09.08.2023 13:11:56
GESEHEN
Von Julia Schatte
as kleine orthodoxe Klostergehöft liegt an einem einsamen Feldweg, ringsherum sieht man nur Wiesen, bewaldete Hügel und Berge. Die kargen Holzhäuschen, der wacklige Hühnerstall und die kleine Kapelle strahlen eine morbide, etwas düstere Romantik aus. Den Wind hört man kaum, ebenso lautlos fällt der Schnee.
In der Gemeinschaft von Nonnen hat die 25-jährige Voichita eine Familie gefunden. Die Mutter Oberin nennt sie nun „Mama“. Den Priester spricht sie väterlich-zärtlich mit „Tati“ an. Still, geduldig, mit fast lethargischer Ruhe folgt sie den täglichen Ritualen.
In dieser Abgeschiedenheit bekommt sie Besuch von ihrer Freundin Alina, die inzwischen in Deutschland lebt und arbeitet. Die beiden jungen Frauen verbindet die Erinnerung an eine ernüchternd-freudlose Kindheit im Waisenhaus. Früher verband sie auch eine enge Freundschaft und Liebe.
Ihren Wunsch, mit der geliebten Freundin zusammen nach Deutschland zu gehen, kann Alina nicht umsetzen. Auch ihre Sehnsucht nach der früheren Innigkeit bleibt unbeantwortet. In den Gesprächen der Freundinnen herrscht ein großes Unverständnis füreinander. Voichita spricht von ihrer Liebe zu Gott und vom Kloster als ihrem Zuhause. Alina lästert über das „Erdloch“ und wirft ihr Angst vor dem Leben vor.
Durch Voichitas Unwillen zerschlagen sich Alinas gemeinsame Zukunftspläne. Nach einem psychischen Zusammenbruch in ein Krankenhaus gebracht, wird sie mit ein paar Rezepten schnellstmöglich wieder entlassen. Man solle sich im Kloster um sie kümmern. In der Klostergemeinschaft ist sie nun jedoch unerwünscht, man fürchtet Unruhe durch ihre aufmüpfige, provokante Art.
Aus Verzweiflung über die Ausweglosigkeit und aus Angst, die beste Freundin zu verlieren, versucht die labile Alina sogar, Teil dieser Gemeinschaft zu werden. Ihre weltlichen Erfahrungen, ihr Sarkasmus und ihre Wut kollidieren aber heftig mit dem ewig langen und absurden Sündenkanon (mit 464 Sünden!), den in ihren Augen scheinheiligen und rigiden Vorschriften.
Sie reagiert impulsiv und aggressiv, beschimpft Nonnen und Priester, zerschlägt eine Ikone und zündet ihre Zelle an. Die Klostergemeinschaft sieht sich zum Handeln gezwungen, zu einer disziplinierenden Hilfe, damit böse Mächte sie verlassen, damit sie zu Gott finden kann.
Mit Ketten an den Handgelenken wird sie auf ein Holzgestell gebunden. Während sie tagelang in der Kälte und ohne Nahrung bewegungslos liegen muss, liest ihr der Priester endlose religiöse Texte vor.
Trotz aufkeimenden Mitleids für Alinas desolaten Zustand und ihrer körperlichen Schwäche, folgen die Nonnen blind den Anweisungen. Auch Voichita, die mit der qualvollen Situation ihrer Freundin sichtbar hadert, widersetzt sich kaum.
Eines Morgens versagen Alinas Kräfte. Sie stirbt an Herzstillstand, noch bevor der gerufene Notarztwagen das Krankenhaus erreichen kann.
Cristian Mungius Drehbuch zu „Jenseits der Hügel“ wurde ebenso wie die beiden Hauptdarstellerinnen Cristina Flutur und Cosmina Stratan bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes mit einer Goldenen Palme geehrt. Der Film basiert auf einer wahren Begebenheit, die sich 2005 im Kloster Tanacu, nahe der moldawischen Grenze in Ostrumänien ereignet hat. Infolge einer Art exorzistischen Rituals verstarb dort die junge Irina Cornici. Der Priester Daniel Corogeanu wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt, ihm wurde auch die Priesterwürde entzogen. Vier Nonnen bekamen ebenfalls langjährige Gefängnisstrafen und wurden exkommuniziert.
Die rumänische Journalistin Tatiana Niculescu recherchierte die Geschichte, in ihren im Humanitas-Verlag erschienenen Büchern „Spovedanie la Tanacu“ („Beichte in Tanacu“, von 2006 ) und „Cartea judecatorilor. Cazul Tanacu“ („Das Buch der Richter. Der Fall Tanacu“, 2008) machte sie die rumänische Öffentlichkeit darauf aufmerksam.
Der Fall löste eine rege Diskussion über fragwürdige, gefährliche – und mittelalterlich anmutende – Methoden und Praktiken in der orthodoxen Kirche aus. Viele rumänische und russische Rezensenten des Films von Cristian Mungiu schließen sich dieser Kritik eines „orthodoxen Totalitarismus“ an.
Obwohl sich die Geschichte in einer Klostergemeinschaft ereignet hat, sollte man sie nicht nur mit verengtem Blick auf religiöse Gemeinschaften betrachten.
Denn die Suche nach emotionalem Halt und Bindung sowie ihr Unverständnis für die Motivation und veränderte Lebenssituation der jeweils anderen, die Alina und Voichita ganz verschieden erleben, ist sehr wohl übertragbar.
Der Film zeigt eine Situation, in der sich aus vermeintlich hilfreicher und wohltätiger Projektion eine blinde kollektive Dynamik entwickelt, in der Grenzen unreflektiert überschritten werden. Jegliche Möglichkeit und Fähigkeit für eigene, individuelle Entscheidungen und Handlungen geht verloren. Es ist ein Beispiel für eine in sich geschlossene Gemeinschaft, die – auch aus einer unerwarteten Situation heraus - eigene und unmenschliche Regeln entwickelt und rechtfertigt. Damit bricht sie aber schließlich das Gesetz.
„Jenseits der Hügel“ zeigt allgemeine Gleichgültigkeit und Ohnmacht, es gibt keinen Optimismus. Im letzten Bild bespritzt ein zufällig vorbeifahrender Bus die ganze Frontschreibe des Polizeiautos mit ekligem Straßenschlamm. Symbolisch bedeckt er die darin sitzenden Beschuldigten, von denen niemand die Verantwortung für das Geschehene übernehmen will.
Zum Trailer:
http://www.filmstarts.de/kritiken/204033/trailer/19534977.html
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