musik mit flackernden Spots dröhnt durch die rauschhaften Szenen. Auch Hexenküche und Walpurgisnacht sind von der Leidenschaftlichkeit und dem Geist der jungen Truppe aufs Vortrefflichste verkörpert.

Aus einer Theaterkritik zur Rosenheimer Aufführung: „Schaurig schön tanzten Mephistos Schattenbilder an der Wand, lustig-derb grölten die Studenten mit ihren Sombreros und soffen Wein aus Schläuchen in ‚Auerbachs Keller’. Die Hexenküche hatte Müller in eine Klinik verwandelt, die eine verrucht-verführerische Domina-Hexe (Lilly Fischer) leitete. Mit dem Erscheinen Gretchens (anrührend Elisabeth Fessler) erhielt das Stück einige zarte Momente, besonders die Szene, in der das naive Mädchen Faust nach dessen Religion fragt, und das Ende Valentins (Andreas Schruff im Bundeswehrkampfanzug) schienen die Hörer zu berühren.“

Überstanden

„Die Jugend lässt in diesen Szenen so richtig die Sau raus“, freut sich Peter Stichaner, der selbst den Erdgeist und den bösen Geist gibt. Er ist einer der wenigen Grauhaarigen auf der Bühne. Voller Leidenschaft tritt jedoch auch er in seinen diversen Rollen auf. So zum Beispiel in jenem hitzig-witzig-geistreich geführten Wortgefecht zwischen dem Theaterdirektor, dem Dichter und der lustigen Person.

Natürlich war es ein Wagnis, in einer solchen engagierten, aber eben auch unbefangenen und unerfahrenen Besetzung diesen Stoff aufzuführen. Dem Regisseur Toni Müller ist sein Vorhaben nach knapp einem Jahr Probearbeit gelungen. Das hat eine Menge mit Rosenheim zu tun, wie er meint: „Die Geborgenheit, mit der die Theaterinsel Rosenheim sowohl die Theaterzuschauer als die Theatermacher umschließt, kam voll zum Tragen. Sie half uns, die persönliche Intimität, mit der der Faust geschrieben ist, besser zu erspüren. Wir konnten uns abwenden von der Obsession, Goethes Hauptwerk bedürfe der großen Geste, des weiten Raumes. Immer mehr wurde uns bewusst, dass hier ein genialer Dichter auf sensibelste Art die Tragödie des nach Erfüllung suchenden Menschen formte.“

Zu sehen in Rosenheim und in München

Das Publikum ist dankbar. Die meisten Termine - neben der Premiere weitere zwölf im Oktober – waren bestens besucht bis ausverkauft. Zwei weitere Aufführungen finden am 1. und 2. November in Rosenheim statt. Und weil der Andrang so gewaltig ist, werden am 4., am 5., am 6., am 12. und 13. Dezember zusätzliche Vorstellungen gegeben. Am 8. Dezember kommt die Theaterinsel außerdem ins Studiotheater Black Box des Münchner Kulturzentrums Gasteig.

Der Regisseur beschreibt, wie eingangs zitiert, dass dieser Faust „alle Mitwirkenden in ein hartes Ringen um Verstehen und Verstandenwerden trieb.“ Und er resümiert: „Ob wir siegreich daraus hervorgegangen sind, wissen wir nicht, aber wir wissen, wir haben überlebt.“ Und dieser Satz ist nicht von Goethe. Hier verwendet Toni Müller ein leicht abgewandeltes Zitat aus den Pariser Jahren des Dichters Rainer Maria Rilke. „Wer spricht von Siegen?“, fragte der, „Überstehen ist alles!“

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Info über die Theaterinsel: www.theaterinsel-rosenheim.de

Deutschland Kultur

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