Schmuggelfahrten und HightechträumeUKRAINE: BALD EU-ANRAINERSTAAT

Schmuggelfahrten und Hightechträume

Mit dem voraussichtlichen EU-Beitritt Polens, Ungarns und der Slowakei im Mai 2004 wird die Ukraine eine direkte Grenze mit der Europäischen Union haben. Wilhelm Johann Siemers reiste durch die West-Ukraine, um vor Ort die Stimmung in der Bevölkerung auszuloten.

Von Wilhelm Johann Siemers

EM – „Die Grenznähe hat unsere Männer verdorben“, sagt Ruslana Schylo und ein Schatten legt sich auf das Gesicht der sonst so gerne lachenden Frau. Die gelernte Näherin aus dem wolynischen Dörfchen Kustytschi im Nordwesten der Ukraine erzählt leise vom Niedergang der letzten Jahre. An geregelter Arbeit und Disziplin fehle es. Die meisten Männer säßen zu Hause, um gelegentlich nach Polen zu fahren. „Auch mein Mann ist mit von der Partie“, gibt Ruslana zu. Mit den Jahren wisse er, wie man ohne große Vorkommnisse Zigaretten und Spiritus über die Grenze bringe. Sein roter VW-Golf sei entsprechend umgerüstet. In sämtliche Hohlräume, sowie in den präparierten Tank fülle er die hochprozentige Flüssigkeit. Der Kraftstoffbehälter nehme jetzt nur so viel Benzin auf, um es gerade bis zum polnischen Großabnehmer kurz hinter der Grenze zu schaffen. Schwierigkeiten mit dem Zoll in Jagodyn geht er mit einem bewährten Trick aus dem Weg: im Kofferraum liegt immer ein Dollar- oder Euroschein. Er verdiene so bis zu 30 Euro netto am Tag und könne es zu einem bescheidenen Vermögen bringen. Nur das leicht gewonnene Geld zerrinnt schnell. „Wie die meisten Mannsbilder hier besäuft sich mein Angetrauter zwischen den Fahrten“, klagt die 29-Jährige.

Walentina Kowaltschuk, als Hilfsärztin die medizinische Instanz im Dorf, kennt die familiären Tragödien. „Wo mit Alkohol geschmuggelt wird, sind die Trinker nicht weit“, meint sie vielsagend und erzählt, dass manche Ehefrau von ihrem betrunkenen Mann Prügel bezieht. Von der Osterweiterung der EU und der Einführung der Visumspflicht für Ukrainer im Sommer erhofft sie sich, einen Rückgang der illegalen Geschäfte. Zwar werde die leichte Geldquelle versickern und die Armut möglicherweise steigen. Doch dann wären die Männer letztlich gezwungen, durch regelmäßige und legale Arbeit die Familie zu ernähren, glaubt die schlanke dunkelhaarige Frau.

„Ich bewerte die EU-Osterweiterung für die Ukraine positiv“

Weiter im Süden der Westukraine, wo man sich gerne als geistige Elite der ukrainischen Nation und Herz Europas sieht, ist man seit jeher prowestlich eingestimmt. „Ich bewerte die EU-Osterweiterung für die Ukraine positiv“, urteilt Myroslawa Bagrinetz energisch. Die Galizierin aus dem Städtchen Skole in den Vorkarpaten setzt bei der Modernisierung des Landes auf internationale Zusammenarbeit und die Entwicklung der Zivilgesellschaft. Sie ist Leiterin des Bildungszentrums „Impuls“. Der Name ist Programm. Durch berufliche Bildung im kaufmännischen und handwerklichen Bereich will das Zentrum den Menschen in der Region einen Anstoß geben, eine Perspektive aus der Arbeitslosigkeit zu finden. Hoch im Kurs stehen Computerkurse aller Art. Sicherlich war für die Anschaffung der Technik eine Anschubfinanzierung aus dem Ausland nötig, erklärt die 42-Jährige. Sie erzählt die Geschichte, wie sie zusammen mit Herbert Unnasch von der Volkshochschule Regen (Bayern) und mit finanzieller Hilfe vom Institut für internationale Zusammenarbeit (IIZ) in Bonn das Projekt in jahrelanger Kleinarbeit auf die Beine stellte. „Eigeninitiative ist gefragt“, sagt die temperamentvolle Ukrainerin und legt gleich neue Pläne auf den Tisch. Ein Verband der Bildungseinrichtungen im Lwiwer Gebiet solle gegründet werden, um auf allen politischen Ebenen bessere Lobbyarbeit zu leisten.

„Wir brauchen mehr privatwirtschaftliche Kontakte mit der Europäischen Union.“

Optimismus verbreitet auch Bogdan Semschuk aus der Joseph-Roth-Geburtsstadt Brody. Er freut sich über die Eröffnung der nagelneuen Computerräume in seiner Zweigstelle des Bildungszentrums „Impuls“ Ende Dezember letzten Jahres. Der Abgeordnete des Stadtparlaments, ehrenamtlich auf diesem Posten tätig, kennt die wirtschaftlichen Sorgen seines Landstriches. „Auf allen Ebenen fehlt es an Wissen für eine erfolgreiche Unternehmensführung und am soliden Umgang mit Informationstechnologie, sogar dort, wo bereits Computer herumstehen“, fasst er die Lage zusammen. Trotz hoher Arbeitslosigkeit sei der Bedarf an Fachleuten groß. Mit Kursen im Finanz- und Ingenieurswesen will der gelernte Geschäftsmann das Missverhältnis reduzieren. „Dafür brauchen wir mehr privatwirtschaftliche Kontakte mit der Europäischen Union jenseits der staatlichen Institutionen“, unterstreicht er seine Bemühungen. „Außerdem würden wir gerne eine Städtepartnerschaft eingehen, um einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch mit Deutschland zu pflegen“, legt der Lokalpolitiker seine Zukunftspläne offen.

„Eigeninitiative ist die einzig richtige Strategie für uns.“

Dass mit Informationstechnologien in der Ukraine der Rubel richtig rollen kann, weiß Wolodomyr Sujewalow. Er ist Direktor der Firma „Computercenter“ in der ukrainischen Kulturhauptstadt Lwiw. Durch den Verkauf von Hard- und Software sowie der Bereitstellung von Service- und Trainingsleistungen ist der studierte Kybernetiker zu Wohlstand gekommen. „Ein Bereich, der momentan goldene Eier legt, ist die berufliche Aus- und Weiterbildung von Buchhaltern mit den neusten Computerprogrammen“, erzählt der graumelierte und intellektuell dreinschauende Computerkönig in seinen komfortablen Büroräumen in der Lwiwer Innenstadt. „Auch alle Dienstleistungen rund um das Internet boomen“, ergänzt der Spezialist. Wolodomyrs Traum ist eine Computerisierung der ganzen Ukraine bis ins kleinste Dorf, bis in jeden Haushalt. Bisweilen sind diese Vorstellungen noch potemkinsche Dörfer. Mit den hier üblichen überirdischen Telefonkabeln könne man nach einem Regenschauer nicht einmal eine Verbindung ins Nachbardorf herstellen. Dennoch bleibt der Computerexperte voller Zuversicht und sieht für die Ukraine gute Chancen, die Zukunft in der globalen Wissensgesellschaft zu meistern.

Die Osterweiterung der EU nähre jedoch in den meisten ukrainischen Grenzgebieten die Unsicherheit. Man wisse zu wenig über die Vor- und Nachteile der EU, meint die Bildungsexpertin Myroslawa Bagrinetz. Deshalb wolle sie das Angebot ihres Schulungszentrums um Politische Bildung zu Europafragen vergrößern. „Die Erweiterung der Union bringt für die Ukraine einen Anpassungsdruck mit. Eigeninitiative ist dann die einzig richtige Strategie für uns“, ergänzt die zielstrebige Frau. Zu hoffen sei, dass die Menschen im ukrainischen Westen die EU nicht nur als Absatzmarkt für Rauschmittel sehen, sondern grenzübergreifende Anstöße zur wirtschaftlichen Entwicklung bekommen.

Der Autor ist Diplom-Politologe und arbeitet als freier Journalist in Berlin.

Beachten Sie bitte auch unseren Lesetip zur West-Ukraine!

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