Rezension zu In Deutschland angekommen von Mohammed KhalloukGELESEN

„In Deutschland angekommen: Marburg“ von Mohammed Khallouk

Morgenländischer Immigrant hält seiner deutschen Heimatstadt den Spiegel vor - anhand seiner deutschen Heimatstadt Marburg hat der marokkanischstämmige Autor Mohammed Khallouk in 76 Fragmenten seine Wahrnehmung von Geschichte und gesellschaftlicher Gegenwart in Deutschland in prosaischer Form reflektiert.

Von Philipp Müller

 
Rezension zu „In Deutschland angekommen: Marburg“ von Mohammed Khallouk  

Mohammed Khallouk entgehen keine Ereignisse, Anekdoten und Merkwürdigkeiten in dieser Universitätsstadt. Zwar versteht er nicht alles, was sich in und um Marburg abspielt und einstmals abgespielt hat, er ist jedoch stets darum bemüht, es aus seiner kulturellreligiös im arabo-islamischen Raum verorteten Sichtweise heraus zu deuten.

Im einleitenden, mit dem Buchtitel „In Deutschland angekommen“ identisch überschriebenen ersten Fragment beginnt die Prosa mit der Einreise eines dem arabo-islamischen Kulturkreis entstammenden Immigranten ins „Land der Dichter und Denker“ und seiner Landung auf dem Frankfurter Flughafen. Die nachfolgenden Fragmente schildern, wie dieser Immigrant, der Protagonist, mit dem der Autor sich offenbar selbst identifiziert, zum Studium nach Marburg gelangt.

Kontrast zum Deutschlandbild seiner Jugend

Das Leben der geschichtsträchtigen Universitätsstadt mit all ihren Besonderheiten, aber auch scheinbaren Widersprüchen zeichnet er in den anschließenden Fragmenten nach.
So sehr dem Autor die Internationalität und Multikulturalität des heutigen, studentisch dominierten Marburg behagt und ihm sogar an der Dominanz des Hochdeutschen gegenüber dem kaum verständlichen hessischen Dialekt der Vororte angenehm auffällt, er behält auch die dunklen Phasen der Marburger Historie stets im Auge. Ihm ist beispielsweise nicht entgangen, dass der einst in Marburg beheimatete Deutsche Orden nicht nur einen der mittelalterlichen Kreuzzüge gegen seine Religion, den Islam, geführt hat, sondern auch anschließend mit der Ostkolonisation einen „christlich“ gerechtfertigten Genozid an „heidnischen“ Polen und Balten zu verantworten hat.

Den neuzeitlichen deutschen Genozid an den Juden kann er ebenfalls nicht übersehen. Das Mahnmal zeigt ihm deutlich, dass Ausgrenzung des Anderen sich bis zum Vernichtungswahn hin steigern und prinzipiell jede Andersartigkeit treffen kann. Obwohl eindeutig zum Ausdruck gelangt, dass jene Extremform von Unduldsamkeit eines vom Eigenen abweichenden Anderen im gegenwärtigen Deutschland nicht besteht, nimmt der Autor dennoch auch in der deutschen Gegenwart eine inhumane Kälte wahr, die in absolutem Kontrast sowohl zu dem Deutschlandbild seiner Jugend als auch zu der einladenden Pluralität des Marburger Studentenlebens steht.

Plädoyer für eine humane, rechtschaffene Gesellschaft

Kollektivvorurteile sind existent, nicht nur gegenüber Juden und Muslimen bei einigen deutschen Christen, sondern bereits bei Einwohnern der Marburger Altstadt gegenüber den Plattenbaubeziehern in der 60er-Jahre-Siedlung Richtsberg. Der Protagonist ist ebenfalls nicht frei von Voreingenommenheit, beispielsweise gegenüber homosexuellen Mitstudenten, von der er sich erst durch die unmittelbare Konfrontation zu lösen beginnt. Dieses Überwinden ist dem Autor ein Herzensanliegen. Es richtet sich nicht nur an unsere unreflektierte Urteilskraft, sondern darüber hinaus an die dunklen Seiten in uns schlechthin, die uns bei Gewitter in den Abgrund treiben können.

Vor diesem Hintergrund stellt Khallouks Prosa nicht nur eine literarische Bespiegelung der deutschen Gesellschaft dar, als mehr ein Plädoyer für eine humane, rechtschaffene Gesellschaft, welche den deutschen Sinn für Loyalität gegenüber Gesetz und Obrigkeit mit der orientalischen Aufgeschlossenheit gegenüber dem Mitmenschen verbindet.

Die Fragmente lassen uns Deutsche nachempfinden, wie sehr doch unser Anspruch und unsere Wirklichkeit auseinanderklaffen. Wir bauen die schnellsten Autos und finden bei  Behring Mittel gegen alle Krankheiten der Welt, aber den freundlichen Blick zu unseren Mitmenschen müssen wir noch aus dem Orient importieren. Jedem Fremden, der zu uns kommt, unterstellen wir böse Absichten. Ob es ein Dunkelhaariger auf dem Flughafen ist, ein angehender Diplomand auf der Ausländerbehörde oder auch nur eine einkaufende Frau an der Kasse im Supermarkt, die einen anderen Preis als der Computer sagt, zahlen will.

Nicht der übliche Klagestil von Immigrantenliteratur

Ausländer in 60er Jahre Vierteln sind grundsätzlich Diebe und Betrüger, aber auch blonden, blauäugigen Damen muss die Aufrichtigkeit schon elektronisch nachgewiesen sein. Ein wenig mehr von der orientalischen Unverkrampftheit, die der Autor aus seinem Herkunftsland mitbringt, tut uns gut. Dann sind wir zwar vielleicht nicht mehr so perfekt, man wird uns unsere Fehler jedoch mehr nachsehen.

Das Buch ist jedem zu empfehlen, der unsere Gesellschaft einmal aus anderer Perspektive erfahren will. Es hat nicht den üblichen Klagestil von Immigrantenliteratur, man bekommt aber so manche Einsicht und Lebensweisheit vermittelt, die Bücher von Einheimischen nur selten zu bieten vermögen.

*

Rezension zu „In Deutschland angekommen: Marburg“ von Mohammed Khallouk, Rimbaud Verlag, Aachen 2013, 160 Seiten, 15,00 Euro, ISBN-13: 978-3890864389.

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