Mit der Drahtschere in die FreiheitSCHICKSALSJAHR 89

Mit der Drahtschere in die Freiheit

Mit der Drahtschere in die Freiheit

Am 27. Juni 1989 durchschnitt der ungarische Außenminister Gyula Horn, assistiert von seinem österreichischen Kollegen Alois Mock, den Stacheldraht an der ungarischen Westgrenze bei Sopron. Dieser symbolische Akt war der Anfang vom Ende des Eisernen Vorhangs. Immer mehr Menschen aus der DDR reisten danach in den „Bruderstaat“ Ungarn ein, um von hier nach Österreich und damit in den Westen zu entkommen. Im August 89 flohen bereits Tausende über die ungarisch-österreichische Grenze. Einer von ihnen war Lars Krüger aus Zerbst bei Magdeburg. Der Reporter Johann v. Arnsberg ließ seinen westdeutschen Paß bei einem Kollegen in Ungarn zurück und flüchtete mit dem jungen Mann aus der DDR über die Grenze nach Österreich. Seine Reportage ist damit nach dem Wissensstand der EM-Redaktion die einzige authentische Schilderung der Flucht eines DDR-Bürgers über Ungarn in den Westen.

Von Johann von Arnsberg

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Geschafft - mit Handschuhen und Drahtzange hat sich Lars aus Zerbst den Weg durch die Grenzsperren zwischen Ungarn und Österreich gebahnt.
Foto: Hayo Perger
 

EM – Der Abend ist wunderschön, aber wir haben ein Scheißgefühl im Magen. Denn in dieser Nacht wollen wir über die Grenze. 300 Meter vor uns im Wald liegt die erste Stacheldrahtrolle. Dicht am Straßenrand. Irgendwo dahinter, wo das Licht der untergehenden Sonne noch durch die Bäume schimmert, liegt Österreich. Der Westen. Die Freiheit. Was uns auf dem Weg dorthin erwartet, wissen wir nicht. Im Fernsehen hatten sie gezeigt, daß die Sperranlagen zwischen Ungarn und Österreich abgebaut werden. Vielleicht kommen wir ja ungehindert rüber. Vielleicht auch nicht. Grenze ist Grenze.

Lars Krüger aus Zerbst bei Magdeburg, 21 Jahre alt, schmal, nervös, hört seit einer halben Stunde angestrengt auf jedes Geräusch in der Umgebung. Geduckt nähern wir uns dem Stacheldraht. Wir finden eine Stelle, an der zu unserer Verwunderung schon eine Lücke in dem verrosteten Zaun klafft. Rasch schlüpfen wir durch. Es geht bergauf. Das alte Laub raschelt. Plötzlich schnelle Schritte. Wir werfen uns hinter einen Baum. Das Getrappel kommt näher. Es muß ein ganzer Trupp sein. Mir fällt ein, daß eine alte Ungarin am Nachmittag erzählt hatte, in der Nähe befinde sich eine Kaserne. Sie sagte, vor ein paar Tagen hätte sie hier Schüsse und Alarmsirenen gehört. Lars und ich kauern hinter dem rissigen Stamm und denken wohl beide das Gleiche: Soll hier schon alles aus sein?

Das Zirpen der Grillen erfüllt eine Schneise vor uns. Hier muß die Grenze verlaufen

Doch die Schritte entfernen sich rasch wieder. Plötzlich zerreißt der kehlige Brunftschrei eines Rehbocks die Stille. Das Getrappel war also von einem Wildwechsel gekommen. Wir atmen erleichtert auf. „Wenn sich hier Rehe tummeln, werden wohl kaum Soldaten da sein“, flüstert mir Lars beruhigend zu.

Etwa hundert, hundertfünfzig Schritte bergauf zeichnet sich im diffusen Nachtlicht der Waldrand ab. Hinter Gestrüpp verborgen horchen wir noch eine Weile in die Dunkelheit. Einige verspätete Grillen wetzen mit den Schrill-Leisten ihre Flügel. Das Zirpen erfüllt eine Schneise vor uns. Hier muß die eigentliche Grenze verlaufen.

Langsam schieben wir unsere Körper aus dem Schatten. Vor uns wird ein Patrouillenweg sichtbar, dahinter wieder Stacheldraht. Er ist mannshoch, gehört zu einem Zaun, der sich zwischen Betonpfosten spannt. Wir flüstern und sind uns rasch einig, an einem der Pfosten hinüberzuklettern.

Zwei Mann mit geschulterter Waffe. Schemenhaft kommen sie auf uns zu. Ohne Frage: ungarische Grenzer.

Zwei, drei geduckte Schritte. Nun kauern wir vor dem Zaun. Lars will zuerst rüber. Er ist jünger, leichter. Seine Hände legen sich um den Pfosten. Er zieht sich hoch – und erstarrt. „Eine Streife“, zischt er, „dort drüben, nichts wie weg!“ Ich reiße den Kopf herum in die angezeigte Richtung und sehe sie sofort. Zwei Mann mit geschulterter Waffe. Schemenhaft kommen sie aus dem Dunkel auf uns zu. Ohne Frage: ungarische Grenzer.

Sie sind überrascht, wie wir. Wir fangen uns zuerst, springen zurück in den bergenden Wald. „Halt, halt!“ brüllen sie uns auf deutsch hinterher. Sie machen ihre Suchscheinwerfer an. Wir rennen, stolpern über Äste, raffen uns wieder auf. „Halt, halt!“ schreien sie hinter uns. Wir hören das Krachen, das ihre Schritte auf dürren Ästen auslösen. Laufen, laufen, nur nicht wieder stürzen. Vorwärts. Wir sehen die Straße, über die wir zur Grenze gekommen waren vor uns, rennen zurück nach Ungarn.

Wir sind ihnen entkommen. Oder besser: sie ließen uns entkommen. Sie haben aufgegeben, sind zurück zu ihrer Grenze, die sie bewachen sollten. Den Weg in die Freiheit aber haben sie uns dennoch versperrt.

Das sollte die „grüne Grenze“ sein, von der die Zeitungen voll waren? Der Stacheldraht würde sogar schon als Souvenir verkauft, hatten wir gelesen. Die Realität sah offenkundig anders aus.

Den gesamten nächsten Tag recherchierten wir im Hinterland der Grenze. Was wir dabei erfuhren, war nicht ermutigend: Vor der internationalen Presse waren Sicherheitszäune fernsehwirksam abgebaut worden, aber es waren solche, die noch weit von der eigentlichen Grenze entfernt auf ungarischem Gebiet gelegen hatten. So waren zwar einige Sperrbezirke aufgehoben worden, zu denen bis vor wenigen Tagen selbst Ungarn nur mit Sondergenehmigung Zutritt fanden. An der eigentlichen Grenze aber stand der Stacheldrahtzaun in unveränderter Häßlichkeit. Wir hatten ihn im Dunkel der Nacht gesehen. Und die bewaffneten Streifen, die an ihm patrouillierten. Sie würden „im Prinzip“ nicht schießen, erfuhren wir. Man käme auch rasch wieder frei, wenn sie einen faßten, wurde uns gesagt. Diskriminierende Stempel in den Pässen, die einen als „Republikflüchtling“ auswiesen und mit denen man dann in die DDR zurückgeschickt würde, bräuchte man nicht mehr zu fürchten, hörten wir in den Nachrichten. Alles „im Prinzip“. Das Risiko blieb.

„Diesmal flüchten wir nur nach vorn. Nach Österreich. Auf keinen Fall gehe ich wieder zurück.“

Am Abend machten wir trotzdem den nächsten Anlauf. „Diesmal flüchten wir nur nach vorn. Nach Österreich. Auf keinen Fall gehe ich wieder zurück“, hatte Lars beschlossen. Für seine „Flucht ohne Wiederkehr“ hatte er sich entsprechend gerüstet: nachtschwarze Jeans, dunkles Hemd, Arbeitshandschuhe, eine einem Bolzenschneider ähnliche Drahtschere. Der Stacheldraht sollte im Liegen überwunden werden. Ins Gras gekauert wollten wir ein Loch schneiden. So mußte es gehen.

Wieder lagen wir im Gestrüpp vor der Grenzschneise. Die Grillen hielten ihre Flügel still in dieser Nacht. Dafür goß es in Strömen. Blitze ließen für Sekundenbruchteile den Wald in fluoreszierendem Graugrün aufleuchten. Die Zaunpfähle aus Beton warfen ein bläuliches Licht dazwischen. Wasser lief uns in den Hals. Kräuter dufteten unter uns im nassen Gras. Von den Füßen aus kroch die Nässe hoch.

Ich hatte den Jungen vor zwei Tagen kennengelernt. In brütender Hitze war er ziellos durch die Zeltgassen des Campingplatzes „Romai Pard“ in Budapest geirrt. Ich hatte ihn angesprochen. Er wirkte schüchtern, war äußerst mißtrauisch. Furcht, Hoffnung, Sehnsucht - von allem stand etwas in seinen Augen zu lesen. Schließlich, als er es glauben mochte, daß ich Journalist sei, hatte er angedeutet, „nach Österreich machen“ zu wollen. Seinen Kumpels sei er einfach ohne ein Wort davongelaufen. Das Motorrad, mit dem er aus der DDR gekommen war, hätte er schweren Herzens irgendwo auf dem Gelände stehengelassen. Er würde wohl nie erfahren, was daraus geworden ist.

Flucht vor der „inneren Mauer“.

Seit zwei Tagen waren wir jetzt zusammen, der 21jährige Fernmeldemechaniker aus dem Bezirk Magdeburg und ich, der mehr als doppelt so alte Journalist aus München. Ich konnte viel über die Beweggründe erfahren, die ihn zur Flucht getrieben hatten, vieles über seine Hoffnungslosigkeit, sein Leiden an der „inneren Mauer“, wie er es nannte. Er sei an sich so etwas wie ein Privilegierter gewesen, drüben: Facharbeiter mit 1000 Mark netto, einer „eigenen Telefonnebenstelle im Betrieb“. Keine materiellen Sorgen hätten ihn geplagt. Aber: „Ich konnte mit niemandem reden. Wenn ich irgendeinen fragte, zum Beispiel wegen Tschernobyl, wegen der Teilung, wegen der Demokratieunterdrückung in China, wegen unserer Rückständigkeit bei modernen Kommunikationstechniken, bekam ich nie eine echte Antwort“, klagte Lars. „Alles ist vorgestanzt. Jede Antwort. Du kannst nicht offen reden und nicht richtig streiten, nicht sinnvoll diskutieren. Alles ist völlig verlogen und total kontrolliert.“

Lars wollte raus, um fast jeden Preis. „Das schafft man aber nur, solange man jung ist“, sagte er sich immer wieder. Also fuhr er mit 360 DDR-Mark los. Mehr durfte er nicht mitnehmen für seinen genehmigten 12-Tage-Urlaub in Ungarn.

Wir krochen auf dem Bauch zum Zaun. Lars zwickte den ersten Draht durch. Wir hielten beide den Atem an. Würden jetzt gleich Lampen aufleuchten, Sirenen losheulen, Hunde heranhetzen?

Nichts geschah. Nur der Regen wurde noch heftiger. Der Donner krachte in kürzeren Abständen. Das Gewitter war direkt über uns.

Vier Drähte waren durch. Etwa einen halben Meter über dem Boden. Unten bestand der Zaun aus Maschendraht. Ihn durchzuschneiden hätte zu lange gedauert. Den Kopf voraus zwängte sich Lars durch das entstandene Loch im Grenzzaun, rutschte über den gespannten Maschendraht. Drüben fiel er in die Brennesseln, die im Graben wucherten. Er fluchte einen Moment leise vor sich hin. Ich folgte ihm auf die andere Seite. Danach rührten wir uns beide eine Weile nicht mehr, lauschten angestrengt in die Nacht.

Aber es kam keine Patrouille. Kein Alarm ging an. Lars kroch weiter. Etwa zwanzig Meter. Dann lag er vor Zaun zwo. Dahinter war ein Patrouillenweg zu erkennen. Diesmal also auf der anderen Seite des Zauns. Wir hatten offensichtlich nicht den gleichen Grenzabschnitt erwischt, wie in der Nacht zuvor.

Der Stacheldraht zog eine blutige Spur über seinen Rücken.

Am zweiten Loch zerriß der Junge aus Zerbst sich das dünne Hemd. Der Stacheldraht zog eine blutige Spur über seinen Rücken. Bei mir war es nur das Textil, das an den scharfen Kanten des Drahtverhaus zerschliß. Wir robbten über den Weg. Plötzlich lief mir warmes Blut übers Gesicht. Ich war mit dem Kopf an eine Stacheldrahtrolle gestoßen. Wir lagen vor Hindernis drei: Gerollter Draht, dahinter ein neuer Zaun.

Lars drückte verbissen die Drahtzange in das Gewirr. Es dauerte endlose Minuten, bis er die Rolle soweit aufgeschnitten hatte, daß wir durchkriechen konnten. Dann noch der Zaun. Auch hier zwängten wir uns durch eine viel zu enge, mühsam aufgezwickte Öffnung. Die Hemden hingen schließlich nur noch in Fetzen an uns. Überall hatten wir blutige Striemen.

Vorsichtig erhoben wir uns und tauchten in einen halbhohen Wald ein. Aber plötzlich schnitt eiskalter Draht in meinen Hals. Offenkundig ein Signaldraht. Aber in dieser Höhe? Egal, das konnten wir nicht untersuchen. Vielleicht ein Berührungsmelder, eine Falle. Vielleicht auch nicht. Nichts rührte sich und wir stolperten weiter.

Vor uns türmte sich auf einmal eine riesige schwarze Wand auf. Beim Näherkommen stellte sich heraus, daß es eine Hecke war. Mindestens drei Meter hoch. Sie war Jahrzehnte alt und unüberwindlich, bestand aus Brombeeren, Schlinggewächsen, Schlehen. Auch ein Durchkommen war so gut wie ausgeschlossen.

Moder, Spinnen, Schnaken und der beißende Geruch von Tierexkrementen begleiteten uns.

Lars und ich krochen auf dem Bauch mühsam durch die engstehenden Büsche. Hier unten kam kaum je Licht hin, und die Hecke war daher nicht so üppig, wie in den oberen Regionen. Moder, Spinnen, Schnaken und der beißende Geruch von Tierexkrementen begleiteten uns. Schweiß brach aus allen Poren. Der Körper juckte überall. Meter für Meter robbten wir voran.

Ganz plötzlich hörte der Dschungel auf. Vor uns glänzte ein nasser Asphaltstreifen im schwachen Dämmer der Nacht. Ein milchiger Lichtschein wurde in den Regenschauern sichtbar. Häuser? Kasernen? Ungarn oder Österreich? Waren wir drüben oder nur an einem anderen Grenzabschnitt wieder nach Ungarn gerobbt?

Ein Blitz leuchtete die Szene aus. Er ließ einen Pkw sichtbar werden, der unmittelbar neben der Lichtquelle stand. Ich robbte über den Asphalt, der auch jetzt in der Nacht noch immer angenehm warm war. Was hatte das Auto für ein Nummernschild? Es hatte gar keins. Ein Schrottwagen war es. Ich robbte weiter. Da stand ein zweiter Wagen. Er war ziemlich neu und an seinem Heck prangte ein schwarzes Nummernschild mit weißen Buchstaben. Daneben ein roter Adler auf weißem Grund. Konnten wir es glauben – waren wir in Österreich?

Lars' Botschaft an die DDR-Bonzen: „Warum ich Euch davongelaufen bin.“

Aus einem Garten Stimmengewirr. Auf der überdachten Terrasse sitzen Menschen. Sie sprechen einen deutschen Dialekt. Ja, wir sind in Österreich. Gerettet.

Lars hat mir später aufgetragen, was ich noch über die Gründe für seine Flucht in meinem Beitrag veröffentlichen soll. Hier seine zornige Botschaft an die alten Männer um Erich Honecker: „Hallo ihr Bonzen, ich bin Euch nicht davongelaufen wegen des westlichen Wohlstands. Ich sage Euch die Wahrheit: Ich bin wegen Euch weggegangen. Ihr kotzt mich an. Wir Jungen lassen Euch mit Eurem Scheiß-Sozialismus jetzt allein. Ihr könnt von mir aus weiter von der Arbeiterklasse faseln, die Ihr doch längst verraten habt.“

(Erstveröffentlichung in Ausgabe Nr. 34 der Illustrierten QUICK, im August 1989)

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