09.08.2023 13:11:56
KASACHISCHER FILM
Von Hans Wagner
ie eine Insel erhebt sie sich. Sie steht in einem Meer aus Sand. Die Jurte. So ist sie dargestellt: gefilmt aus der Luft, in der Perspektive von Tieffliegern, skurril, von Tieren eingepfercht und gegen die Sonne. Eine solche Jurte in der kasachischen Steppe ist die Sehnsucht des Matrosen Asa, der nach jahrelangen Fahrten auf den Weltmeeren zurückkehrt. Hierhin, wo seine Schwester Samal und sein Schwager Ondas ihre Kinder großziehen und Schafe züchten. Auf die Insel im Sand.
Asa hat einen Traum. Den Traum von einem kleinen Paradies. Er passt auf den Umschlagkragen seiner Matrosenuniform. Auf der Unterseite des breiten Kragenstoffes ist er hingekritzelt. Wenn er sich umdreht und den Stoff hochhebt, kann man es sehen. So geht er zur steinernen Hütte der Nachbarn. Hier wohnt das einzige Mädchen im Umkreis von fünfhundert Kilometern, sagt man. „Das ist mein Traum. Ich träume davon, mir so ein kleines Paradies einzurichten, hier, unterm Sternenhimmel der kasachischen Steppe. Kannst Du es sehen?“ So sagt er, und hebt den Matrosenuniformkragen hoch, während die Hüttentür einen winzigen Spalt breit geöffnet ist.
Auf der Rückseite des ausladenden Kragens ist tatsächlich eine Jurte zu sehen, Kamele, der Sternenhimmel, ein Pferch für die Tiere, ein Wassertank, die Windhose eines Staubsturms.
Die, für die Asa die Szene gemalt hat, heißt Tulpan. Sie muss die Zeichnung erkannt haben, denn die knarrende Tür hat sich bewegt, und drinnen ist für einen Augenblick ihr braunes Haar zu erkennen. Sie selbst bleibt unsichtbar. Asa weiß nicht, ob ihr der Entwurf seines Paradieses gefällt. Aber er lächelt verträumt und auch ein wenig selbstbewusst. Und da sie das einzige Mädchen weit und breit ist und er der attraktivste Junge, was soll schon schief gehen.
„Ihr habt ein junges Mädchen und wir einen jungen Mann. Das sind zwei Hälften, die zusammengehören. Von uns gäbe es zehn Schafe und vom Bräutigam das Geschenk hier. Was sagt ihr dazu?“ Mit diesen Worten eröffnet Asas Schwager Ondas die Vermählungsverhandlungen mit den Brauteltern und hebt einen kitschigen, gläsernen Lüster hoch. Asa selbst erzählt von seinen Abenteuern mit Seeungeheuern. Ondas lobt die zwei Medaillen, die Asa wegen seiner Verdienste bei der Marine bekommen hat. Die Mutter blickt stumm über die Speisen, vor denen sie in Ondas Jurte auf dem Boden sitzt. Der Samowar dampft. Schnaps wird angeboten. Der Brautvater sitzt daneben und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Schwager Ondas führt die Verhandlungen zu Ende. Er kennt also das Ergebnis schon, während Asa, dessen bester Freund Boni und der Schwager selbst auf einem qualmenden Traktor in die Steppe hinaus preschen. Mit Gebrüll und unter den scheppernden Klängen des Schlagers „By the rivers of Babylon“ von Boney M. aus einem alten Kassettenspieler. Volle Dröhnung. Bis der Traktor mitten im Sand überraschend abgewürgt wird. „Du gefällst ihr nicht“, sagt Schwager Ondas in die plötzliche Stille hinein und schiebt sich die Mütze ins Genick. „Sie hat ihrer Mutter gesagt, Du hast viel zu große Ohren.“
In diesem Augenblick bricht die ganze Welt zusammen. Nicht nur die der Steppe. Asa versteht gar nichts mehr. Nichts hat mehr Sinn für ihn. Er packt seine Habseligkeiten und versucht zu fliehen. Doch wohin? Wohin soll er sich wenden, da doch sein Traum zerbrochen ist und die Steppe nur noch aus Staub besteht.
Asa ist unendlich enttäuscht. Ohne Heirat bekommt er keine eigene Herde, und ohne Herde wird sich sein Lebenstraum von einer Jurte mit Strom und mit einem Wassertank und Schafen und Kamelen nie erfüllen.
Der kasachische Regisseur Sergei Dwortsevoj hat mit seinem Spielfilmdebüt, das 2008 in Cannes den Preis der Reihe „Un Certain Regard“ für den besten Film bekam, noch weitere Preise eingeheimst. Bei den Filmfestivals in Montreal, in Reykjavik und Zürich, in London und in Tokio.
Die Bilder, die Sergei Dwortsevoj in der rauhen, aber immer wieder faszinierenden Steppe einfängt, bedienen nicht die abgegriffenen Klischees vom einfachen, sehnsuchtsvoll vermissten ursprünglichen Leben. Dafür sind sie zu realistisch, zu dokumentarisch. Sie beschönigen nichts.
Man hört das Plätschern, wenn der Nomadenjunge mitten in der Jurte aufreizend in eine große Schüssel pinkelt oder dem halbnackten Vater die Pickel ausdrückt. Die kleine Tochter nervt mit dem ohrenbetäubenden Singsang eines kasachischen Liedes und turnt dem Mann auf den Beinen herum. Ein Akt der Rebellion gegen den Vater, der in der Jurte keinen Gesang duldet.
Wenn Mann und Frau schließlich inmitten ihrer Familie einmal Haut an Haut liegen, sagt Samal, „bitte lösche das Licht“.
Bei Tag hört man das Brüllen der Kamele, das Muhen der schwarzbunten Kühe, das nach ständiger Provokation klingende Geschrei der Esel, das Bellen der Hunde und das Blöken der Schafe. Dazwischen durchdringendes Singen, Pferdegetrappel und einen Traktor, der so laut ist, dass er fast alles übertönt und Ondas kleinen Jungen auf seinem Steckenpferd zur Nachahmung blubbernder Motorengeräusche animiert. Nur selten herrscht Stille. Vielleicht über dem Steppenhimmel bei Nacht. Aber auch hier zerreißt rasch ein Gewitter die Elegie.
Gezeigt wird das Drama einer Nomadenfamilie im unbarmherzigen Alltag, gespickt mit vielen komischen Momenten. So etwa, wenn den Eltern der begehrten Braut ein Foto des britischen Thronfolgers Charles präsentiert wird. Es soll zeigen, dass abstehende Ohren kein Hinderungsgrund sind für höchste gesellschaftliche Ränge.
Der Jurtenfilm in der unendlichen Weite der kasachischen Steppe ist eine Mischung aus Poesie und dokumentarisch gefilmter Realität. Selten gesehene grandiose Bilder vom kargen Leben in der asiatischen Steppe zeigen: beschaulich ist dieses Leben nirgends. Es besteht aus immerwährender Hektik und oftmals klamaukhafter Action. Zu sehen, wenn Asa und sein Schwager während eines Sandsturms versuchen, die Schafherde zusammenzutreiben, als wären sie Hütehunde.
Das Sterben der Lämmer aber ist der düstere Hintergrund des Existenzkampfs. Die Steppe gibt nicht mehr genug Nährstoffe her, um die Tiere fruchtbar zu erhalten. Immer weniger Geburten, immer häufiger sterben die Jungtiere. Herzzerreißende Szenen wechseln sich mit hilflosen Gesten. Da werden Schafe und ihre Nachkommen durch Mund-zu-Mund-Beatmung versucht am Leben zu erhalten. Etwas was kaum jemals irgendwo zu sehen gewesen sein dürfte und auch hart an der Realität entlangschrammt. Der stinkende Atem des Todes und die leblosen schwarzen Bündel haben etwas tief unter die Haut gehendes.
Schlüsselszene ist die real gefilmte Geburt eines Lammes. Das Mutterschaf wird in der staubigen, windigen Weite der Steppe von Asa, dem ehemaligen Matrosen entbunden. Die Szene wird in voller Länge gezeigt. Hilflosigkeit, Anspannung und die Angst des jungen Schauspielers sind mit Händen zu greifen. Die Glückseligkeit, mit der er sich anschließend rücklings auf die Erde legt, die Arme von sich streckt und über das ganze Gesicht strahlt, wirkt in ihrem Gegensatz so echt wie die dramatischen Minuten vorher.
Das Werben von Asa um Tulpan geht indessen weiter. „Heirate mich“, fleht der junge Mann ein ums andere Mal vor der verschlossenen Tür. Doch das Mädchen will in die Stadt, ins College. Sie bleibt ein Phantom, ein Mythos, denn sie ist den gesamten Film über unsichtbar. Am Ende schließlich brechen Schwager Ondas, Schwester Samal und ihre Kinder die Jurte ab und ziehen weiter. Und auch Asa schließt sich ihnen an. Der Staub verweht und irgendwo wird die Insel im Sand wieder aufgebaut, werden die Tiere sich um die Jurte drängen und Asa wird seinen Traum weiterträumen.
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Weitere Informationen zur kasachischen Steppe: EM 03-04 „Reise zum Mittelpunkt Eurasiens“
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