Film von Inigo Westmeier über Kung-Fu Mädchen in ChinaCHINESISCHES KINO

Drachenmädchen – ein Film aus der Innenwelt Chinas

Film von Inigo Westmeier über Kung-Fu Mädchen in China

Der Streifen des deutschen Regisseurs Inigo Westmeier erzählt die Geschichte dreier Mädchen aus der Kampfschule Shaolin Tagou. Mit 26.000 Schülern ist sie die größte Kung-Fu-Schule Chinas. Ein wirklich ungewöhnlicher Film. Er sagt mehr über China und die Chinesen aus als viele Deutungsversuche von Soziologen und Politologen. Dem Werk wurde das Prädikat „besonders wertvoll“ verliehen. Kinostart ist am 28. Februar 2013.

Von Hans Wagner

Ameisen dachte ich. Mein erster Gedanke war: das sind Ameisen. Die Szene ist so unglaublich. Da krabbeln schnellfüßig rotschwarze Wesen, erst winzig am Horizont auftauchend in Hunderten von endlos langen Reihen über eine Betonpiste auf den Zuschauer zu. Ich hatte beim Abspielen der Ansichts-DVD erst nach ein paar Sekunden den Ton dazu geschaltet. Sie kamen also zunächst lautlos, wurden größer und schneller, dann erst hörte ich auch das laute Geschrei, bis sie schließlich die Lebensgröße von Kindern erreicht hatten und das Bild umschwenkte.

Mit dieser spektakulären Massenszene, in der Tausende Kung-Fu-Schüler auf dem Appellplatz synchron Bewegungsabläufe präsentieren, eröffnet der Film Drachenmädchen. Aber Mädchen sind in diesen ersten Sequenzen gar nicht dabei –nur männliche Schüler dürfen an solch einer Zeremonie teilnehmen.

Der Beginn des Streifens ist sehr aufwendig von einem 12-Meter-Kran aus gedreht. Regisseur Inigo Westmeier, der auch filmt, bedient dabei selbst das riesige Gerät mit dem Ausleger. Durch die Perspektive aus so großer Höhe, von der die Kamera die Schüler in ihren rot-schwarzen Trainingsanzügen aufnimmt, verstärkt sich noch der Eindruck der Ameisen.

In der Mao-Ära waren die chinesischen Werktätigen in uniforme blaue Arbeitsanzüge gekleidet und erweckten in ihrer Vielheit den Eindruck „blauer Ameisen“. Sie wurden zum politischen Begriff. Bei den Kungfu-Schülern, allesamt noch Kinder, stellte sich dieser Ameisen-Eindruck in vielen der rotschwarzen Massenszenen ebenfalls ein.

Träume kann man nur nachts sehen

Inigo Westmeier hat seinem Film den Titel „Drachenmädchen“ gegeben.  Eine der jungen Kung-Fu-Schülerinnen ist die neunjährige Xin Chenxi. Das Mädchen ist für sein Alter bereits sehr erwachsen, auch wenn es mit Hingabe die Geschichte der Prinzessin und des Drachens (daher der Titel „Drachenmädchen“) erzählt. Die Botschaft des Märchens berührt: „Träume kann man nur nachts sehen“, sagt sie leise. Doch sie ist auch realistisch: „Was man plant und was man sich wünscht, ist anders als das, was passiert.“

Der 90-Minuten-Kinofilm erzählt die Geschichte dreier Mädchen aus der Kampfschule Shaolin Tagou, die in der zentralchinesischen Provinz Henan liegt. Mit 26.000 Schülern ist sie die größte Kung-Fu-Schule Chinas. Sie befindet sich direkt neben dem Shaolin Tempel, dem Ursprungstempel des Kung Fu.

Rund 1000 Kilometer von ihren Eltern entfernt kämpfen sich Xin Chenxi (9), Chen Xi (15) und Huang Luolan (17) in der Masse der anderen Mädchen und Jungen durch einen Alltag, der von Disziplin, von eisernen Regeln und täglichem harten Training geprägt ist. Doch Kung Fu ist zugleich auch ihre Chance. Sie wissen, wofür sie so hart trainieren: Eines Tages wollen sie zu Chinas Kung-Fu-Elite gehören. Je besser sie ihre Kampftechniken beherrschen, desto größer ist ihre Chance, aus ihrer ärmlichen Herkunft ein lebenswertes Leben zu machen.

Ein Hauch von Reichsparteitagsinszenierung

Der Film Drachenmädchen begleitet die Kung-Fu-Schülerinnen, deren Sport durch seine einzigartige Kombination aus Kraft, Ausdauer, visueller Schönheit und Perfektion weltweit begeistert. Dem deutschen Dokumentarfilmer Inigo Westmeier gelingt - trotz schwieriger Drehbedingungen - ein intimer und berührender Einblick in das Seelenleben der Schülerinnen, die hin- und hergerissen sind zwischen den extrem hohen Anforderungen des Trainings und der Sehnsucht nach Geborgenheit in ihren Familien, die die meisten von ihnen doch sehr vermissen.

Explosive Massenauftritte wechseln mit ebensolchen Einzelszenen, Beine werden hochgeschleudert, dass sie quasi vor die Köpfe der Mädchen knallen. Die Aufzüge haben manchmal einen Hauch von Reichsparteitagsinszenierung. Drill herrscht unverkennbar tagein, tagaus und bestimmt das Leben der Mädchen und Jungen.

Unwillkürlich fragt man sich: Wo bleibt das Kindliche? Wo die Kindheit? Alles ist auf Elite ausgerichtet. Begriffe wie starker Körper, starker Wille, geistige Kraft werden immer wieder von Lehrern, Trainern, aber auch von den Schülern selbst gebraucht, die ihre Lektion offenbar zu lernen bereit sind.  

Willig und diszipliniert sollen die Kinder sein

Kung-Fu-Schulen sind Erziehungsanstalten. Viele Eltern, so erfährt man in dem Film, hätten nicht die Zeit für die Erziehung ihres Nachwuchses, weil sie in der leistungsorientierten chinesischen Gesellschaft hart und lang arbeiten müssen. „Viele werden mit den Kindern auch nicht mehr fertig“, erzählt ein Lehrer. Diese werden dann auf die Kung-Fu-Schule nach Shaolin Tagou geschickt, wo man mit immenser Härte nachholt, was das Elternhaus nicht geschafft hat, willige und disziplinierte Kinder heranzuziehen.

Die Eltern erhoffen sich vor allem auch eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Sie sollen es einmal besser haben. Die meisten, die es schaffen auf der Kung-Fu-Schule durchzuhalten, arbeiten danach bei der Polizei oder beim Militär. Dort verdienen sie auf jeden Fall mehr als ein Bauer oder ein  Fabrikarbeiter.

Die kleinen Mädchen wissen das bereits. Sie trainieren nicht zuletzt deswegen so hart. Ihnen ist aber auch bewusst: Wenn ich hier fertig bin, bin ich nicht die Einzige. Es warten Tausende andere darauf, den ersten Platz bei einem Wettkampf zu belegen. Sie wissen, 26 000 andere wollen wie ich die Beste werden. Und das ist nur meine Schule. In ganz China gibt es viele Schulen und alle wollen die Besten sein.

Kung-Fu ist eine Haltung

Das ist ein gnadenloser Ausleseprozess. Er ist systemimmanent in China und ganz sicher eines der Geheimnisse für den Erfolg seiner Wirtschaft und seiner Technik in der Welt.

Kung Fu ist eine Haltung. Der Begriff wurde ursprünglich im Chinesischen nicht für Kampfsport verwendet. Er bezeichnet vielmehr „die im Laufe der Zeit durch harte Arbeit gewonnene Energie.“

Der Schulleiter und der Mönch Shi Yan Zhuang, der eine Koryphäe des Shaolin Kung Fu ist, unterhalten sich in einer Szene sehr engagiert über Erziehung, Disziplin und die Bedeutung des Kung Fu im Alltag. Der Schulleiter erklärt seine strengen Regeln, die aus den noch ungeformten Kindern leistungsfähige Menschen machen sollen. Wörtlich sagt er über die Erziehung eines Schülers im Kung Fu: „Wir müssen zuerst seine Gedanken und sein Verhalten zurechtbiegen, damit er nicht glaubt, er sei nutzlos für die Gesellschaft.“ Der Mönch preist Kung Fu als Weg zur inneren Weisheit und Selbstbefreiung. Er sagt: „Durch Kung Fu gewinnt man innere Freiheit und überwindet die Grenze zwischen Leben und Tod – was kann einem da noch passieren?“

Das karge Leben

Ein Tagesablauf bei Kung-Fu-Schülern ist mit einem westlichen Verständnis von Kindheit und Erziehung kaum vereinbar. Der Tag beginnt wie in einer Kadettenanstalt  mit Frühsport. Um 5.40 Uhr stehen alle auf und gehen zum Trainingsplatz. Bis 7.30 Uhr wird trainiert, danach gibt es Frühstück. Von 8.50 Uhr bis 11.50 Uhr wird wieder trainiert. Dann gibt es Mittagessen, zwanzig Minuten lang. Anschließend wird studiert. Eines der Mädchen sagt: „Wir hetzen uns ab. Es wird hart trainiert." Schläge mit Fäusten und Tritte mit Füßen seien normal.

Das Leben auf der Kung-Fu-Schule ist karg: Auch im Winter gibt es keine Heizung, das Essen ist schlecht, die Trainingszeiten sind extrem lang, und die Schüler haben keine Privatsphäre. Trainerin Zhou Jin Ji formuliert ihre Ansprüche an die Kinder so: „Am schlimmsten ist es, wenn die Kinder mittelmäßige Leistungen zeigen. Fehler sind nicht erlaubt.“

Drillmäßig geht der Tag zu Ende bis zum Einschlafen. Auch in den Schlafräumen wird auf strenge Disziplin geachtet. Ein Mädchen weist daraufhin: „Es gibt Stockschläge. In den Schlafräumen liegen Schlagstöcke bereit.“ Um 18.20 Uhr gehen alle in den Schlafsaal, um 20.30 Uhr ertönt das Horn, das die Schlafenszeit ankündigt. Die 15 Jahre alte Chen Xi gibt zu, dass sie nachts oft weint, wenn alle schlafen.

„Tränen sind Ausdruck der Unfähigkeit“

Die neunjährige Xin Chenxi dagegen stellt sich unheimlich stark dar: „Am Anfang“ berichtet die kleine Kung-Fu-Schülerin, „habe ich viel geweint.“ Doch das liege hinter ihr. Inzwischen gibt sie die stahlharte Kämpferin und sagt: „Tränen sind Ausdruck der Unfähigkeit. Weinen bringt nichts, man muss sich mutig der Situation stellen.“

Diese Einstellung ist es, zu der die Jungen und Mädchen „zurechtgebogen“ werden. Sie ist gewollt. Irgendwann  ist es dann so weit: Die Kinder zeigen auch gegeneinander eine gnadenlose Härte. „Selbst wenn sie verwandt sind“, berichtet eine der Trainerinnen, „schlagen sie sich gegenseitig halb tot“.

Chen Xi ist 15 Jahre alt. Ihr Name bedeutet „erstgeborene Sonne“ und steht für Hoffnung. Als sie zwei Jahre alt war, wurde sie den Großeltern übergeben, weil ihre Eltern zum Arbeiten in die Stadt gegangen sind. Das Mädchen vermisst ihre Eltern oft. Doch sie spricht nicht viel. Die Schule empfindet sie als einen Vogelkäfig, der sie daran hindert, um die Welt zu reisen. Zum ersten Mal richtig lange mit ihrem Vater geredet hat sie erst, als sie mit ihm von der Schule aus telefonierte. Er hat ihr gesagt, dass sie wie ein Drache sei, dessen Schnur gerissen ist, und dass sie aufpassen solle, nicht an ein Flugzeug zu stoßen.

„Wenn du lange genug durchhältst, kannst du eines Tages dein Haupt erheben“

Beim Wettbewerb des Eliteteams, das atemberaubende, hochkarätige Leistungen zeigt, schafft Xin Chenxi „nur“ den zweiten und einen vierten Platz. Als sie mit ihrem Vater telefoniert, sagt er, sie solle sich mehr anstrengen, härter trainieren Chen Xi: „Ich will jeden Tag gut trainieren und jeden Tag besser werden. Mit Kung Fu ist es so eine Sache: „Wenn du lange genug durchhältst, kannst du eines Tages dein Haupt erheben.“

Aber können wirklich alle dem Drill der Schule standhalten? Nein, nicht alle werden so stark, manche halten die Härte nicht aus und fliehen. Auch von den Trainern, so erfährt man im Film, laufen immer wieder welche weg.

Andere nehmen schließlich die Philosophie der Kampfschule an und verinnerlichen sie. Die Mädchen sagen dann von sich aus: „Wenn jemand mit dir schimpft, heißt das, er ist gut zu dir, er kümmert  sich um dich. Würde er nicht schimpfen, dann würde er sich nicht mehr um dich kümmern.“

Sie verletzen sich, brechen sich Knochen, fügen sich Wunden zu durch die scharfen Schwerter, mit denen sie üben und kämpfen. In einer der seltenen ruhigen Minuten eines Tages an der Kampfschule zeigen sie sich gegenseitig ihre Narben und Wunden und prahlen damit. Eine Schülerin ist stolz darauf, dass ihre Wunde „mit 16 Stichen genäht wurde, ganz ohne Betäubung.“

Ein Vogel im Käfig ist glücklich

Die oberste Kung -Fu-Koryphäe, der Mönch Shi Yan Zhuang sagt mit Blick auf die Kinder, die da geschliffen werden: „Ein Vogel  im Käfig ist glücklich. Er hüpft beim Füttern freudig herum. Wir empfinden, dass er nicht frei ist, aber er empfindet das anders. Frei oder nicht frei, das ist ein inneres Gefühl – es kommt auf den Blickwinkel an.“

Es gibt auch seltene Szenen von einem „Heimaturlaub“ junger Kämpferinnen. Zum Beispiel von dem Mädchen Xin Chenxi . Sie ist mit sieben Jahren auf die Schule Shaolin Tagou gekommen, hoffte, dort würde man fliegen lernen. Jetzt ist sie neun Jahre alt und besucht ihren Vater in der 1.400 Kilometer entfernten Provinz Zhejiang im Südosten Chinas. Sie hat nur wenige Tage Zeit mit ihm. Ihr Vater ist Melonenverkäufer. Er muss hart arbeiten, um die rund 300 Euro im Jahr zu verdienen, die die Schule für seine Tochter kostet. Er setzt große Hoffnungen in sie, dass sie es einmal besser haben wird als er. Xin Chenxi weiß schon, was sie einmal werden will: „Soldatin.“

Im Dorf gibt es kaum andere Kinder, es wirkt wie ausgestorben. Die meisten Bewohner sind in die Städte gezogen, um dort Geld zu verdienen. Ihr Vater verspricht ihr, sie auf ihrer Schule zu besuchen, wenn sie den ersten Platz im jährlichen Wettbewerb belegt. Aber nur dann. Sie will ihr Bestes tun, das verspricht sie ihm. - Dann macht sie sich auf den langen Weg zurück zur Schule.

Schulleiter Liu Heike erklärt, dass die Shaolin Tagou mit ihren insgesamt 35.000 Angehörigen, Schülern, Trainern und Erziehern, die größte private Kung-Fu-Schule Chinas sei. Sie wurde 1978 mit nur wenigen Schülern gegründet und vermittle seit jeher außer Kampfkunst auch elementare kulturelle Bildung. „Wir sind eine große harmonische Gemeinschaft und festigen dadurch die kollektive Mentalität“, sagt sie.

Die neunjährige Xin Chenxi ist für ihr Alter bereits sehr erwachsen, auch wenn sie mit Hingabe die Geschichte der Prinzessin und des Drachens (daher der Titel „Drachenmädchen“) erzählt. Die Botschaft des Märchens berührt: „Träume kann man nur nachts sehen“, sagt sie leise. Doch sie ist auch realistisch: „Was man plant und was man sich wünscht, ist anders als das, was passiert.“

Ein wirklich ungewöhnlicher Film. Er sagt mehr über China aus, als viele Deutungsversuche von Soziologen und Politologen. 

Ein märchenhafter Film mit kritischem Blick

Regisseur Inigo Westmeier über seine Beweggründe, die ihn veranlasst haben, diesen Film zu drehen: „Meine Vision ist ein märchenhafter Film mit kritischem Blick. Ein Film, der die persönlichen Geschichten dreier Mädchen erzählt, die von morgens bis abends kämpfen
lernen, um ihrer Armut zu entkommen, und der auf einer zweiten Ebene realistisch und
kritisch auf das System blickt, in dem diese Mädchen aufwachsen. Mein Ziel ist es, hinter der Kulisse das Menschliche und Zwischenmenschliche dreier trainierender Mädchen zu zeigen, ihre Herkunft, ihre Träume, ihr Leben. Es ist nicht diese beeindruckende „Fassade“, die mich so fasziniert, sondern das Kindergesicht.

Inigo Westmeier wurde in Brüssel geboren. Seine Schulausbildung absolvierte er in Belgien, USA und Deutschland. Von 1994 bis 1999 studierte Westmeier an der Filmhochschule in Moskau. Nach Abschluss des Studiums im Jahr 2003 arbeitete er als Kameramann für Spielfilme, internationale Werbefilme und zahlreiche preisgekrönte Kino-Dokumentarfilme .

Sein neuester Film „Drachenmädchen“ erhielt von der Bewertungsstelle das Prädikat „besonders wertvoll“.

China Film

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