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FILM
Von Hans Wagner | 12.03.2015
Das Abenteuer beginnt im ukrainischen Teil des Flussdeltas der Donau, die hier ins Schwarze Meer eintaucht. Der vordere Teil eines weißen Kleinlasters, mit dem das Filmteam des polnischen Regisseurs Stanislaw Mucha unterwegs ist, steckt hoffnungslos fest im Schlick. Zu Hilfe kommt ein ukrainischer LKW mit zwei Männern. Misstrauisch fragt einer der Retter als erstes. „Habt ihr Bier“? – „Ja, bekommt ihr“, lautet die Antwort und damit nehmen die beiden Ukrainer die Bergungsarbeit auf und ziehen das Gefährt der Filmemacher rückwärts aus dem Sumpf.
Als das Fahrzeug flott ist, verrät Muchas den Ukrainern: „Wir wollen einen Film über das Schwarze Meer drehen. Wir wollen ums Schwarze Meer herum fahren. Müssen wir links oder rechtsrum?“
Der ukrainische Helfer kategorisch: „Ihr wollt ganz drum herum? Da kommt ihr nie hin.“ Der Wagen würde bald wieder im Morast versinken. Einen Film drehe man doch über Odessa, über die Krim, über Simferopol, aber man fahre da nicht drum herum.
Die Filmemacher haben den Rat des besorgten Ukrainers nicht befolgt. Während der sein Bier trank, bogen sie links ab, fuhren an der ukrainischen Küste entlang nach Odessa, zur Krim, an die russische Schwarzmeerküste, nach Abchasien, Georgien, zum türkischen und bulgarischen Ufer und beendeten schließlich ihr filmisches Abenteuer im rumänischen Constanta (Konstanza), ein paar hundert Kilometer südlich von Odessa.
Die Reise beginnt – ein Abenteuerfilm wie er kaum mehr möglich sein wird. Foto: Filmproduktion Tristia |
Herausgekommen ist eine erstaunliche und muntere Reise, die über 5.000 Kilometer an der Schwarzmeerküste entlangführt. Zwischen Krim und Kaukasus, türkischer Nordküste und Donaudelta erstrecken sich Landschaften, deren Zauber und Zerstörtheit gleichermaßen einmalig sind.
Der Film fängt die Kollision von mythischen Bildern, in denen die Zeit stehengeblieben scheint, mit dem rasanten, multikulturellen Wandel von postkommunistischen Ideen zu kapitalistischen Versuchungen ein.
Das Schwarze Meer ist das Meer der Widersprüche: Hier treffen Orient und Okzident, Zivilisation und Barbarei, Kriegsschauplatz und Ferienort aufeinander, Prunk steht neben Beschaulichkeit, Salz- trifft auf Süßwasser.
In der Vorstellung der Filmemacher heißt es über den Streifen: „Die Menschen sind mit unzähligen Glücksversprechen gesegnet und werden immer wieder von Enttäuschungen gebeutelt. Das Schwarze Meer, einst von Poeten als „Das Gastliche Meer“ oder das „Glückschenkende Meer“ bezeichnet, in der Bibel als ‚Blutmeer‘ tituliert, fristete zuletzt ein Dasein im toten Winkel der Weltpolitik – als Grenzregion, die touristisch nur in Ansätzen erschlossen war. Nach einem fünfzigjährigen Dornröschenschlaf, bewacht von Grenzern und Sperranlagen der Weltmächte, schrillt nun der Wecker des ungezügelten Kapitalismus.“
Was zu sehen ist beschreibt der Regisseur so: „Wir lassen uns von den Träumen der Menschen, ihren Sehnsüchten und Ängsten verführen und faszinieren. Es sind Flohmarktverkäufer, in die Jahre gekommene Wassernixen, Straßenmusiker, Balletttänzer, moderne Schatzsucher, Sportfanatiker, Schausteller, Soldaten, Kinder und Jugendliche. - TRISTIA fotografiert die Lebensräume der Menschen am Meer und die Landschaften ihrer Gesichter, besucht Landstriche, die Entzücken und Entsetzen hervorrufen. Es sind tragikomische Bilder, voller Melancholie und Kraft.“
Bizarre Formationen an der russischen Schwarzmeerküste. Foto: Filmproduktion Tristia |
Dass das Team bei seinen Dreharbeiten über all die Ländergrenzen hinwegkam, war nicht allein mit Bier zu regeln. Dem Vernehmen nach reichten die „Gastschenke“ von größeren Posten Tchibo-Kaffee bis 10.000 Euro in bar. Herausgekommen ist eine fröhliche Kulturschau, reich an bizarren Situationen und ebensolchen Filmszenen.
Tristia nennt sich der Film, angelehnt an die Bücher des römischen Dichters Ovid, die er in Form von elegischen Briefen aus seinem Verbannungsort Tomis (dem heutigen Constanta) an verschiedene Adressaten richtete – Exilliteratur voller Schwermut, Melancholie und Hader mit dem Schicksal. Auch heute gibt es davon an den Küsten des Schwarzen Meeres noch genug davon.
Mucha kommt mit seinem gewitzten Blick den porträtierten Menschen und Gesinnungen ziemlich nahe. Er spürt Kuriositäten und Absurditäten auf, die es in den Küstenregionen zuhauf gibt. In Ovidopol, 30 Kilometer von Odessa entfernt, wo man Ovid ein großes Denkmal gesetzt hat, sagen ihm Frauen „Wir leben so gut, weil die Sterberaten stabil sind – das ist der Humor von Ovidopol.“ Eine Amateurreimerin verkauft unweit der Dichterfigur auf dem Sockel eigene Gedichte – „Wildes Ufer, wildes Ufer“ heißt eines, das herzzerreißend die Schönheit des Schwarzen Meeres besingen soll.
Schnitt: Ein einsam wieherndes Ross, plötzlich über die Leinwand galoppierende Pferde, – und dann die Krim – wilde Küste, wildes Ufer, wildes Land – bizarre Felsen, Schwarzes Meer, Brandung, Wasserspiele, Lichteffekte. Schwarzmeer satt. Und alle haben es lieb. Alle Anwohner nennen es „das schönste Meer“ und „unser Meer“, egal ob Ukrainer, Russen, Abchasen oder Rumänen.
Starke Brandung an der türkischen Schwarzmeerküste. Foto: Filmproduktion Tristia |
Sewastopol, Hafen der russischen Schwarzmeerflotte. Ein Junge spielt den Sewastopol-Walzer auf einer Ziehharmonika und singt dazu. Im Hintergrund die Bunker der U-Boote, die einmal zur Flotte gehörten. Hier ankern zig Millionärsjachten, Durchshnittspreis zwölf Millionen Dollar.
Tatarinnen plaudern über ihre Zukunft – einen starken Tataren wollen sie heiraten, der gut ist zu den Frauen und respektvoll. Sie reden über ihre Geschichte, über die furchtbaren Deportationen zur Stalinzeit, während jetzt mit den Russen wieder auszukommen sei: „Früher waren die Tataren nicht anerkannt, jetzt liebt man sogar unsere Tradition.“
Und dann die russische Küste. Ein Mann taucht aus einem Moortümpel empor, in dem er ein Vollbad nimmt. Seine Frau und er: „Wir grüßen unsere Verwandten in Deutschland. Alles Gute von Olga und Ilja!“
Ein Sturm und schwerer Regen hat große Verwüstungen am russischen Schwarzmeerstrand angerichtet. Überall Säuberungsaktionen – und überall Beschwerden, dass der Staat sich nicht blicken lasse, um zu helfen. Alles geschieht privat. Man muss sich selbst helfen, wenn das Katastrophenministerium keine Zeit hat.
Ganz anders im Elite-Ferienlager „Adlerchen“, hier ist er präsent, der russische Staat. Die Schüler bringen im Chor Hurrarufe aus, auf das Schwarze Meer, das sauberste und schönste, das beste Meer der Welt. In Jugend-Uniformen, von der Staatsflagge überwölbt und mit Parolen aus Lautsprechern: „Liebt Russland, damit es stark wird!2
Odessa – Schwarzmeer-Dichter vor der Potemkin’schen Treppe. Foto: Filmproduktion Tristia |
In Abchasien, dem Land, das es offiziell gar nicht gibt, erläutern sehr engagierte Frauen dem Filmteam, worum es 2008 im Krieg mit Georgien ging. Obwohl Abchasien sowieso schon ein Teil von Georgien gewesen sei, „wollten sie noch mehr“. „Sie wollten alles – zum Beispiel die Gewinne aus dem Tourismus“, wie die Frauen sagten, und sie verlangten, „dass auf den Straßen nicht mehr abchasisch, nicht mehr russisch gesprochen wurde, sondern nur noch georgisch.“ Sehr emotionale Szenen fängt Mucha hier in dem versteckten Kaukasuswinkel ein. Voll Rührung in der Stimme bekennt eine der Mamas: „Jeder, der eine Waffe trug, wusste warum. Er hat sein Land verteidigt. Ich knie nieder vor den Jungs.“
Und weiter geht’s, ins Land von Attatürk, immer am Meer entlang. Die Filmleute kommen gerade recht, als Teeernte ist. Überall schneiden vor allem Frauen (und Kinder) die grünen Blätter der schwarzen Teepflanze. „Frauen arbeiten, Männer verspielen das Geld in den Kaffeehäusern“, erzählt voller Sarkasmus eine der der fleißigen Schnitterinnen..
Männer, die auch interviewt werden, schwadronieren von den „Schwarzmeer-Amazonen“, was man halt so gehört hat, bzw. „wie es heißt“. Und auch sie beherrschen den Sarkasmus auf ihre Art: „Als Schwarzmeer-Männer sind wir sowieso mit einer Amazone verheiratet“. Man mag sich gar nicht ausmalen, was das für Ehen sind, die sich hier an der türkischen Schwarzmeerküste abspielen – hier, wo mit die aufregendste Brandung herrscht und gezeigt wird, aufgewühlte See mit Ziehharmonika-Klängen, die das Wasser zu heben scheinen wie eine Vollmondnacht.
Und dann die Endstation Rumänien – kulinarisch eingestimmt mit Grill am Strand, die Genüsse des Landes bruzzeln, mit Fisch und Gemüse, und ein junger Mann versucht das „Goldenen Vliess“ an den Mann zu bringen, das er vielleicht in Eigenarbeit hergestellt hat.
„Im ganzen Land verfallen die historischen Monumente“ klagen Bewohner. Ein Schwarzmeerlied wird auf dem Schifferklavier intoniert und Strandschönheiten wiegen sich im Takt. Auch hier an der rumänischen Küste, am Verbannungsort des Dichters, ein Ovid-Denkmal, das vor sich hin bröselt. Unweit davon ein Mann, der seit Jahrzehnten am Strand lebt, den sie allenthalben den „Kormoran“ nennen und der seine Geschichte von Ovid wiedergibt, so wie er sie sieht und kennt. „Das rumänische Volk“ so sagt er am Ende nicht sehr schmeichelhaft über seine Landsleute, „ist eine Kombination von Nutten und Räubern – aber versteht es richtig, die Römer waren die Nutten, wir die Räuber.“
Trailer: TRISTIA Eine Schwarzmeer-Odyssee von Stanislaw Mucha from Tagtraum on Vimeo.
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