„Schöner neuer Orient. Berichte von Städten und Kriegen“ von Navid KermaniGELESEN

„Schöner neuer Orient. Berichte von Städten und Kriegen“ von Navid Kermani

C.H. Beck-Verlag 2003, Munchen, 240 Seiten, ISBN 3-406-50208-3.

Von Friedrich Mannstein

„Schöner neuer Orient. Berichte von Städten und Kriegen“ von Navid Kermani  
„Schöner neuer Orient. Berichte von Städten und Kriegen“ von Navid Kermani  

EM – Einmal quer durch den Orient und zurück, so könnte der Titel des Buches auch lauten. Kermani nimmt den Leser mit auf eine Schnuppertour in sechs orientalische Länder: Ägypten und Pakistan, Tadschikistan und Indonesien, Israel und den Iran. Ausgangspunkt der Reise ist Kairo, das nach seinem Weg zwischen Islamismus und Globalisierung sucht. Weiter geht es über Karatschi, wo gerade über die von General Musharraf gestürzte Regierung gerichtet wird, ins tadschikische Duschanbe, das noch immer mit den Folgen des Bürgerkriegs zu kämpfen hat. Nächste Station ist ein Einkaufszentrum in Jakarta, bevor Kermani den Leser mit einem Riesensatz zurück zur Mittelmeerküste führt und dort den Nahost-Konflikt unter die Lupe nimmt. Abschließend berichtet der Autor aus Isfahan, einer Stadt im Zentrum des Irans, die das „Wunschbild vom Alten Orient“ verkörpere und dennoch von den typischen Bausünden einer Großstadt nicht verschont geblieben sei.

Der Autor ist promovierter Islamwissenschaftler und zählt zu den angesehensten Experten seines Fachgebiets. Seit 2001 ist er Long Term Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Kermanis Orient-Reise ist eine Sammlung von Reportagen, die er seit 1996 in verschiedenen deutschen Tageszeitungen veröffentlicht hat. Auffallend ist besonders die vielfältige und ausdruckstarke Sprache der einzelnen Beiträge, sowie die raffinierte Verknüpfung von Sachinformationen und persönlichen Eindrücken. Kermani versteht sich als Berichterstatter, der den Daheimgebliebenen von seinen Reiseerlebnissen erzählt. So schildert er beispielsweise einen Nachmittag, den er bei einer Tasse Tee und dem Blubbern einer Wasserpfeife an der israelischen Mittelmeerküste verbrachte. Das Teehaus in der arabischen Altstadt von Akko wird zur Kulisse, um den Nahost-Konflikt faßbarer zu machen, um die ferne und unnahbare Abstraktheit der „Brennpunkte“ und „Spezial-Sendungen“ zu zerschlagen, um zu zeigen, daß es trotz Selbstmordattentaten und Straßenschlachten, Vergeltungsschlägen und vorrückendem Militär so etwas wie ein Alltagsleben in Israel gibt.

Verkommt die Stadt der Zukunft zum Hort des Elends?

Das Buch ist weniger eine Analyse der auf den ersten Blick aktuellen politischen und wirtschaftlichen Konflikte in den bereisten Ländern. Den Autor interessieren mehr die zukünftigen Probleme, deren Ursache er in den gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte verortet: Etwa der Verfall staatlicher Strukturen, der in Afghanistan, Somalia oder Sierra Leone am deutlichsten werde, aber längst auch andere Länder erfaßt habe. Als Beispiel führt er die Zwölfmillionenmetropole Karatschi an, die der pakistanische Staat sich selbst überlassen habe. Die Stadt der Zukunft, befürchtet Kermani, könne zu einem einzigen Elendsviertel verkommen, in denen nicht mehr die Armen, sondern die Reichen in Ghettos leben. Die darbende Masse der Stadtbewohner käme mit der hauchdünnen Schicht der Superreichen nur dann in Berührung, wenn diese in ihren gepanzerten Luxuslimousinen zum internationalen Flughafen rasten und dafür auf die Straßen der „Eingeborenen“ angewiesen wären.

Plädoyer für eine „Weltinnenpolitik“

Spätestens die Terroranschläge des 11. Septembers haben gezeigt, so Kermanis These, daß die Ghettoisierung der zweiten und dritten Welt durch die erste heute nicht mehr funktioniert. Die reichen Industrieländer könnten sich nicht gegen „Schurkenstaaten“, Terrororganisationen, Islamisten usw. abschotten, weder mit Raketenabwehrschirmen noch mit anderem technischen Gerät. Diese Illusion habe der 11. September zerstört. Genau das sei für seine schockierende Wirkung im Westen ursächlich gewesen, nicht das massenhafte Sterben von Menschen: „Der Schock bestand wesentlich darin, daß der Massenmord in die Metropolen der westlichen Welt wiedergekehrt ist.“ Da die Welt stetig näher zusammenwachse und es nicht mehr möglich sei, daß sich ein Erdteil dem anderen verschließe, müsse der Westen aus ureigenstem Interesse von einer Politik Abstand nehmen, die sich ausschließlich an kurzfristigen wirtschaftlichen und politischen Interessen orientiert. Der Verfasser plädiert daher für die Politikphantasterei einer „Weltinnenpolitik“.

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Aktueller Hinweis:

Am 30. April liest Navid Kermani in der Literaturwerkstatt zu Berlin aus seinem Buch vor. Außerdem wird Michael Kleeberg über seine Erlebnisse in Beirut berichten und sein soeben erschienenes Buch „Das Tier, das weint“ vorstellen. Am Ende der Veranstalltung gibt es die Möglichkeit zur Diskussion. Weitere Infos hier.

Orient Rezension

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