Islamisten auf den Spuren Ataturks

Islamisten auf den Spuren Ataturks

Seit einem Jahr regiert die islamische AK-Partei die Turkei und setzt alles daran, das Land in die EU zu fuhren. Sollte sie ihr Reformtempo fortsetzen werden die Islamisten schaffen, wovon der streng laizistische Staatsgrunder Kemal Ataturk geträumt hat: Die Turkei nach Europa zu fuhren.

Von Markus Müller

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Wie froh ich bin, mich selber Türken nennenzu können“ – Denkmäler des Staatsgründers Atatürkfindet man auch im kleinsten Dorf. 

EM - Knüpfen, schneiden, klopfen. Zehn Stunden sitztGüler Tugrul jeden Tag vor dem Knüpfstuhl, drei Monate dauert es,bis ein Teppich fertig ist. Für die drei Monate Arbeit bekommt sie 250Millionen türkische Lira – umgerechnet gerade 180 Euro. Sogar hier inZentralanatolien, in dem kleinen Ort Taspinar, kommt man mit diesem Gehaltkaum über die Runden. Güler lebt zusammen mit ihren drei kleinenKindern und ihrer Schwägerin, fließendes Wasser haben sie keines.Die Ehemänner der beiden und Gülers ältester Sohn arbeiten inIstanbul und schicken gelegentlich ein wenig Geld. Doch wenn die Türkeider Europäischen Union beitritt, wird alles besser, meint Güler.

Ist die Türkei reif für den Beitritt zur EU? Noch nicht ganz, glaubtder Bürgermeister von Taspinar, Musar Örun. Die Wirtschaft müsseerst auf EU-Standards gebracht werden. Wie das gehen soll? Die neue Regierungder AK-Partei wird das schon hinkriegen, ist Örun überzeugt. DieRegierung habe Taspinar ein Projekt bewilligt, mit dem die Teppichknüpferdes Ortes ihre Rohstoffe in Zukunft selber herstellen und damit mehr verdienenkönnen. Früher sei er Mitglied bei der sozialdemokratischen ParteiDSP gewesen, erzählt der Bürgermeister. Doch weil die AK-Partei ihrReformprogramm so erfolgreich durchziehe, habe er zu ihnen gewechselt. Aufdie Frage, ob das nicht ein großer ideologischer Sprung gewesen sei,lacht Musar Örun, in dessen Büro das übliche Bild des StaatsgründersAtatürk hängt, verlegen.

Die AKP auf Westkurs

Seit knapp einem Jahr ist die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ kurz, „AK-Partei“ inder Türkei an der Regierung – wohl kein Zufall, daß ihre Kürzelzugleich „weiß“ oder „sauber“ bedeutet. Die AK-Partei hat die Politikim EU-Kandidatenland kräftig umgekrempelt. Bei den Wahlen im Novemberletzten Jahres haben die Wähler ihren Unmut über das alte politischeSystem deutlich zum Ausdruck gebracht: Keine einzige der bis dahin im Parlamentoder der Regierung vertretenen Parteien hat den Wiedereinzug in die Volksvertretunggeschafft, und die AK-Partei konnte mit 34 Prozent der Stimmen eine absoluteMehrheit erringen. Ihr steht nur mehr die sozialdemokratisch orientierte RepublikanischeVolkspartei CHP gegenüber.

Hervorgegangen ist die AK-Partei zwar aus dem islamischen und islamistischenMilieu. Ihr Vorsitzender Recep Tayyip Erdogan mußte wegen des öffentlichenVorlesens eines vermeintlich islamistischen Gedichtes sogar ins Gefängnis.Doch seit ihrer Regierungsübernahme setzt die AK-Partei auf einen kompromißlosenWestkurs. Sieben Reform-Pakete hat die Regierung inzwischen beschlossen, diedas Land – in den 90ern ein Synonym für Hyperinflation, Folter und Unterdrückungethnischer Minderheiten – an die EU anpassen sollen. Weitere Reformen sollenfolgen. Die früher verbotene kurdische Sprache darf inzwischen öffentlichund sogar in den Medien gebraucht werden. Und deutsche Menschenrechtsorganisationenhaben Ministerpräsident Erdogan bei seinem letzten Besuch in Deutschlandgroße Fortschritte im Kampf gegen die Folter attestiert. „Die Türkeiist der EU im vergangenen Jahr näher gekommen,“ bestätigt der EU-Botschafterin Ankara, Hansjörg Kretschmer. „Die Regierung hat Reformen durchgeführt,die kaum, jemand für möglich gehalten hat.“

EU-Beitrittsverhandlungen nicht vor 2005

Seit den 60er Jahren versucht die Türkei, ihre Beziehungen mit der EU,die damals noch Europäische Gemeinschaft (EG) hieß, zu intensivieren.1963 wurde ein Assoziierungsabkommen geschlossen, doch auf weitere Annäherungsversucheder Türkei reagierten die Europäer zurückhaltend. Ausschlaggebendwaren hierfür die beiden Militärputsche (1960, 1980), der türkisch-griechischeKonflikt um Zypern, die Kurdenfrage und nicht zuletzt der anhaltende Widerstanddes Nachbarlandes Griechenland, das bereits seit 1986 Mitglied in der EU ist.Im Zuge der aktuellen Ost-Erweiterung der EU hofften auch die Türken,auf den Beitrittszug aufspringen zu können. Doch während beim Gipfelin Kopenhagen im Dezember 2002 der Beitritt von zehn Ländern Ost-, Mittel-und Südeuropas in die EU beschlossen wurde, konnten sich die europäischenStaats- und Regierungschefs nicht einmal darauf einigen, ob mit der Türkei überhauptVerhandlungen aufgenommen werden sollten. Die Türkei fühlte sichin den Hintergrund gedrängt, was der damalige türkische MinisterpräsidentGül auch lautstark kundtat: Während die Osteuropäer um einenBeitrittstermin verhandeln dürften, bekomme sein Land nicht einmal einen „Terminfür einen Termin“, also ein Datum für die Aufnahme von Verhandlungen.Seit damals bemüht sich die Regierung der AK-Partei um so heftiger, diesogenannten Kopenhagener Kriterien für Demokratie, Menschenrechte undMarktwirtschaft zu erfüllen. Im Dezember 2004 sollen die Staats- und Regierungschefsder künftig 25 EU-Mitgliedsländer dann entscheiden, ob und wann mitder Türkei Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. „Viele Europäerwerden dann in einer Patt-Situation sein,“ meint ein Diplomat eines EU-Staatesin Ankara, der nicht genannt werden will. „Als sie die Kopenhagener Kriterienaufgestellt haben, hat wohl niemand damit gerechnet, daß die Türkeisie auch erfüllen kann. Jetzt, nach den Anstrengungen der AK-Partei, könnensie es sich aber fast nicht mehr leisten, nein zu sagen.“

Denn während in der Türkei fast eine EU-Euphorie herrscht, brummtden Europäern der Schädel. Der Widerstand gegen einen Beitritt derTürken ist groß, getragen vor allem von konservativen und christlich-sozialenParteien. In Deutschland tritt die CSU deutlich gegen einen Beitritt ein, auchder Vorsitzende des EU-Verfassungskonvents, Valery Giscard d´Estaing,hat erklärt, er wolle die Türken nicht in der EU sehen.

„Die Türkei ist eine Mischung aus der Schweiz und Bangladesh“

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Anit Kabir, das Mausoleum von Atatürk, zähltzu den wichtigsten Attraktionen der Hauptstadt Ankara. 

„Die Europäer haben ein falsches Bild von der Türkei“, meint dazuAydin Engin. Der frühere Chefredakteur der türkischen Zeitung „Cumhürriyet“ mußtenach dem Militärputsch 1980 aus seiner Heimat fliehen. Er hat dann 12Jahre in Frankfurt gelebt – wo er gemeinsam mit Joschka Fischer Taxifahrerwar, wie er gerne erzählt. Die Menschen in der EU würden bei derTürkei in erster Linie an die Arbeitsmigranten denken, die sie aus ihrenStädten kennen: An schlecht ausgebildete Menschen, die sich nicht in dieGesellschaft integrieren wollen, keine Fremdsprachen beherrschen, und derenFrauen immer ein Kopftuch tragen würden. „Diese Menschen kommen aus Ostanatolien,sie stehen nur für einen ganz kleinen Teil der türkischen Gesellschaft.Im Westen der Türkei, in Istanbul, Izmir oder Ankara werden Sie nur sehrwenig Unterschiede zu den Gesellschaften in Westeuropa finden.“ Die Unterschiedeinnerhalb der Türkei seien deutlich größer als der zwischendem entwickelten Westen Anatoliens und der EU, die Europäer würdenaber nur den unterentwickelten Osten sehen. Der frühere deutsche BundestagsabgeordneteCem Özdemir stößt ins gleiche Horn. „Die Türkei ist eineMischung aus der Schweiz und Bangladesh“, meint er.

Dazu kommen zwei weitere Probleme: Die Kurdenfrage und die Rolle des Militärs.In den 90ern führte die türkische Armee im Südosten des Landeseinen blutigen Bürgerkrieg gegen die separatistische Kurden-Partei PKK.Der Gebrauch der kurdischen Sprache war verboten. In den letzten Jahren aberhabe sich die Lage entspannt, bestätigt Ümit Firat, Herausgeber derkurdischen Zeitung „Serbesti-Freiheit“. Mit der Regierungsübernahme durchdie AK-Partei habe sich die Lage stark verbessert. Firat führt das daraufzurück, daß die Islamisten der AKP ebenso wie die Kurden unter denMilitärs zu leiden gehabt hätten. Vom Ziel der Kurden, frei und gleichberechtigt,ohne Polizeikontrollen und Schikanen in der Türkei leben zu können,sei man aber noch weit entfernt. Notwendig für eine weitere Liberalisierungsei vor allem die endgültige Entmachtung des nationalen Sicherheitsrates,meint Firat. Das Gremium ist ein Überbleibsel des Militärputschesvon 1960, es besteht aus Vertretern des Militärs und der Regierung. Offiziellhat der Sicherheitsrat nur beratende Funktion. Tatsächlich machte dieArmee aber mit seiner Hilfe ihre Macht geltend, zuletzt beim Rücktrittder ersten islamistischen Regierung von Necmettin Erbakan 1997. Mit einer derletzten Reformen der AK-Partei wurde der nationale Sicherheitsrat offiziellentmachtet, statt einem General wird er jetzt von einem Zivilisten geleitet.Wie mächtig der Sicherheitsrat und die Armee faktisch noch sind, zähltzu den meist diskutierten Fragen in der Türkei. Die Armee habe aber vielMacht aufgegeben, meint etwa Sedat Ergin, der Leiter des Ankara-Bürosder größten türkischen Zeitung „Hürriyet“. Er veranschaulichtdas an der umstrittenen Entscheidung des türkischen Parlaments in diesemFrühjahr, am Krieg gegen den Irak nicht teilzunehmen und den Amerikanerndie Nutzung türkischen Territoriums zu verweigern. Und das obwohl derranghöchste türkische General, Hilmi Ozkok, sich für die Sacheder Amerikaner einsetzte. „Das Parlament hat das abgelehnt. Was hättedas Militär da machen sollen?“, meint Ergin.

„Die AK-Partei ist Islam-light“

Neben der Macht des nationalen Sicherheitsrates wird in der Türkei vorallem die Frage einer „Verborgenen Agenda“ der AK-Partei diskutiert. Die Befürchtungvieler gemäßigter und kemalistischer Türken ist, daß dieAK-Partei sich zwar demokratisch gibt, in Wirklichkeit aber nur ihre Kaderin Position bringen will, um später einen islamistischen Staat zu errichten.Sedat Ergin sieht hierfür jedoch keine Indizien. Er macht drei Denkschulenunter den türkischen Intellektuellen aus: Gemäß der erstenhabe sich die AK-Partei tatsächlich gewandelt und versuche, eine normalekonservative Partei zu werden. Laut der zweiten habe sich die Partei nichtgewandelt, sondern gebe nur vor, die Türkei nach Europa führen zuwollen. Die dritte Denkschule vertrete die Auffassung, die AK-Partei wisseselber nicht so genau, was sie wolle und gebe jetzt nur dem Druck der Bevölkerungnach, die mit überwältigender Mehrheit für die Annäherungan die EU sei. Ergins Kollege Aydin Engin von der „Cumhürriyet“ ergänzt: „Esgibt weiterhin eine islamistische Partei: die „Sadet“ von Necmettin Erbakan,die allerdings bei den letzten Wahlen nur 3 Prozent der Stimmen bekommen hat.Die AK-Partei ist dagegen Islam-light, so wie Cola light.“

Neben der Angst vor den Islamisten fürchten sich viele Europäervor der hohen Bevölkerungszahl der Türkei: 70 Millionen Menschenleben hier, nach einem Beitritt wäre die Türkei mit einem Schlagdas zweitgrößte Land in der EU, noch vor Frankreich, Großbritannienoder Italien. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf beträgt rund 3.000 Dollar – etwaein Drittel des europäischen Durchschnitts. Nach den derzeit gängigenFördermechanismen würde der europäische Haushalt diese Belastungnicht verkraften. Das sei aber kein Problem, wendet Seyfi Tashan ein. Er istDirektor des Türkischen Institutes für Außenpolitik, einerkemalistischen Denkfabrik in Ankara. Auch bei der jetzigen EU-Erweiterung gebees lange Übergangsfristen bei den Förderungen.

Problematischer ist nach Meinung Tashans derzeit die Zypern-Frage: Da dieVerhandlungen zwischen dem türkischen und dem griechischen Teil Zypernsin diesen Sommer gescheitert sind, trete die griechische Republik Zypern imMai 2004 allein der EU bei. Der Norden werde zwar rechtlich auch Mitglied,die dort stationierten türkischen Truppen machten diese Regelung jedochbelanglos. Nordzypern habe damit einen Status wie die DDR vor der Wiedervereinigung,so Tashan. Es entstehe die unangenehme Situation, daß die Türkeiden Teil eines EU-Mitgliedes militärisch besetzt halte.

„Als Großmacht braucht Europa die Türkei“

Wie dieses Problem gelöst werden soll, ist derzeit völlig offen.Seyfi Tashan setzt auf die Wahlen in Nord-Zypern im Dezember und die Entmachtungdes dortigen Präsidenten Denktash. Europa komme ohne die Türkei nichtaus, meint der Experte für Außenpolitik: Wenn die EU Einfluß imNahen Osten gewinnen und eine gleichberechtigte Rolle mit den Amerikanern spielenwolle, müsse sie die Türkei aufnehmen. Die Türkei könnedabei auch eine Brückenfunktion haben: Nicht nur zu den Ölfeldernim Nahen Osten, im Kaukasus und Zentralasien, sondern auch zu den Amerikanern.Die strategische Freundschaft der Türkei mit den Amerikanern habe einelange Tradition, wie sich jetzt wieder an der Entsendung von 10.000 Soldatenin den Irak zeige. Gleichzeitig könne die Türkei aber auch ohne dieEuropäer nicht auskommen: „Wir sind heute der Idee unseres StaatsgründersAtatürk sehr nahe gekommen, die Türkei auf das Niveau der westlichenZivilisation zu heben. Der Beitritt zur EU würde garantieren, daß wirauch in Zukunft dort bleiben“, meint der Tashan. „Ob die Türkei EU-Mitgliedwird oder nicht, werden nicht wir entscheiden, sondern die Europäer,“ ergänztder Hürriyet-Journalist Sedat Ergin. „Wenn sie weiter im Garten der Amerikanerspielen wollen, brauchen sie die Türkei nicht. Aber wenn Europa selbereine Großmacht werden will, wird es ohne die Türkei nicht auskommen.“

EU Religion Türkei

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