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RUßLAND / EU
Von Kai Ehlers
um 60. Jahrestag des Kriegsendes wurde allenthalben Frieden und Partnerschaft beschworen. US-Präsident Bush, ebenso wie Bundeskanzler Schröder eilten zur Siegesfeier nach Moskau. Die Siegesparade auf dem Roten Platz stand demonstrativ unter dem Zeichen der Versöhnung. Der russische Präsident Putin durfte unwidersprochen der Opfer gedenken, die die sowjetische Bevölkerung für die Befreiung Europas vom Faschismus brachte, und die Verdienste hervorheben, welche die Sowjetunion an der Niederschlagung des Faschismus hatte. Es war eine erhebende Feier, die nur den kleinen Schönheitsfehler hatte, daß die Moskauer Bevölkerung dafür die Innenstadt räumen mußte.
Auf dem anschließenden EU-Rußland-Gipfel in Moskau ein ähnliches Bild: Verkündet wurde eine langfristige Zusammenarbeit und sogar gemeinsame Konfliktlösungen im Kaukasus. Deutsche Medien wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ konstatierten die „einfache Erkenntnis“, daß man einander brauche. Besonders deutlich zeige sich die gegenseitige Abhängigkeit in der Energiefrage: Rußland besitze große Reserven an Öl und Gas, ohne die die Energieversorgung der EU langfristig nicht gesichert werden könne. Andererseits sei Rußlands Aufschwung in den letzten Jahren fast ausschließlich von dem Rohstoffexport nach Europa getragen worden.
Bei so viel Einigkeit könnte man die kleinen Unstimmigkeiten, die diese Demonstrationen des guten Willens begleiteten, fast übersehen, wenn – ja, wenn sie nicht so penetrant hervorstechen würden wie der Besuch George W. Bushs in Lettland. Einen Tag vor seiner Teilnahme an der Moskauer Siegesfeier betonte der US-Präsident dort, Amerika werde niemals die „Besetzung und kommunistische Unterdrückung“ der Balten vergessen. Er bezeichnete Litauen, Estland und Lettland als Symbole dafür, daß die Liebe zur Freiheit stärker sei als der Wille eines Imperiums. Und er ließ es sich schließlich nicht nehmen, zu prophezeien, daß auch Rußland von der Verbreitung demokratischer Werte profitieren werde. Provokativer konnte sie nicht ausfallen, die Antwort auf die wenige Tage zuvor von Putin getroffene Feststellung, daß der Zusammenbruch der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sei.
Nicht weniger penetrant war der Auftritt der frisch gekürten US-Außenministerin Condoleezza Rice in Vilnius. Sie rief die weißrussische Bevölkerung dazu auf, bei der nächsten Wahl im kommenden Jahr gegen Staatspräsident Lukaschenko aufzubegehren. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Aserbaidschan, Georgien und der Ukraine ist das eine unverhüllte Aufforderung zum Umsturz in Weißrußland und zur Fortsetzung der sogenannten demokratischen Revolutionen an den Grenzen Rußlands, die den Einfluß Moskaus verringern.
Das bemerkenswerteste Ereignis in dieser Reihe allerdings war ein Gipfeltreffen der GUUAM-Staaten im moldauischen Chisinau nur wenige Tage vor den großen Feierlichkeiten zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes. Die Gipfelteilnehmer beschlossen, dieses bisher eher unbedeutende Spaltprodukt der GUS zu einem Instrument aufzuwerten, das in Zukunft die Interessen seiner Mitgliedsländer gegenüber Moskau stärker zur Geltung bringen soll.
Bei ihrer Gründung 1997 gehörten der GUUAM die Staaten Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien an, 1999 kam Usbekistan dazu. Seinen Namen erhielt das Bündnis von den Anfangsbuchstaben dieser fünf Mitgliedssaaten (Vgl.: „Selbstbewußte Töne an Rußlands Süd-West-Flanke“). Inzwischen heißt der Staatenverbund wieder GUAM, da Usbekistan am 05. Mai offiziell seine Mitgliedschaft aufkündigte. Den usbekischen Präsidenten Karimow dürfte dazu der verstärkte antirussische und prowestliche Kurs des Bündnisses bewogen haben.
Die Arbeit der GUUAM beschränkte sich bislang faktisch auf die Bildung eines Transportkorridors für aserbaidschanisches Öl und die Beteiligung am Geschäft mit diesem Öl. Zum neuen gemeinsamen Ziel wurde nun erklärt, den „von Rußland unterstützten Separatismus“ zu bekämpfen. Von Seiten Juschtschenkos, des neuen ukrainischen Präsidenten, besteht sogar das Angebot, die russischen Friedenstruppen in den georgischen Krisengebieten Abchasien und Südossetien durch ukrainische zu ersetzen. Offensichtlich möchte die Ukraine eine Ordnungsfunktion in den beiden Gebieten übernehmen und damit den Einfluß Rußlands reduzieren. Die Abchasen und Süd-Osseten, die Rußland als Schutzmacht für ihre Autonomie begreifen, protestierten umgehend.
Zur Stabilisierung des Kaukasus trägt ein solches Angebot der Ukraine mit Sicherheit nicht bei. Im Gegenteil, es ermutigt Versuche der georgischen Regierung, die Konflikte um die autonomen Gebiete Süd-Ossetien und Abchasien aggressiv anzugehen. Beredt ist in diesem Zusammenhang eine der Öffentlichkeit weitgehend verborgen gebliebene Initiative des Europarates. Das Straßburger Gremium sah sich Anfang Februar veranlaßt, die Machtfülle des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili zu kritisieren. Es wurde die fehlende Unabhängigkeit der Justiz bemängelt, die nicht funktionierende Gewaltenteilung angeprangert und auf das nahezu vollständige Fehlen einer Opposition hingewiesen. Das Straßburger Abgeordnetenhaus forderte von Tiflis die Einrichtung einer zweiten Parlamentskammer in den Regionen, gemeint sind vor allem Südossetien und Abchasien. Ferner ermahnte es die georgische Regierung, bei der Lösung der Konflikte nicht auf Gewalt, sondern auf friedliche Lösungen zu setzen. Aus diesem Grunde wurde das „Überwachungsverfahren“ des Europarates gegenüber Georgien erst einmal bis zum Herbst 2005 verlängert – wobei sicher untersucht werden sollte, ob ein solches Verfahren berechtigt ist.
Man könnte die Vorstöße der Ukraine, Georgiens wie auch die Wiederbelebung der GUUAM – jetzt wieder GUAM – getrost als Ereignisse am Rande vorbeiziehen lassen, wenn nicht auf dem Gipfeltreffen in Chisinau erstmalig interessante ausländische Gäste vertreten gewesen wären. Besonders erwähnenswert sind unter den Anwesenden neben dem rumänischen Staatspräsidenten Basesku vor allem der litauische Staatspräsident Adamkus und – eine namentlich nicht genannte – Regierungsdelegation aus Washington. In Chisinau wurde zudem der Vorschlag laut, das Bündnis umzubenennen und offen zu halten für weitere Mitglieder. Von dem georgischen Präsidenten Saakaschwili wird in diesem Zusammenhang der Satz zitiert: „Wir haben unsere Feinde in Georgien, der Ukraine und Kirgisien besiegt. Und wir haben noch ein Land auf unserer Liste.“ Es bedarf keiner weiteren Interpretation, daß mit diesem Hinweis Weißrußland gemeint ist und wie man sich die möglichen Interventionen vorzustellen hat.
Man habe sich bemüht, hieß es aus Chisinau, nicht antirussisch zu erscheinen. Nichtsdestoweniger wird das neue Selbstverständnis der GUAM mit den unmißverständlichen Worten beschrieben, es bilde sich ein Gegenlager zu der auf einem Status quo mit Rußland dahindümpelnden GUS unter der Führung Georgiens, der Ukraine und Moldawiens heraus. Die neue GUAM werde, so der georgische Präsident Saakaschwili, „zu einer Organisation demokratischer Staaten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion.“
Mit diesem Gipfel, wie gesagt durchgeführt unter Beteiligung von US-Offiziellen, schließt sich der Kreis zum baltischen Auftritt von Condoleezza Rice und George W. Bush: Entgegen allem anderen Anschein ist die US-Politik nach wie vor auf die Einkreisung und Eindämmung Rußlands gerichtet, wie sie in der Reihe der blumigen und farbigen „Revolutionen“ von Aserbaidschan über Georgien, die Ukraine bis hin zu dem etwas verunglückten Einsatz „westlicher Beobachter“ in Kirgisien angelegt ist. Mit seiner Rede, die er gleich nach den Feierlichkeiten des 9. Mai in Tiflis hielt, bekräftigte US-Präsident Bush diesen Willen der USA ein weiteres Mal. Die nächsten Züge in diesem Spiel, gedeckt durch die Unterstützung aus den GUAM-Staaten, sind auf Moldawien, Weißrußland und Kaliningrad gerichtet. Die Strategie dieses Spieles, von Vordenkern wie Brzezinski formuliert, in der Rußland nach wie vor als Gegner verstanden wird, der klein gehalten werden muß, soll hier nicht noch einmal ausgeführt werden. Sie ist inzwischen hinreichend bekannt (Vgl.: EM 12-04, EM 03-05). Zu bemerken ist nur, daß die Bush-Regierung mit Condoleezza Rice ein neues, lächelndes Gesicht für die nächste Spielrunde präsentiert hat, darauf angelegt, Kritik an der US-Politik zu verhindern, die im Kern jedoch nicht weniger aggressiv geworden ist.
Und die EU? Welche Ziele verfolgt sie? Ein Blick auf Grundsatzstudien bringt ein wenig Aufklärung: Dem sogenannten „Greenpaper zur Versorgungssicherheit der EU“ (2002) ist zu entnehmen, daß die EU ein Großeuropa unter strategischem Einschluß von Rußland anstrebt. Einzelne Stimmen im EU-Konzert, wie der tschechische Präsident Vaclav Klaus, beziehen sogar Kasachstan mit ein. Diese Strategie, wenn sie denn verwirklicht werden soll, steht den US-Bestrebungen entgegen, russisches Öl und russisches Gas aus dem sibirisch-zentralasiatischen und kaukasischen Raum der russischen Verfügungsgewalt zu entziehen und auf dem Weg über die Türkei dem eigenen Einfluß zu unterstellen.
Die von Gerhard Schröder und Wladimir Putin gerade jetzt so demonstrativ vorgetragene deutsch-russische Freundschaft, ebenso wie der soeben in Moskau durchgeführte EU-Rußland-Gipfel liegen auf dieser Linie „gemeinsamer Interessen“. Sie beinhalten eine Stabilisierung Rußlands als integrierender Faktor des eurasischen Raumes und unersetzbarer Energie-Lieferant, ja, mehr noch, als Retter Europas aus absehbarer zukünftiger Energieknappheit. Dieser Orientierung der EU-Außenpolitik gibt das europäische Öl- und Gas-Konsortium INOGATE (kurz für: Interstate Oil and Gas Transport to Europa) in seinen im März 2004 vorgelegten strategischen Studien den Vorzug. Damit wird faktisch davon abgeraten, die zweite Möglichkeit, die in derselben Studie die „imperiale Variante“ genannt wird, zu realisieren. Zugleich wird jedoch erklärt, daß man sich unter dem Druck sehe, dieser von den USA ausgehenden „imperialen Variante“ folgen zu müssen, da Washington durch seine militärische Interventionspolitik globale Prioritäten setzte.
Einen weiteren Hinweis auf die europäische Strategie gegenüber Rußland, dem Kaukasus und Zentralasien liefern die technischen Entwicklungsprogramme der Europäischen Union, die unter dem Kürzel TACIS (Technical Assistance for the Commonwealth on Independent States) laufen. Besonders zu erwähnen ist hier das TRACECA-Programm (Transport Corridor Europe Caucasus Central Asia), dessen Hauptzweck darin besteht, einen Transportkorridor für Ressourcen aller Art, vor allem aber für Öl und Gas, von Europa nach Asien zu entwickeln. Er soll die bisherigen auf Moskau zentrierten Transportwege Eurasiens durch Querverbindungen zwischen Osten und Westen unter dem sogenannten Bauch Rußlands hindurch unterlaufen. Neue Pipelines, neue Bahnlinien, neue Ost-West-Trassen, neue Häfen am Kaspischen und Schwarzen Meer sollen für Alternativen zu den eingefahrenen Transportwegen sorgen, die über Moskau nach Europa führen.
Mitglieder des TRACECA-Programms sind alle zentralasiatischen und kaukasischen Staaten, einschließlich der Türkei und Chinas. Rußland ist nicht Mitglied – dies nicht nur aus eigenem Verzicht heraus, sondern auch deswegen, weil die Mitgliedsländer von TRACECA sich ausdrücklich gegen eine Mitgliedschaft Rußlands ausgesprochen haben. Daß die Programme von TRACECA und INOGATE nicht zusammenpassen, ist offensichtlich und wird von ihren Vertretern neuerdings auch öffentlich beklagt. Sie fordern eine einheitliche Strategie der Europäischen Union in der Energiepolitik. Die Erneuerung der Nachbarschaftsverhältnisse zu den osteuropäischen Staaten im Vorfeld Rußlands, als Folge der Osterweiterung der Europäischen Union, hat dieser Auseinandersetzung eine neue Schärfe gegeben. Der unscheinbare Gipfel in Chisinau ist ein Ausdruck davon.
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Neuerscheinung: Kai Ehlers hat soeben sein neues Buch „Rußland – Aufbruch oder Umbruch?“ (Pforte Verlag 2005, 96 Seiten, 8 Euro, ISBN 3-85636-184-7) veröffentlicht. Darin leuchtet der Transformationsforscher hinter die Fassade westlicher Berichterstattung und zeigt ein unbekanntes Rußland, in dem sich fernab der Moskauer Zentralmacht neue Formen der Kooperation und Selbstorganisation entfalten. Zahlreiche Beobachtungen und Analysen geben ein eindrucksvolles Bild der widerstrebenden politischen und ökonomischen Kräfte, die über die Zukunft Rußlands als Entwicklungsland neuer Art und als Impulsgeber zukunftsweisender gesellschaftlicher Veränderungen Auskunft geben.
Weitere Informationen beim Pforte Verlag oder direkt auf der Netzseite des Autors: www.kai-ehlers.de.
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