09.08.2023 13:11:56
FUSSBALL
Von Robert Kalimullin
Denkmal im Stryjski-Park von Lemberg (heute Lviv) für das hier 1894 ausgetragene Fußballspiel. Foto: Martin Brand |
anze sechs Minuten dauerte das erste polnische Fußballspiel vor über einhundert Jahren. So steht es in den Geschichtsbüchern. In der Ukraine indes sieht man das völlig anders und beansprucht das Match für die eigene Sportgeschichte. Die Folge ist ein bizarrer Streit zwischen den beiden Gastgeberländern der Fußball-Europameisterschaft 2012 – die mit dem sportlichen Großereignis eigentlich „Gemeinsam Geschichte schreiben“ wollten.
Ein Blick zurück ins Jahr 1894: An einem warmen Samstagnachmittag treten im galizischen Lemberg zwei Mannschaften zum Fußballspielen an. Vor gut zehntausend Zuschauern eines Turnfestes beginnt am 14. Juli im Stryjski-Park um 17.00 Uhr das erste offizielle Fußballspiel der Stadt. Zu Gast sind junge Sportsfreunde aus Krakau. Teilnehmer berichten von einem chaotischen Spiel. Weder Zuschauer noch Spieler kennen sich recht mit den Regeln aus. Die Spieler wissen nur eins: der Ball muss irgendwie zwischen den Fahnenstangen des Gegners untergebracht werden. Es geht wild hin und her beim Kampf um den Ball, doch nach sechs Minuten erzielt Włodzimierz Chomicki – aus abseitsverdächtiger Position – das 1:0 für die Gastgeber. Trotz des Protests des Schiedsrichters und der Krakauer Mannschaft wird die erste Fußballpartie der Stadt nach dem Tor jedoch beendet und Platz gemacht für die nächsten Sportler – Gymnasten, die dem Publikum ihre Gruppenübungen demonstrieren.
Heute erinnert im Lemberger Stryjski-Park ein Denkmal an das historische Match. Ein Falke, Symbol der slawischen Sportbewegungen Ende des 19. Jahrhunderts, thront dort auf einem Fußball. Darunter die Inschrift: „Lviv – Heimat des ukrainischen Fußballs“. Lviv, Austragungsort der Euro 2012, zu Deutsch Lemberg, heißt auf Polnisch Lwów. Und da die heute ukrainische Stadt im vorvergangenen Jahrhundert mehrheitlich von Polen bewohnt war, betrachten diese jenes Spiel eben als Beginn der polnischen Fußballgeschichte.
So schreibt denn auch der Warschauer Sportjournalist Stefan Szczepłek, das Fußballspiel von 1894 habe auf polnischem Boden stattgefunden. Und sein Lemberger Kollege Oleksander Pauk stimmt ihm zu: „Es war ein polnisches Fußballspiel!“. Mitglieder der Sokol-Bewegung aus Lemberg und Krakau haben die Partie bestritten. Und diese Sokol-Bewegung – Sokół ist das polnische Wort für Falke – war eine populäre Turnvereinigung, die neben der körperlichen Ertüchtigung vor allem das polnische Nationalbewusstsein pflegte. „Vom Beginn des ukrainischen Fußballs am 14. Juli 1894 kann man deshalb gewiss nicht sprechen. Bestenfalls war es das erste Lemberger Fußballspiel“, erläutert Pauk.
Von einem polnischen Spiel aber will Yaroslav Hryso nichts wissen. „Es konnte gar kein polnisches Spiel sein, denn zu dieser Zeit existierte Polen überhaupt nicht“, sagt der Präsident des Ukrainischen Fußballverbands in Lemberg. Die Ukraine gab es zwar auch nicht. „Aber die Stadt war und ist ethnisch ukrainisches Gebiet, und deshalb war die Begegnung im Stryjski-Park das erste ukrainische Fußballspiel“, meint Hryso. Dieses Verdikt entspricht der offiziellen Sichtweise in der Ukraine: Das Spiel von 1894 gilt dem ukrainischen Fußballverband als Geburtsstunde des nationalen Fußballs, was der Verband so bereits 1999 der Uefa mitgeteilt hat. 2004 zog das ukrainische Parlament nach und verordnete offizielle Feierlichkeiten zum 110. Jahrestag des ersten Fußballspiels. Die Geschichtsinterpretationen auf die Spitze trieb allerdings eine große Brauerei des Landes. Eigens zum 115-jährigen Jubiläum des Fußballs in der Ukraine brachte sie ein Bier auf den Markt. In der entsprechenden Werbung hieß es, „die Ukraine“ habe 1894 Polen mit 1:0 besiegt.
Der Streit zwischen Polen und der Ukraine um das erste Fußballspiel lässt ein wenig von der komplizierten Geschichte beider Länder erahnen. Tatsächlich gibt es Ende des 19. Jahrhunderts weder Polen noch die Ukraine auf der europäischen Landkarte. Lemberg ist damals Hauptstadt des Kronlandes Galizien und Lodomerien, einer Provinz der österreichisch-ungarischen k. und k. Monarchie. Es ist eine multikulturelle, vielsprachige Stadt. Ein bunter Fleck im Osten Europas, eine kleine Filiale der großen Welt, schwärmt der österreichische Schriftsteller Joseph Roth von der ostgalizischen Stadt. Jeder zweite Einwohner ist Pole, neben Juden und Ukrainern leben auch Armenier, Deutsche und Angehörige zahlloser anderer Nationalitäten in Lemberg.
Zwischen den beiden Weltkriegen gehört die Stadt zum wieder unabhängig gewordenen polnischen Staat. Sie ist zu jener Zeit ein Zentrum der polnischen Kultur, aber auch Hort des ukrainischen Nationalbewusstseins und Wiege der ukrainischen Nation. Als der Berliner Schriftsteller Alfred Döblin die Stadt 1924 besucht, trifft er auf einen „furchtbar intensiven Völkerkampf“ zwischen Polen und Ukrainern. Er schreibt: „Diese Stadt liegt in den Armen zweier Gegner, die sich darum reißen. Im Hintergrund und unterirdisch wühlen Feindschaft und Gewalt.“ Und weiter konstatiert Döblin: „Hier lassen sich Land und Volk nicht voneinander abgrenzen; sie sind ineinander verschoben.“
Am Ende des Zweiten Weltkriegs aber geschieht genau das: die Grenzen Polens werden nach Westen verrückt. Aus dem polnisch dominierten Lwów wird das ukrainische Lviv. Die meisten Polen müssen Lemberg verlassen, unter ihnen auch Włodzimierz Chomicki, der Torschütze aus dem Stryjski-Park.
Wie für so viele andere Nationen galt auch für Polen und Ukrainer lange Zeit, dass ihre gemeinsame Geschichte ebenso verbindet wie sie trennt. Doch gerade seit der „Orangen Revolution“ in der Ukraine 2004, die in Polen auf warme Sympathie und Unterstützung traf, ist Bewegung in das Verhältnis der beiden Länder gekommen. Polen gilt innerhalb der EU als größter Anwalt seines östlichen Nachbarn. Mit der Bewerbung für die Europameisterschaft 2012 entschieden sich die beiden Länder für ein gemeinsames Projekt, das in die Zukunft weist. Und wenn alljährlich im Lemberger Stryjski-Park an das Fußball-Spiel von 1894 erinnert wird, dann sind heute ganz selbstverständlich immer auch Sportsfreunde aus Polen zugegen.
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Die Autoren erreichen Sie unter den Adressen http://www.robertkalimullin.de/ sowie http://www.martin-brand.de/
Dieser Beitrag wurde gefördert durch ein Recherchestipendium der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.
Lesen Sie dazu auch: „Lemberg – Wo ist hier der Hafen?“ in EM 06-11.
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