Grundgefühl bei deutschen und russischen Jugendlichen: „Wir haben mit dem Krieg nichts zu tun“VERSÖHNUNG

Grundgefühl bei deutschen und russischen Jugendlichen: „Wir haben mit dem Krieg nichts zu tun“

Grundgefühl bei deutschen und russischen Jugendlichen: „Wir haben mit dem Krieg nichts zu tun“

In Russland wurde der 9. Mai auch in diesem Jahr wieder als „Tag des Sieges“ über den Faschismus gefeiert. Zur Frage, was dieser Tag für deutsche und russische Jugendliche heute bedeutet, sprach das Eurasische Magazin mit Ute Weinmann. Sie betreut seit acht Jahren Jugendliche aus Deutschland, die in Russland einen „Freiwilligendienst“ ableisten.

Von Ulrich Heyden

Ute Weinmann (Erste unten rechts) zusammen mit deutschen Freiwilligen in der russischen Stadt Woronesch, April 2007.  
Ute Weinmann (Erste unten rechts) zusammen mit deutschen Freiwilligen in der russischen Stadt Woronesch, April 2007.
(Foto: privat, copyright by Ute Weinmann, Moskau 2007)
 
  Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
  Seit dem Zerfall der Sowjetunion haben mehrere Hundert deutsche Jugendliche an dem Freiwilligendienst und den Sommerlagern der „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ in Russland teilgenommen. Der Freiwilligendienst dauert ein Jahr. Bei den jungen Männern wird er als Ersatzdienst anerkannt.

Die Jugendlichen werden in Seminaren vorbereitet und während ihres Aufenthalts fortlaufend betreut. Viele russische Jugendliche wurden von ASF auch zu einem Freiwilligendienst in Deutschland vermittelt.

www.asf-ev.de

Eurasisches Magazin: Frau Weinmann, sie sind Länderbeauftragte der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste für Russland. Was machen die deutschen Freiwilligen in Russland?

Ute Weinmann: Sie betreuen alte Menschen, die unter Stalin im Gulag waren und Menschen, die von den Nazis zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt wurden. In einer Schule in St. Petersburg unterrichten sie Roma-Kinder. In diesem Jahr machen wir in dem Moskauer Vorort Butowo zusammen mit der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ und der orthodoxen Kirche ein Sommerlager, auf einem Platz, wo unter Stalin 1937 zehntausende so genannter „Volksfeinde“ erschossen wurden.

EM: Und daran gibt es Interesse bei russischen Jugendlichen?
 
Weinmann: Viele russische Jugendliche suchen nach einer Möglichkeit ihre Ferien irgendwie interessant und kostengünstig zu verbringen. Es gibt auch ein großes Interesse, etwas mit deutschen Jugendlichen zusammen zu machen und neue Kontakte zu knüpfen.

EM: Wie empfinden sie als Deutsche die Feierlichkeiten zum 9. Mai in Russland?

Weinmann: In Deutschland ist das ein Gedenktag, kein Tag an dem gefeiert wird. In Russland ist das ein Freudentag. Man feiert den Sieg über den Faschismus und lebt das auch offen aus. Allerdings mag ich keine Militärparaden, deshalb gehe ich an diesem Tag nicht auf den Roten Platz.

EM: Welche Rolle spielt dieser Feiertag heute?

Weinmann: Die Regierung nutzt den Tag propagandistisch. Man sagt, wir kümmern uns um unsere Veteranen, das ist unser Sieg. Aber man weiß ja, dass die Veteranen in Russland kein rosiges Leben haben. Gerade für die jüngere Generation ist es aber wichtig, dass an den Tag gedacht wird, obwohl sie bei den Feiern eigentlich wenig erfahren, was in dem Krieg wirklich passiert ist.

Mit einem abstrakten Schuldgefühl können die Russen nichts anfangen

EM: Gibt es bei den deutschen Freiwilligen noch ein Gefühl der Schuld?
 
Weinmann: Der Krieg wird sehr abstrakt aufgefasst. Es gibt eher das Gefühl, „wir haben mit dem Krieg nichts zu tun.“ Mein Eindruck ist, dass sowohl die deutschen Freiwilligen als auch die russischen Jugendlichen gar nicht wirklich Bescheid wissen. Besonders problematisch ist die Situation in Weißrussland. Dort halten sich Veteranenverbände und offizielle Stellen mit kritischen Fragen zur Geschichte zurück. Man möchte die deutschen Firmen, die in Weißrussland in großer Zahl vertreten sind, mit unangenehmen Fragen verschonen. Meiner Meinung nach ist es nicht richtig einen Schleier über dieses Kapitel zu legen. Immerhin wurde ein Drittel der Bevölkerung in Weißrussland von den deutschen Truppen getötet.

EM: Man hört in Russland oft, die Deutschen litten an einem Schuldkomplex.

Weinmann: Die Russen fragen sich einfach, was erwächst aus dem – wie sie sagen - „Schuldkomplex“? Hilfestellung oder Verständnis für den Alltag in Russland? Die Russen können mit abstrakter Schuld einfach nichts anfangen. Das kann ich verstehen. Das Gefühl der Schuld gibt es auf deutscher Seite aber eher bei der älteren Generation. Wenn ältere Leute den deutschen Soldatenfriedhof in Wolgograd besuchen, dann suchen sie nach Wegen mit der Vergangenheit umzugehen. Bei den jungen deutschen Freiwilligen, die ich betreue, gibt es diesen Komplex nicht, weil man sich einfach davon distanziert, was damals passiert ist.

EM: Entstehen aus dem Freiwilligendienst in Russland feste Kontakte zu russischen Jugendlichen?

Weinmann: Bei einem Drittel unserer Jugendlichen entstehen so enge Verbindungen zu Russland, dass sie immer mal wieder herkommen. Viele Jugendlicher, die in Minsk waren, haben Weißrussen und Weißrussinnen geheiratet. Nicht wenige studieren später Osteuropa-Wissenschaften. Zunehmend wird der Freiwilligen-Dienst auch von Deutsch-Russen absolviert. Die Verbindung zu Russland bleibt.

 „Sie wollte keine Deutschen in der Wohnung“

EM: Können Sie ein Beispiel schildern, wo auf der menschlichen Ebene Versöhnung geglückt ist?

Weinmann: Da gab es einen alten Mann in Wolgograd, dem früheren Stalingrad, der in Deutschland Zwangsarbeit geleistet hat. Der alte Mann hat sich über mehrere Jahre mit deutschen Freiwilligen zum Gedankenaustausch in der Stadt getroffen. Seine Frau wollte die deutschen Jugendlichen nicht in die Wohnung lassen. Nach einer längeren Zeit hat die Frau dann gesagt, dass sie die Hilfe der deutschen Freiwilligen anerkennt. Sie hat die Jugendlichen in ihre Wohnung gebeten. Ich finde, das ist unheimlich viel.
 
EM: Ist es den Russen peinlich, dass deutsche Jugendliche zur Sozialarbeit nach Russland kommen?

Weinmann: Das ist nur wenigen Russen peinlich. Die Sache ist eine andere: Die Leute verstehen nicht, warum Jugendlichen aus einem Wohlstands-Land nach Russland kommen und sich nicht nur für die schönen Seiten des Landes interessieren.

EM: Von deutscher Seite gibt es nun schon seit Jahrzehnten Versöhnungsarbeit. Ist da nicht inzwischen die Luft raus?

Weinmann: Ich merke, dass viele Dinge noch gar nicht gemeinsam aufgearbeitet wurden. Wenn man mit deutschen Jugendlichen über den deutschen Soldatenfriedhof im heutigen Wolgograd geht, dem früheren Stalingrad, merkt man, das ist nichts Abgegessenes. Für die russischen Jugendlichen ist es wiederum wichtig zu erfahren, dass man einen anderen Blick auf Geschichte haben kann, als den, den sie hier in Russland vermittelt bekommen. Außerdem interessieren sich die russischen Jugendlichen sehr dafür, wie die Deutschen ihre totalitäre Vergangenheit aufgearbeitet haben.

„Hysterischer Patriotismus“

EM: Was sind das für Jugendliche, die aus Protest gegen die Verlegung eines sowjetischen Soldatendenkmals in der estnischen Hauptstadt Tallin tagelang die estnische Botschaft in Moskau belagerten?

Weinmann: Dort protestierten Mitglieder der Jugendorganisation Naschi, „Die Unsrigen“. Die Organisation wurde von einem ehemaligen Mitarbeiter der Präsidialadministration gegründet. Darin herrscht ein fast schon hysterischer Patriotismus. Letztlich ging es im Prinzip gar nicht um das Soldaten-Denkmal in Tallin. Ansonsten würde auch protestiert, wenn in Russland Soldaten-Denkmäler und Gräber verlegt werden. Es geht um den verloren gegangen Einfluss in den baltischen Staaten. Dazu kommt ein zweites Problem: Bei dem Umgang mit der russischsprachigen Bevölkerung in Estland gibt es die Tendenz der Abrechnung mit der repressiven sowjetischen Vergangenheit.

EM: Finden Sie es nachvollziehbar, dass die Esten den „bronzenen Soldaten“ und die Gräber der sowjetischen Soldaten von einem öffentlichen Platz auf den Militärfriedhof von Tallin verlegt haben?

Weinmann: Ich persönlich bin gegen die Verlegung von solchen Denkmälern. Ob es den Esten nun passt oder nicht, sie haben sich nicht selbst von der Hitler-Wehrmacht befreit. Die Rote Armee hat sie befreit. Außerdem: Das Soldaten-Denkmal orientiert sich an dem Vorbild eines estnischen Antifaschisten. Ich finde, wenn die Esten mit dieser Vergangenheit nicht einverstanden sind, dann sollen sie doch ein anderes Denkmal aufstellen. Indem der „bronzene Soldat“ auf den Militärfriedhof verlegt wird, macht man aus der Befreiung vom Faschismus ein militärisches Problem.
 
EM: Sie leben seit 12 Jahren Russland. Sind sie noch in guter Stimmung?

Weinmann: Soweit man hier in einer guten Stimmung sein kann (lacht). Auf jeden Fall will ich erst mal hier bleiben.

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