Patriarch und Putin überwinden die Kirchenspaltung nach über 60 JahrenRUSSISCHE ORTHODOXIE

Patriarch und Putin überwinden die Kirchenspaltung nach über 60 Jahren

Patriarch und Putin überwinden die Kirchenspaltung nach über 60 Jahren

Die Russische Orthodoxe Kirche erlebt derzeit die stürmischste Aufwärtsentwicklung ihrer tausendjährigen Geschichte. 1989, am Ende der Sowjetunion, gab es im ganzen Riesenland nur noch rund 6.000 Kirchen mit zusammen fünf Millionen Gläubigen. 2005 waren es schon über 12.000 Kirchen mit 9,5 Millionen Gläubigen. Für 2015 erwartet man rund 25.000 Kirchen mit bis zu 28 Millionen Gläubigen. Damit soll aber noch lange nicht das Ende erreicht sein. Für 2025 wird sogar mit 40.000 Kirchen gerechnet.

Von Wolf Oschlies

Der Moskauer Patriarch Ni­kon (1605-1681)  
Der Moskauer Patriarch Ni­kon (1605-1681)  

D ie Bestattung des kürzlich verstorbenen ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin war für die neue Stellung der Kirche in Russland symbolhaft: Einen Tag nach seinem Tod wurde sein Leichnam in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale aufgebahrt. Diese Kirche war während der kommunistischen Herrschaft abgerissen worden. In Jelzins Amtszeit hatte man sie wiedererrichtet.

Zu Sowjetzeiten wurden die toten Herrscher im Mausoleum an der Kremlmauer aufgebahrt. Wächter untersagten den Trauernden die Bekreuzigungen. Heute erweisen die Russen ihren verstorbenen Oberhäuptern wieder in der Kathedrale die letzte Ehre.

Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg war Russlands Kirche fast am Ende

Unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren in Stalins Sowjetunion bloß noch ein paar Hundert Kirchen in Betrieb. Priester und Geistliche steckte die rote Diktatur in Straflager. Die Kirche war nur noch wenige Schritte von ihrem endgültigen Verschwinden entfernt.

Heute erlebt das „heilige Russland“ eine national-religiöse Renaissance, die umfassend ist: Bereits gegenwärtig bekennen sich zwei Drittel aller Russen als orthodoxe Christen. Natürlich könnten es weit mehr sein, denn in eine orthodoxe Kirche tritt man nicht ein, sondern wird in sie hineingeboren – ob und wie man später von dieser Zugehörigkeit Gebrauch macht, ist eine andere Frage. In der Russischen Orthodoxen Kirche registriert man erfreut, dass etwa ein Drittel derer, die quasi automatisch zur Kirche gehören, wirklich aktive Christen sind, unter diesen auffallend viele gebildete junge Leute. Das allein zählt, weil es am nachhaltigsten den Bruch mit der jüngeren Vergangenheit markiert.

Kirche in Russland: reich, gottlos, ungebildet, staatstreu

In den ungezählten Darstellungen sowjetischen Lebens und sowjetischer Politik wird die Kirche in den allermeisten Fällen überhaupt nicht erwähnt. Die Autoren hatten Wichtigeres zu berichten, die Leser interessierten sich nicht sonderlich dafür. Man wusste etwas von den Mythen um das „heilige Russland“, um „Moskau das dritte Rom (und ein viertes wird es nicht geben)“, um bolschewistischen „Kirchenkampf“ und parteiliche Agitation gegen die „Religion als Opium fürs Volk“, kannte eventuell sogar die Konzessionen, die Stalin der Kirche machte, als er zu Kriegsbeginn alle Verteidigungskräfte für den „Großen Vaterländischen Krieg“ mobilisieren musste. Das war’s dann auch schon.

Die Russische Orthodoxe Kirche hat im 20. Jahrhundert unendliches Leid erfahren müssen, aber dafür trug sie im Grunde selber die Verantwortung. In dieser Kirche galten – ab ihrer Erhebung zur Staatskirche 988 - Bibelauslegung und Predigt nichts, Theologie wenig und Ritus alles. Das führte zu einer besonders innigen Verbindung von Kirche und Volk, die sich in der Selbstcharakterisierung als „Svjataja Rus’“ (Heiliges Russland) exemplifizierte: Das reale Russland ist nur die weltliche Hülle der „Svjataja Rus’“, die zugleich historischer Ausgangspunkt und künftiger Idealzustand ist. Russland und die Russen sind von Gott selber auserwählt, das Christentum auf Erden zu repräsentieren und weiterzutragen, was ihnen um so besser gelingen wird, je buchstabengetreuer sie jedes Wort, Zeichen, Gebot der Bibel befolgen, ohne jede Interpretation und Ausdeutung. Und weil das russische Christentum die Antizipation paradiesischer Herrlichkeit ist, muss die Ästhetik in der Kirche eine erstrangige Rolle spielen: Jeder Sakralbau ein prächtiger Tempel, jeder Geistliche ein mit Krone und Prachtgewand ausgezeichneter Repräsentant Gottes, jeder Gottesdienst ein imponierender Festakt.

Kreuz heißt auf russisch „krest“. „Krest’janin“ ist das russische Wort für „Bauer“, und weil Bauern die Masse des Volks ausmachten, entstand ein spezifisches „familiäres“ Verhältnis zur Transzendenz: Gott war Anfang und Ende aller Dinge, die den Menschen angingen. Die Heiligen waren für ihre „Ressorts“ zuständig, konnten also bei allen Problemen des alltäglichen Lebens angerufen werden. Streng formalisierte Heiligenbilder („Ikonen“) vermittelten ein anschauliches Bild der ewigen Welt. Der ab Erschaffung der Welt, Christi Geburt oder sonstigen religiösen Schlüsselereignissen geführte Kalender regelte Leben und Arbeit. Zahlreiche Festtage brachten Kirche und Gläubige immer wieder zusammen. Natur und Umwelt waren übervoll von Zeichen und Symbolen, die das Individuum nur zu beachten und zu befolgen hatte, um sich Gott und dem Himmel näher zu wissen.

Das Kreuz mit zwei oder mit drei Fingern schlagen?

Zar Peter der Große (1672-1725)  
Zar Peter der Große (1672-1725)  

Diese Idylle wurde Mitte des 17. Jahrhundert für alle Zeiten zerstört. Der Moskauer Patriarch Nikon (1605-1681) war der Ansicht, dass der Ritus nicht mehr das Konzentrat des lebendigen Glaubens aus alter Zeit war, sondern eine von aller Spiritualität entblößte Hülse, die der Kirche schadete. Nikon wollte Bibel und Ritus wieder vereinheitlichen. Dabei schlug er den denkbar ungeschicktesten Weg ein: Zum einen nahm er sich die Griechische Orthodoxe Kirche zum Vorbild. Für gläubige Russen war das ein inakzeptables Muster, da Griechenland seit gut 200 Jahren unter der Herrschaft der Osmanen stand, also unter den Erzfeinden des Christentums. Zum zweiten begann er seine Reform mit antitraditionalistischen Geboten. Eines davon lautete, sich fortan mit drei Fingern (statt wie bisher mit zweien) zu bekreuzigen. So etwas wurde und wird von der nicht-russischen Welt als unverständliche Lappalie angesehen, war aber keine. Etwa einhundert Jahre zuvor hatte die Kirche jeden „verflucht“, „wer nicht mit zwei Fingern, gleich Christus, das Kreuz schlägt“. Die Neuregelung erschien als leichtfertiger Verstoß gegen alte Gebote, als Angriff auf die „Svjataja Rus’“ im Auftrage westlicher Ketzer, als Zerstörung der Magie aller Rituale.

Aus diesen relativ kleinen Anfängen resultierte die Kirchenspaltung in (abtrünnige) Altgläubige und (offizielle) „Nikonianer“. die von letzteren mit bemerkenswerter Konsequenz und Grausamkeit durchgesetzt wurde. Den Nutzen davon hatte der Staat, der eine ihm restlos unterworfene Kirche bekam. Den Schaden hatte die Kirche, die ihre besten Köpfe, ihre gläubigsten Anhänger und die überzeugtesten Orthodoxen an die Altgläubigen verlor. Unter staatlicher Kuratel wurde die offizielle Kirche unendlich reich, durch den personellen und intellektuellen Aderlass aber unspirituell, korrupt, geistesfeindlich. Das war tragisch, denn im Grunde wollten Altgläubige und Nikonianer dasselbe, nämlich Seelen retten und nach dem Willen Gottes handeln. Nur waren ihre Wege völlig verschieden: Die Nikonianer suchten eine Regel der Rettung, gewonnen aus der Reduzierung des Glaubens auf Logisches und Allgemeingültiges. Die Altgläubigen fahndeten nach einem Typ der Rettung, was ihre Vorliebe für exemplarische Heiligen-Viten, signifikante Details etc. erklärte. Das gab ihrer Auffassung einen „Hauch von Poesie und Menschlichkeit“, während die Nikonianer als Inkarnation von „Trockenheit, Starrheit, übertriebener Ordnungsliebe“ etc. erschienen.

Kirche und Staat – in Russland ein ganz besonderes Kapitel

Bereits 1667 hatte die Kirche den Vorrang der weltlichen Macht vor der kirchlichen verkündet, womit der russische Zar automatisch zum Herren der Kirche und zum Hüter der Orthodoxie wurde. Insofern war es nur folgerichtig, dass Peter der Große (1672-1725) im Jahr 1700 die Würde des kirchlichen Oberhaupts, des Patriarchen, abschaffte und 1721 den „Heiligen Synod“ als oberste Kirchenbehörde einrichtete. Das war eine faktische Unterjochung der Kirche, wobei diese noch das Glück im Unglück hatte, mit Peter einem reformfreudigen und (maßvoll) toleranten Herrscher zu unterstehen. An kirchlichen Dogmen hatte er keinerlei Interesse, mischte sich in diese also auch nicht ein. Das „geistliche Reglement“, unter das er die Kirche stellte, sollte deren Heuchelei, Unbildung, Regellosigkeit und Korruption beheben. Die von der Kirche eifrigst betriebene Feindschaft gegen „Ketzer“ war dem Herrscher schon deshalb zuwider, als er aus ganz Europa Fachleute nach Russland holte, die diesem kulturellen und zivilisatorisch zurückgebliebenen Reich einen entwicklungspolitischen „Schub“ gaben. Nur russische Sektierer, die sich im Gefolge der Altgläubigen enorm vermehrt hatten, ließ der Zar streng verfolgen, da er sie als Urheber von Unwissenheit, Unordnung und Rückschrittlichkeit ansah.

Spätestens seit Peter und verstärkt durch die Werke Tolstojs, Dostojewskijs und anderer russischer Autoren, hält sich in aller Welt die Fiktion vom „tief religiösen russischen Volk“. Das waren die Russen mehrheitlich nie, sie konnten es auch nicht sein, da die spezifische Entwicklung ihrer Kirche sie paradoxerweise zur areligiösen Kirchentreue erzogen hatte. Die Kirche war Synonym für russische Eigenart, Patriotismus, Loyalität zum Herrscher etc., aber nie eine Wahrerin von geistig-geistlicher Souveränität, Verteidigerin von Menschenrecht und Menschenwürde, Inhaberin von moralischer Autorität, Charakterbildnerin, Schöpferin eines starken religiösen Bewusstseins. Diese Kirche war über Jahrhunderte hinweg unfrei und steril und entsprechend waren ihre Anhänger.
 
Ihre „Glanzzeit“ hatte die Kirche in den Kämpfen gegen das „Tataren-Joch“ erlebt (1240-1559): Als einzige Institution verriet sie nichts, machte keine Konzessionen an die mongolischen Eroberer, erhob die Sache der Kirche zur patriotischen Lebenssache und siegte letztlich. Von diesem Ruhm lebte sie Jahrhunderte lang, auch als sie ihn längst nicht mehr verdiente. Das war zu verschmerzen, solange der Zar als „Alleinherrscher“ - also auch Oberhaupt der Kirche - den religiösen Schein wahrte und Orthodoxie auch ein Synonym für Patriotismus war. Aber das hörte 1917 auf. 

Die Kirche unter den Bolschewiken

Basiliuskathedrale in Moskau  
Basiliuskathedrale in Moskau  

Im März 1917 dankte Zar Nikolaj ab, eine „Provisorische Regierung“ übernahm die Macht in Russland. Für die Kirche bedeutete es das Wegbrechen einer „Säule“ ihres gesamten Selbstverständnisses. Anfang November 1917 putschten sich Lenins Bolschewiken an die Macht, womit sich die Kirche einem extrem materialistischen und kirchenfeindlichen Regime konfrontiert sah. Sie bekundete ihren Willen zur Selbstbehauptung und wählte am 18. November nach fast genau 200 Jahren wieder einen Patriarchen – den Moskauer Metropoliten Tichon (Vasilij Belavin, 1865-1925). Die Kirche war überzeugt, dass das kommunistische Regime nur kurzfristig bestehen würde. Einstweilen musste sie dessen harte Repression ertragen, wie sie sich Anfang 1918 in dem „Dekret über die Gewissensfreiheit“ äußerte. Es beraubte die Kirche ihres gesamten Besitzes – Ländereien, Gebäude, Schulen, Druckereien, Bücher, Ikonen etc. –und verbannte sie aus dem Schulunterricht. Tichon „verdammte“ die Machthaber und Ihre Maßnahmen und rief das ganze Volk zum Widerstand gegen sie auf.

Im Grunde war das alles ein Vorspiel: Die Kirche war sich noch unschlüssig, ob sich das biblische Gebot zur Kooperation mit weltlichen Autoritäten auch auf Lenins Bolschewiken bezöge. Die Bolschewiken kannten und fürchteten die Kirchentreue der Russen und vermieden den offenen Kirchenkampf. Zudem stand ihre Herrschaft auf relativ schwachen Füßen, da weite Teile Russlands von den „Weißen“, den antikommunistischen „Konterrevolutionären“, kontrolliert waren.

Das betraf besonders den Süden, wo Ende Mai 1919 eine Kirchenversammlung die „Provisorische Oberste Kirchenleitung“ (VVCU) proklamierte. Im Verlauf weniger Monate verselbständigte sich diese zur „Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland“ (RPCZ), womit eine Kirchenspaltung vollzogen wurde, die bis auf den heutigen Tag besteht und allem Anschein nach nie überwunden werden wird.

Wie sich die Schlinge zuzog

Mit „Weisung Nr. 362“ von 20. November 1920 hatte das Moskauer Patriarchat die RPCZ faktisch anerkannt. Sie verlegte auf Einladung des serbischen Patriarchen Anfang 1921 ihren Sitz ins serbische Sremski Karlovci, in der Vojvodina bei Novi Sad. Damit wurde ein unvermeidlicher, wiewohl unheilvoller Automatismus in Gang gesetzt. Immer mehr russische Kirchengemeinden im Ausland bekannten sich zur RPCZ, deren Feindschaft zum bolschewistischen Regime sich laufend radikalisierte. Das Regime selber festigte sich und ließ sehr bald alle Rücksichten auf die Kirche beiseite. Am 28. März 1922 publizierte die sowjetische Presse erstmals eine Liste von „Volksfeinden“, angeführt von „Patriarch Tichon und seiner gesamten Kirchenleitung“. Fünf Wochen später wurde Tichon gezwungen, die RPCZ „zu verbieten“.

Die Schlinge um die Kirche zog sich zu – gezogen vor allem von Evgenij Tučkov (1892- ca. 1953). Er war ab Frühjahr 1922 Chef der berüchtigten 6. Geheimabteilung des Staatssicherheitsdienstes, die die Implementierung der Dekrete über die Trennung von Kirche und Staat zu betreiben hatte. Die kirchliche Hierarchie wurde von Spitzeln unterwandert, es kam zu Verhaftungen und Verurteilungen von Geistlichen. Tichon sah sich mehrfach unter „Hausarrest“ gestellt und musste unter härtestem Druck alle Dekrete unterzeichnen, die Tučkov ihm vorlegte. Tichon wehrte sich, wo er nur konnte, aber die Kirche erschien doch als eine vom Regime restlos manipulierte und dirigierte Institution. Große Teile der Gläubigen versammelten sich darum in der im Untergrund wirkenden „Wahren Orthodoxen Kirche“ (IPC), die vom Geheimdienst als „konterrevolutionäre Sekte“ massiv verfolgt wurde.

Am 27. April 1925 verstarb Tichon, sein Amt als Patriarch blieb über anderthalb Jahrzehnte verwaist. Als „Stellvertretender Patriarchen-Statthalter“ amtierte Metropolit Sergej (Ivan N. Stragorodskij, 1867-1944). Er wurde vom Regime 1921 und 1926 für längere Zeit inhaftiert bis er endlich zum gefügigen Instrument in den Händen der kommunistischen Machthaber geworden war.

Beweis dessen war seine Unterwerfungserklärung, die er am 29. Juli 1927 im Namen der gesamten russischen Kirche erließ: „Wir wollen Orthodoxe sein und zugleich die Sowjetunion als unser bürgerliches Vaterland verstehen (…) Die Festigung der Sowjetmacht erschien vielen als irgendein Missverständnis, zufällig und daher nicht dauernd. Diese Menschen vergaßen, dass es für den Christen keine Zufälligkeiten gibt, und dass in dem bei uns Geschehenen (…) die Hand Gottes am Werke ist“.

Damit war die offiziell „apolitische“ Natur der Kirche beseitigt und diese ein Werkzeug des Regimes geworden. Dafür zahlte sie den hohen Preis der inneren Zersplitterung in vier Gruppierungen – die kleine „sergijanische“ Gruppe der Befehlsempfänger, die große Gruppe der „Gemäßigten“, die Sergej zwar als „kanonisches“ Oberhaupt, nicht aber als administratives anerkannten und seine Weisungen ignorierten, die im Untergrund wirkende IPC und die noch entschiedenere „Katakomben-Kirche“ (KC), die bis zum Ende der Sowjetunion nie völlig verschwand.

Die folgenden Jahre waren zwiespältig. Neue Gesetze eliminierten die Kirche nahezu gänzlich aus dem öffentlichen Leben. Zehntausende Sakralgebäude wurden geschlossen und zu Getreidesilos, Turnhallen, Museen etc. „umgewidmet“. Hunderttausende Geistliche schickten die Sowjets in die Straflager, so dass sie in den schlimmsten sibirischen Lagern zeitweilig über 20 Prozent aller Gefangenen ausmachten. Hohe Kirchenfürsten wurden inhaftiert und ohne Urteil erschossen.

1932 hatte die mittlerweile stalinistische Führung einen „atheistischen Fünfjahresplan“ verkündet, nach dessen Ende „der Name Gottes im ganzen Land vergessen sein soll“. Auf der anderen Seite kam es nach 1933 zur „sowjetpatriotischen“ Wende in Politik und Historiographie und dieser neue „Patriotismus“ schloss auch die „historischen Verdienste“ der Kirche mit ein. Mit Blick auf die Zerstörungen und Repressionen stand die Kirche am Rande des Abgrunds. Im Wesen aber war sie erstaunlich intakt geblieben: Bei der Volkszählung 1937 deklarierten sich 56,7 Prozent der Sowjetbürger als „gläubige Christen“.

Die Kirche im Zweiten Weltkrieg

Geweihte Kerzen für Russlands Präsident Wladimir Putin  
Geweihte Kerzen für Russlands Präsident Wladimir Putin  

Die Kirchentreue der Russen war um so unerwarteter, als die Institution Kirche faktisch nicht mehr existierte. Von den 78.000 Kirchen und Kapellen, die vor 1917 in Russland bestanden hatten, waren nur wenige verblieben. Manche Schätzungen sprechen von ganzen 121, andere von 350 bis 400.

Für Stalin war die Kirche nur noch von „Wert“ als Speerspitze gegen die Auslandsorganisation RPCZ und deren antikommunistische Propaganda in aller Welt. Das nahm tragikomische Züge an, wenn die „sergijanische“ Kirchenführung unausgesetzt Verbote, Verdammungen und Verurteilungen gen Westen schleuderte, die dort niemand zur Kenntnis nahm.

Eine Änderung dieser Situation erfolgte ab Juni 1941, als die Deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel. In den Jahren zuvor hatten Hitler und Stalin eine enge Kumpanei gepflogen, die Moskau 1939/40 enorme Territorialgewinne im Osten Polens und Rumäniens einrachte. In diesen „neuen“ Territorien hatte der antikirchliche Terror besonders gewütet, weswegen die deutschen Truppen vielerorts wie Befreier begrüßt wurden. In Moskau nutzte Sergej, bereits völlig hinfällig und nahezu taub, die Gunst der Stunde, indem er bereits am ersten Kriegstag die ganze Nation zur Verteidigung des Vaterlands aufrief. Das hätte ihn das Leben kosten können, da der Kirche jegliche publizistische Betätigung streng verboten worden war. Aber dem Kirchenführer geschah nicht nur nichts, vielmehr wurde sein Aufruf von der Regimepresse aufgegriffen und millionenfach verbreitet. Im Januar 1943 bat er Stalin um die Erlaubnis, ein Konto der Kirchenführung eröffnen zu dürfen, auf welchem man Spenden der Gläubigen sammeln könne. Die Erlaubnis wurde erteilt, womit die Kirche automatisch und erstmalig als juristische Person anerkannt worden war.

In Russland glauben bis heute ungezählte Menschen daran, dass Stalin so etwas wie der „Vater unseres großen Sieges“ gewesen sei. Stalin stand bei Kriegsende auf der Siegerseite – hatte durch die mit Hitler 1939 abgesteckten „Interessenssphären“ aber die „Tür zum Krieg erst aufgestoßen“ (wie Moskauer Blätter 2005 anmerkten). Sein blinder Terror in den 1930-er Jahren kostete drei Viertel des Offizierskorps der Roten Armee des Leben, und bis zur buchstäblich letzten Minute hatte Stalin alles verhindert, was zur Verteidigung der Sowjetunion nötig gewesen wäre. Der „Erfolg“ dieser beispiellosen Leichtfertigkeit waren enorme Verluste, die die Sowjetunion in den ersten Kriegsmonaten hinnehmen musste.

Als die Kirche zum unerwarteten Helfer Stalins wurde

Tatsache ist, dass Stalin zu Kriegsbeginn die unerwartete Hilfe der Kirche doppelt gut gebrauchen konnte, nämlich zur patriotischen Mobilisierung der Menschen daheim und als Geste, die ihm internationales Renommee einbrachte. Weniger bekannt wurde (da absichtsvoll verschwiegen), dass in den besetzten west-sowjetischen Gebieten „das Kirchenleben eine sehr stürmische Entwicklung nahm“. Allein in der Ukraine „arbeiteten“ 5.400 alt-neue Kirchen, in und um Minsk, der Hauptstadt Weißrusslands, 120 in sechs restituierten orthodoxen Eparchien. In den Teilen Weißrusslands, die bis zum September 1939 zu Polen gehört hatten, gab es im Juni 1941 noch 542 orthodoxe Kirchen. Binnen zwei Jahren deutscher Besatzung wurden rund 10.000 neue eröffnet. In Minsk fanden in den ersten Besatzungsmonaten 22.000 Taufen statt und den Ansturm der Paare, die kirchlich heiraten wollten, konnte man nur dadurch bewältigen, dass man sie in allen orthodoxen Kirchen der Stadt in Gruppen von 20, 30 Paaren gleichzeitig traute.

Das gefiel den deutschen Besatzern, da es eine antikommunistische Demonstration war, und es missfiel ihnen zugleich, weil der altrussische, kirchlich grundierte Patriotismus wieder auflebte. „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“ wurde 1941 Alfred Rosenberg, für den die Orthodoxie nur ein „hübsches ethnographisches Ritual“ war. Bereits am 1. September 1941 bestimmte das deutsche Reichssicherheitshauptamt, wie mit der Kirche zu verfahren sei: zulassen als antibolschewistische Kraft. Zersplittern in möglichst viele Denominationen (Teilkirchen), um die Entstehung einer nationalkirchlichen Intelligenz zu verhindern. Ausnutzen für die Zwecke der deutschen Besatzungspolitik.

Zwei Monate später wurde verfügt, die Geistlichen „möglichst umgehend“ auf eine religiöse Doktrin zu verpflichten, die „von jüdischem Einfluss frei“ wäre. Hitler wollte keine starke und geeinte russische Kirche und regte darum am 11. April 1942 an, in den besetzten Gebieten abtrünnige Kirchbewegungen zu fördern, die gegen das Moskauer Patriarchat auftreten könnten. Weißrussland war als erstes Opfer ausersehen, aber deutsche Besatzer und heimische Nationalisten gerieten über das Prozedere so in Streit, dass die Kirchenführung die Angelegenheit „bis nach dem Kriegsende“ verschob.

Fortan setzten die Deutschen auf eine Politik der Nadelstiche: Kirchenglocken wurden verboten, neue Kirchen durften kein Kreuz auf dem Turm tragen, aller Kirchenbesitz war offiziell „Eigentum des Reichs“ etc. Im Grund verstanden die Deutschen nicht viel von östlichen Kirchenfragen, waren folglich leicht zu hintergehen. Das war das Erfolgsgeheimnis des Metropoliten Sergij, der vor dem Krieg für das gesamte Baltikum zuständig gewesen und bei Kriegsausbruch auf seinem Posten geblieben war. Es gelang ihm sogar, die Deutschen von dem „Vorteil“ zu überzeugen, im ganzen Nordwesten eine dem Moskauer Patriarchat unterstellte Eparchie zu haben, da sie ansonsten zum Konstantinopler Patriarchat gekommen wäre, das „ein Verbündeter Englands“ sei. Das sahen die Deutschen ein, und auf diese Weise entstanden bis Anfang 1944 im besetzten Gebiet von Leningrad, Pskov und Novgorod rund 400 Kirchengemeinden, die alle der Moskauer Kirchenführung unterstanden und das auch mehr oder minder offen zu verstehen gaben.

Die Kirche leistete einen enormen Beitrag zur sowjetischen Kriegführung

Der Moskauer Patriarch Aleksij II.  
Der Moskauer Patriarch Aleksij II.  

Das alles wertete die Kirche in Stalins Augen auf. Das Interesse der Westalliierten an der Lage der Gläubigen in der Sowjetunion tat ein Übriges: Am 4. September 1943 lud Stalin drei hohe Kirchenführer in den Kreml. Vize-Partriarchstatthalter Sergej durfte ihm die dringendsten Sorgen der Kirche vortragen und er bekam unerwartete Konzessionen: In Moskau wurden eine theologische Schule und eine Akademie eröffnet, die Kirche bekam einige Grundstücke und Klöster zurück, zahlreiche Geistliche wurden aus den Straflagern entlassen. Die wichtigste Zustimmung kam zur Wahl eines Patriarchen, die vier Tage später auf einer Versammlung von 19 Bischöfen – mehr gab es in der ganzen Sowjetunion nicht – auch stattfand und Sergej in diesen höchsten Kirchenrang erhob. Die RPCZ erklärte im Oktober 1943 diese Wahl für ungültig.

Die Kirche hat bis Frühjahr 1945 einen enormen Beitrag zur sowjetischen Kriegsführung geleistet: Über 300 Millionen Rubel Geldspenden, dazu unschätzbare Mengen von Wertsachen, Kleidung, Nahrungsmitteln etc. Zahlreiche Geistliche beteiligten sich aktiv am Kampf der Partisanen und zahlten dafür mit ihrem Leben, oft genug von den ideologisch verblendeten Partisanen als „Feinde“ getötet.

Die Verluste der Kirche sollte eine Sonderkommission ermitteln, die das Präsidium des Obersten Sowjets am 2. November 1942 zur Feststellung aller Kriegsschäden gebildet hatte. Zur Kommission gehörte auch der Metropolit von Kiew Nikolaj. Ermittlungen ergaben, dass die Deutschen im Krieg in der Sowjetunion etwa 1.500 Kirchen, Kapellen und Klöster zerstört hätten, und diese Zahlen wurden 1946 auch beim Nürnberger Prozess vorgelegt. Glaubwürdig waren sie dennoch nicht: Die Sowjets waren Meister darin, eigene Verbrechen, etwa das Massaker von Katyn an polnischen Offizieren, den Deutschen in die Schuhe zu schieben. Und so haben sie es mit einiger Sicherheit auch mit den zerstörten Sakralbauten gehalten.

Die Kirche in der Nachkriegs- und der Nach-Sowjet-Zeit

Nach dem Krieg wäre das Regime gern wieder in alte Praktiken zurückgefallen, aber das war nach den Konzessionen von 1943 nicht mehr möglich. Die Kirche konnte mit staatlicher Unterstützung Gebäude bauen, kaufen oder mieten und erlangte 1945 mit ihrem neuen Statut die rechtliche Anerkennung für sich und ihre Gemeinden. Damit trat in der Sowjetunion früh ein, was im kommunistisch regierten Osteuropa erst später zu beobachten war. Hatte anfänglich das Regime die Gläubigen mit der Drohung schrecken können, dass die Kirche zwar legal, das Bekenntnis zu ihr aber Opposition seien, so drehten die Gläubigen nun den Spieß um und gaben zu verstehen, dass die Kirche die einzige legale Opposition unter dem kommunistischen Regime sei. Groß war das Risiko für das Regime nicht: Die Kirche lag völlig in staatlicher Hand, wurde von seinen Geheimdiensten minutiös überwacht und beteiligte sich „brav“ an allen Kampagnen – für Vietnam und Koexistenz, gegen US-Atombomben und gegen die deutsche Bundeswehr.

Laut einem Bericht der Zeitung „Novaja gazeta“ vom 13. Oktober 1998 hatten Staat und Kirche bald ihre wechselseitigen „Einflusssphären“ abgesteckt, so dass frühere Kirchenkämpfe wie zu Stalins Zeiten nicht mehr nötig waren. Der Geheimdienst KGB rekrutierte Agenten aus den Reihen der Geistlichkeit und nahm so die ganze Kirche unter Kontrolle. Die Kirche konnte ihre hohen Geistlichen mit Luxusautos ausstatten, ihnen aufwendige Auslandsreisen und repräsentative Kongresse daheim ausrichten – „man lebte in Frieden mit einander“.

Die Ära des Aleksij II.

Einer dieser KGB-Agenten mit dem Decknamen „Drozdov“ war Aleksej Ridiger, 1929 als Abkömmling der baltendeutschen Adelsfamilie von Rüdiger in Tallin geboren. In den 1950-er Jahren wurde er in Leningrad ausgebildet, in den 1960-ern zum Bischof geweiht. Später stieg in der kirchlichen Hierarchie rasch auf und wurde am 7. Juli 1990 zum „Patriarchen von Moskau und ganz Russland“ gewählt.

Aleksij II. (so sein Name als Patriarch) hat es nicht mehr nötig, einem staatlichen Geheimdienst als Zuträger zu Diensten zu sein. Er ist vielmehr Chef einer expandierenden Firma, an deren Bau- und Grundstückboom viele mitverdienen möchten. In den frühen 1990-er Jahren gab es innerkirchliche Konflikte und krasse Enthüllungen, aber die Aufregung legte sich, als alle mehr und mehr bemerkten, wie die Kirche dank ihrer neuen Möglichkeiten, Privilegien und Vorteile den ganzen Staatsapparat nach ihren Vorstellungen beeinflussen kann.

Könnte Aleksij II. die RPCZ „heim ins Reich“ holen, dann hätte er den größten Wunsch seines politischen Partners und Gönners, Präsident Putin, erfüllt, der 2005 die „Linie“ ausgab: „Jede Kirchengemeinde im Ausland, die russische Wurzeln hat, muss zu einer Repräsentanz der Russischen Föderation werden“.

Putin ist 2000 mit Unterstützung der Kirche zum Präsidenten gewählt worden, kennt und schätzt also deren Potential. Die Kirche schätzt ihn als machtvollen und einflussreichen Verbündeten auf dem Weg zur russischen Diaspora und deren Kirche. Nur die russische Auslandskirche blieb lange taub für neues Moskauer Werben. Sie hatte vielmehr bereits am 27. Juli 1990 dem soeben gewählten Moskauer Patriarchen ihre Anerkennung verweigert. Aleksij warb weiter für seine Einheitsidee, am nachdrücklichsten mit seinem „Brüderlichen Sendschreiben“ vom 6. Oktober 2001, wobei er immer darauf verwies, dass seine Kirche und die RPCZ doch dank ihrer russischen Ursprünge, Natur und Denkweise im Grund immer geeint waren.  Außerdem sei mit dem Ende des Kommunismus in Russland auch alles politisch Trennende fortgefallen. Damit konnte der Patriarch einige Teilerfolge erzielen, z.B. gilt Erzbischof Mark, RPCZ-Leiter für Berlin und Deutschland, als einer der nachdrücklichsten Befürworter einer Einigung mit Moskau. Generell aber ist die Stimmung in der RPCZ feindlich und das wird sich so bald nicht ändern.
 
Die RPCZ ist nicht mehr rein russisch, vielmehr stark in die Strukturen ihrer jeweiligen Gastländer integriert und durch zahlreiche nicht-russische Konvertiten ihren russischen Anfängen längst entfremdet. Zudem gibt es ein paar unüberwindliche Barrieren. Beispielsweise will Patriarch Aleksij II. der RPCZ nicht gestatten, in Russland und den Staaten der GUS eigene Gemeinden zu bilden, „denn dadurch würde das Schisma auf das kanonische Territorium des Moskauer Patriarchats übertragen“. So etwas klang für die RCPZ, die sich stets als Verteidigerin des wahren russischen Glaubens gegen „sergijanische Quislinge“ verstanden hat, wie eine Beleidigung. Die Gegenforderungen fielen dann auch entsprechend schroff aus: Das Moskauer Patriarchat möge erst die „Neumärtyrer“ ehren, also die vom kommunistischen Regime getöteten Geistlichen, und sich restlos von der eigenen Unterwerfungspolitik ab 1925 distanzieren.

Die überraschende Neuvereinigung – vereinbart in New York, unterzeichnet in Moskau

Der eigentliche Konfliktpunkt aber wurde überhaupt nicht angesprochen. Das Moskauer Patriarchat vertritt eine mehr und mehr profillose Staatskirche – die RPCZ versteift sich auf eine radikal konservative, anti-modernistische und anti-ökumenische Position, die sie gerade deshalb für „Fundamentalisten“ vieler Länder attraktiv macht.

Je länger die kirchliche Widervereinigung ausblieb, desto unwahrscheinlicher erschien sie. Doch dann kam 2006/07 die verblüffende Wende. Fast allen Beteiligten schien es plötzlich mit der Vereinigung nicht schnell genug gehen zu können. Vom 18. bis 20. April 2007 tagte in New York die oberste Führung der RPCZ und billigte die letzte Fassung der „Deklaration über die kanonische Verbindung“, die am 17. Mai 2007 in Moskau feierlich unterzeichnet werden soll. Eine Delegation aus höchsten Würdenträgern der RPCZ ist nominiert – in der russischen Duma (Parlament) wurde bereist angeregt, den 17. Mai fortan als „nationalen Feiertag“ zu begehen.

Was kommt danach? Einem Interview, das Patriarch Aleksij II. am 9. April 2007 einer bulgarischen kirchlichen Nachrichtenagentur gab, war zu entnehmen, dass sich vermutlich gar nichts oder nicht viel ändern wird: Die RPCZ wird zwar künftig an höchsten Kirchenzusammenkünften der Russischen Kirche beteiligt sein, „behält aber ihre Souveränität in inneren Angelegenheiten“. Unendlich viele „Teilfragen“ stehen zu weiterer Beratung und Klärung an. Dabei werden alte Konflikte wieder „hochkommen“, Aber vermutlich hat der Patriarch Recht, als er milde urteilte: „Die zu Zeiten der Trennung tief verwurzelten Vorurteile und die ungenügende Kenntnis der in Russland ablaufenden Veränderungen führen bei einigen Vertretern der Russischen Auslandskirche zu Erklärungen gegen die Einheit. Doch wird sind überzeugt, dass diese Dinge nicht die Vereinigung aufhalten, die seit langem herangereift ist und auf die mit Ungeduld die orthodoxen Gläubigen des Moskauer Patriarchats und der Auslandskirche warten“.

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