Russland ist anders – und Sibirien erst rechtSIBIRIEN

Russland ist anders – und Sibirien erst recht

Russland ist anders – und Sibirien erst recht

Krasse Gegensätze, ein ungewohnter Lebensstil und eindringliche Erlebnisse machen die besondere Faszination Sibiriens für den ausländischen Besucher aus. Ob in der Eisenbahn, daheim bei der Gastfamilie oder bei den Feierlichkeiten zum „Tag des Sieges über den Faschismus“ - dieser Teil Russlands überwältigt mit einem unerschöpflichen Reichtum an Skurrilität.

Von Janine Gaßmann

D Der alte Mann ist mit seinem Enkel unterwegs. Der Opa schnarcht schon seit Stunden. Die schmale Matratze rutscht bei jeder Bewegung von der aalglatten Pritsche. An Schlafen ist nicht zu denken.

Klar, dass immer wieder gefragt wird, „wann kommen wir eigentlich an?“ Die Antwort ist immer die gleiche:  „Um drei Uhr Moskauer Zeit.“ Doch dann geht es wieder los: „In welcher Zeitzone liegt unser Zielort überhaupt? Müssten wir nicht schon längst da sein?“

Der Lichtschein am Horizont ist grün. In großen Lettern steht auf dem mintfarbenen Bahnhofsgebäude der Name der Stadt: Nowosibirsk. Die Nacht im Großraumwaggon der Transsibirischen Eisenbahn lässt vermuten, wie nervenaufreibend die Fahrt auf der gesamten Strecke sein kann. Und dennoch üben die vorbeiziehende Taiga, der ewig heiße Samowar, das Tragen von Hausschuhen im Zug und der familiäre Umgang der Passagiere untereinander eine besondere Faszination aus.

Raum gibt es in Sibirien in Hülle und Fülle

Bei Zugreisen werden die beeindruckenden Dimensionen Sibiriens besonders offenbar. Man fährt nicht nur stundenlang über Land, um in die nächste Stadt zu gelangen, sondern man wird unterwegs auch nicht einer einzige Menschenseele ansichtig. Auch an die flächenmäßigen Ausmaße sibirischer Städte müssen sich Europäer erst einmal gewöhnen. Raum ist in Hülle und Fülle vorhanden, da braucht sich keine Kommune einzuschränken. Die innerstädtischen Alleen, Prospekte und Parks nehmen schier unvorstellbare Flächen ein. Auf den zentralen Lenin-Plätzen könnten ganze Dörfer errichtet werden.

Der Nowosibirsker Lenin sollte ursprünglich seinen Arm in Berlin ausstrecken, war für die deutsche Hauptstadt aber zu groß. Hier dagegen geht er angesichts der riesigen Fläche und des gigantischen Opernhauses im Hintergrund fast unter.

Die Existenz von Lenin-Statuen als solche und die immer noch allgegenwärtige Präsenz von Hammer und Sichel in Sibirien sind durchaus gewöhnungsbedürftig. Sie zeigen eine wichtige Eigenschaft der russischen Mentalität: die nahezu absolute Gleichgültigkeit gegenüber Raum und Zeit. Die Sowjetgrößen stehen seit mehreren Jahrzehnten hier, warum sollten sie ausgerechnet jetzt verschwinden? Oder dreißig Stunden im Zug verbringen. Da hat der Russe dennoch nie das Gefühl, eine besonders große Distanz zu überwinden. Das ist für ihn einfach kein Problem.

Ungereimtheiten im Alltag werden ebenfalls mit großer Gelassenheit hingenommen. Typische Schlüsselszenen: Ein Auto steht mit offener Motorhaube mitten auf einer Kreuzung in der Innenstadt und blockiert den gesamten Verkehr. Der Fahrer ist sich nicht ganz sicher, warum das Fahrzeug den Geist aufgegeben hat, aber er versucht auch nicht krampfhaft, das Problem zu beheben.

Bei einer Überlandfahrt taucht eine Holzbrücke auf, die nicht mehr passierbar ist, weil einige der Baumstämme durchgebrochen sind. Ein Traktor kommt aus der entgegengesetzten Richtung und fährt einfach neben der Brücke durchs Wasser. Geht doch!

Solche Beispiele zeigen, dass das Leben hier anscheinend sehr viel entspannter verläuft als im hektischen Moskau oder im Westen. Die Menschen in diesem Teil der Welt machen sich keine unnötigen Gedanken über Dinge, die sie nicht ändern können – selbst dann nicht, wenn sie sie eigentlich ändern könnten.

Innerhalb der Familie spielen die Väter keine Rolle

Die Menschen in Sibirien vereinen viele Gegensätze in sich, die für Ausländer nur schwer fassbar sind. Einer herzlichen Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft im familiären Bereich beispielsweise steht die kühle Distanziertheit in der Öffentlichkeit gegenüber. Nur wer eng mit jemandem befreundet ist, wird auf der Straße auch entsprechend mit fürsorglicher Aufmerksamkeit gewürdigt.

Wer dagegen als Fremder jemals in den Genuss gekommen ist, den öffentlichen Nahverkehr in Anspruch zu nehmen, wird dies sicherlich auch nicht so schnell vergessen. Besonders zu den Stoßzeiten sind Ellenbogen und gute Stimmbänder gefragt. Von Höflichkeit ist dann nur noch selten etwas zu spüren. Aber das ist verständlich, denn anders wird es schwer, in einen Bus ein- oder auszusteigen.

Innerhalb der sibirischen Familie existieren spezifische Verhaltensmuster. Mutter und Kinder beispielsweise hegen ein sehr enges Verhältnis. Oft entsteht daraus eine gewisse Unfähigkeit der Kinder, eigenständig Entscheidungen zu treffen. So wird Mama immer - zumindest telefonisch - konsultiert, wenn es darum geht, Dinge des alltäglichen Gebrauchs anzuschaffen oder wenn die Erlaubnis benötigt wird, abends auszugehen. Selbst bei Kindern im heiratsfähigen Alter ist das noch zu beobachten. Der Vater hingegen, soweit noch vorhanden, scheint im Familienleben eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Keiner spricht mit ihm ohne explizite Aufforderung und sogar ein „Guten Morgen“ bekommt man von ihm nur selten zu hören.

Im Haus hat die Frau zweifelsohne das Sagen. Sie kann ihrem Mann bei Tisch ohne weiteres den Mund verbieten. Selbst auf die Wahl des Fernsehprogramms kann Papa nur Einfluss nehmen, wenn er eine eher subtile Strategie fährt: so lange Streit anzetteln, bis sich alle aus dem Wohnzimmer verziehen, zum Beispiel.

Bei Aktivitäten außerhalb des Domizils der Familie verschiebt sich diese Rollenverteilung jedoch schlagartig. Wenn das Familienoberhaupt über das Wochenende wegfährt, können die Zurückgebliebenen nur mutmaßen, wo er sich aufhält oder wann er wiederkommt. Fragen werden keine gestellt. Mama packt ihm noch das komplette Essen für zwei Tage ein und weiß anschließend nicht genau, wann sie ihren Mann das nächste Mal sehen wird. Entweder ist er mit seinen Freunden zum Fischen gefahren oder er arbeitet im Garten. Tatsächlich kommt er manchmal mit einem Sack Fische oder Äpfel auf der Schulter nach Hause.

Skurriles Sibirien – Siegesfeiern und Bikinis zwischen Eisschollen

Ein skurriles Spektakel ist der „Tag des Sieges über den Faschismus“, an dem Soldatenabordnungen und Veteranen auf dem Leninplatz aufmarschieren. Die Sowjetfahne im Original weht über der Oper und sogar Panzer rollen durch die Seitenstraßen, damit Kinder auf ihnen spielen können. Banner mit Propagandaparolen hängen an den öffentlichen Gebäuden.

Ein anderes Überbleibsel aus der Zeit vor dem Fall des Eisernen Vorhangs scheint auch die Umgangspraxis mit Ausländern. In Sibirien sind sie immer noch Exoten und brauchen zum Beispiel einiges an Überredungskunst an Bahnhofsschaltern, um ein Ticket zu erhalten, wenn nur eine bestimmte Stadt als Aufenthaltsort auf ihrem Visum vermerkt ist.

Besonders nach dem Winter bieten sich dem Betrachter bei Ausflügen viele surreale Szenen. Kurz nach Frühlingsanbruch am riesigen Stausee Ob-Meer zum Beispiel ist es an manchen Tagen so heiß, dass die Mädchen in knappen Bikinis Beach-Volleyball spielen, während die Jungs den Grill für den Abend herausputzen und die Gitarre bereithalten. Derweil springen Kinder zwischen ihren Sandburgen und gewaltigen Eisschollen hin und her. Im Hintergrund steht der Jeep auf dem Eis.

Krasse Gegensätze werden das Land noch lange beherrschen

Sibirien, ja vielleicht ganz Russland, scheint ein Land der Gegensätze zu sein. Auf dem Krasnij Prospekt von Nowosibirsk fährt nicht selten ein auf Hochglanz polierter Porsche Cayenne neben einem alten, rostigen Lada daher. Im Zentralpark sitzt die zahnlose Babuschka neben einer Personenwaage und wartet, bis sich jemand gegen ein wenig Bares wiegen möchte, während ein Businessmann im maßgeschneiderten Anzug mit neuestem Handy-Modell an ihr vorübergeht.

Historisch gesehen hat sich in Russland nie eine Mittelschicht wie in Europa im Laufe des 18. Jahrhunderts herausgebildet. Erst seit dem Zusammenfall der Sowjetunion beginnen sich derartige Strukturen langsam zu entwickeln. Diesen Prozess zu beobachten, ist sicherlich sehr spannend, und es wird wohl noch eine Weile dauern, bis die krassen Gegensätze einschmelzen.

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Die Autorin studiert Anglistik, Politik und Journalistik an der Universität Leipzig im 10. Semester. Im April und Mai hat sie in Nowosibirsk ein Praktikum am deutschen Generalkonsulat absolviert.

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