Warme Worte in arktischer Kälte - Russland und Norwegen teilen die BarentsseeGEOPOLITIK

Warme Worte in arktischer Kälte - Russland und Norwegen teilen die Barentssee

Wird, was lange währte, endlich gut? Am 15. September 2010 unterzeichneten Norwegen und Russland ein bilaterales Abkommen „über die Abgrenzung von Meereszonen und Zusammenarbeit in der Barentssee und im Nördlichen Eismeer“

Von Wolf Oschlies

D as klang einfach und war es im Grunde auch: Zwei Arktisanrainer einigen sich darauf, sich nachbarschaftlich und friedlich zu benehmen und in partnerschaftlicher Abstimmung von dieser „letzten reichen Vorratskammer des Planeten“ beiderseitigen Nutzen zu ziehen. Aber bis zu solchen Einsichten dauerte es 40 Jahre, woran die Sowjetunion und ihr Nachfolger Russland die Hauptschuld trugen. In der Arktis sind 25 Prozent aller Rohstoffressourcen der Welt gelagert, und davon wollte Moskau immer den Löwenanteil für sich.

Bereits 1970 hatten die russisch-norwegische Verhandlungen begonnen und in vier Jahrzehnten zu keinem konstruktiven Ende geführt. Die Russen beharrten stets auf dem „Sektorenprinzip“, welches die Sowjet-Regierung 1926 fixiert hatte. Sie berief sich dabei auf einen Zaren-Ukas von 1916. Das darin formulierte Prinzip verlängert die Landgrenzen als sog. Sektorenlinien entlang der Meridiane bis zum Nordpol. Die Norweger hingegen favorisierten eine „mittlere Teilungslinie“, die in gleicher Entfernung zu der Inselgruppe Spitzbergen im Westen und den Inseln Novaja Zemlja und Franz-Josef-Land im Osten verlaufen sollte.

Reich gefüllte Schatzkammer im „Aquatorium“

Das „strittige Aquatorium“, also der Flächenunterschied zwischen beiden Konzeptionen, macht immerhin 175.000 Quadratkilometer aus, ziemlich genau die Hälfte des Territoriums Deutschlands. Diese Fläche wurde nun geteilt, womit sich für die Vertragspartner Norwegen und Russland glänzende Perspektiven eröffnen: Die in der „strittigen Zone“ vermuteten Ölreserven belaufen sich auf 1,8 Milliarden Tonnen, die Gasvorräte auf 5,87 Billionen Kubikmeter. Hinzu kommen die schier unbegrenzten Fischbestände, die die beiden Vertragspartner exklusiv nutzen und dabei noch ein Beispiel für ökonomischen und ökologischen Umgang mit Naturreichtümern geben können.
 
Angesichts dieser Zukunftsaussichten fragt man sich, warum man 40 Jahre lang wartete, um diesen Gewinn einzufahren. Die endliche Vertragsunterzeichnung fand im nordrussischen Murmansk statt, eisfreier Hafen dank eines Ausläufers des Golfstroms, und bei dem Ereignis zugegen waren der norwegische Premier Jens Stoltenberg und der russische Präsident Dmitrij Medwedjew. In seiner Ansprache griff der Russe zu einem höchst ungewöhnlichen Gleichnis: „Verträge werden nicht deshalb geschlossen, damit man sie im Aschenkasten entsorgt und den Partnern dann das Blut aussaugt“. Man geht wohl nicht fehl, aus diesen Worten eine  Warnung an den „Sicherheitsrat Russlands“ (SBR) herauszuhören. Den SBR leitet seit Mai 2008 Nikolaj Patruschew, Veteran des sowjetischen Geheimdienstes KGB und zehn Jahre lang Chef von dessen postsowjetischem Nachfolger FSB. Patruschew versteht sich und sein Gremium als Fortsetzer sowjetisch-imperialistischer Konzeptionen, und noch im September 2008 erklärte er: „Wir müssen zuverlässig und langfristig die nationalen Interessen Russlands in der Arktis sichern, das ist unsere Pflicht und Schuldigkeit gegenüber unseren Nachkommen“. Im Klartext hieß das, dass Russland das gesamte Dreieck Murmansk – Nordpol – Tschukotka im äußersten Nordosten als alleinigen Besitz beanspruchte und auf die Interessen anderer keine Rücksicht nehmen würde.

Der Schelf als neuer Streitpunkt

Natürlich weiß Russland, dass es seine Ansprüche mit denen anderer Arktisanrainer wie Dänemark (Grönland), Kanada, USA und Norwegen abstimmen muss, aber es vertraute bisher darauf, dass ihm die UN-Seerechtskonferenz von 1982 große Vorrechte einräumt. Diese hat jedem Meeresanlieger 12 Meilen Hoheitsgewässer und 200 Meilen Wirtschaftszone konzediert, wobei letztere ausgeweitet werden kann, wenn das kontinentale Schelfgebiet über die Zone hinausreicht. Nach russischer Überzeugung erfüllt der 1948 entdeckte „Lomonossow-Rücken“ – russisch „Chrebet Lomonosova“, englisch „Lomonosov Ridge“ -  diese Bedingung, da er sich über 2000 Kilometer durch das Polarmeer erstreckt. Östlich schließt sich ihm die flachere „Mendeleev-Erhebung“ an, die 1949 entdeckt wurde. Russland betrachtete „Rücken“ und „Erhebung“ als Fortsetzung seines Schelfs und erhob bereits 2001 Anspruch auf  etwa 1,2 Millionen Quadratkilometer Gebiet. Dem mochte das UN-Seerechtskomitee 2002 nicht zustimmen. weil ihm die von Russland präsentierten Beweise ungenügend erschienen. 2013 will Russland seinen Vorstoß wiederholen und nach Aussage der Russischen Geographischen Gesellschaft „muss es dann der UN-Kommission schlüssige Beweise zur Zugehörigkeit des fraglichen Gebiets zum Schelf unseres Landes liefern“.

Dazu hat man das Forschungsschiff „Akademiemitglied Fjodorov“ und den atomgetriebenen Eisbrecher „Jamal“ auf eine dreijährige Expedition geschickt. Erste Ergebnisse sollten bereits im November 2010 vorliegen, aber daraus wird wohl nichts werden. Wie Anatolij Vinogradov von der Russischen Akademie der Wissenschaften unumwunden einräumte, „hat Russland heute nicht die notwendige Technik, um Bodenproben vom Meeresgrund zu holen“. Für Kanada und Dänemark ist das kein Problem. Sie haben künstliche Bohrinseln ausgebracht und werden mit deren Hilfe die Beweise erbringen, die beide Länder brauchen, um ebenfalls 2013 die Zugehörigkeit der Unterwasserberge zu ihrem Schelf zu reklamieren. Russland hat die Begehrlichkeiten seiner arktischen Konkurrenten – USA, Kanada, Dänemark und Norwegen – geweckt, was ihm nicht bekommen wird. Der kanadische Außenminister Lawrence Cannon erklärte am 17. September in Moskau rundheraus, sein Land werde „beweisen, dass die Gebietsansprüche Russlands im Nordmeer unbegründet seien“.

 „Hahnenkampf mit wissenschaftlichem Nebeneffekt“

Ganz sicher war sich Russland selber nicht und überspielte die eigene Unsicherheit mit einer  Provokationen: Es ließ Anfang August 2007 von zwei Mini-Ubooten 4.200 Meter unter dem Nordpol eine russische Flagge aus Titan aufrichten, solchermaßen Besitzansprüche demonstrierend. Die Konkurrenten Russlands taten dieses Flaggenmanöver als „Hahnenkampf mit wissenschaftlichem Nebeneffekt“ ab, zumal sie eigene Ansprüche viel begründeter hätten vorbringen können: Für Dänemark ist der Lomonossov-Rücken eine unterseeische Fortsetzung Grönlands, die kanadische Ellesmere-Insel und die norwegische Svalbard-Inselgruppe liegen näher am Nordpol als der Rücken etc. Russland pries den eigenen „Heroismus“, wo andere nur obsolete Primitivität erkannten: „Wir sind nicht im 15. Jahrhundert“, höhnte der damalige kanadisch Außenminister Peter MacKay, „niemand kann durch die Welt streunen, hier und da eine Flagge hissen und erklären: Wir erheben Anspruch auf dieses Territorium“. Und für alle Fälle fügte er eine Warnung an: „Die Souveränität über Land und Wasser der kanadischen Arktis unterliegt keinem Zweifel“.

Noch schärfer reagierte der Londoner „Daily Telegraph“ auf das russische Tauchmanöver: „Wir haben bereits gesehen, wie aggressiv Russland seine Energieressourcen als Druckmittel auf andere Länder ausnutzt, speziell gegen seine Nachbarn. Kein einziger Staat sollte Russlands arktische Ansprüche auf die leichte Schulter nehmen“. Das tat auch niemand, vielmehr zeigten USA, Kanada, Dänemark und Schweden, dass sie auf alle russischen Eventualitäten wohl vorbereitet seien – Kanada baute einen nördlichen Tiefseehafen und schickte sechs Patrouillenboote in arktische Gewässer. Die USA ließen drei schwere Eisbrecher zu Wasser, „zu rein wissenschaftlichen Zwecken“. Schweden und Dänemark starteten im August 2007 die gemeinsame Expedition „LOMROG“  - für „Lomonosov Ridge of Greenland“ -, die ein für allemal Klarheit über die Zugehörigkeit des „Lomonossov Rückens“ schaffen sollte.  

Russland allein kann  es nicht

Unerwartet bekam „LOMROG“ Unterstützung von dem russischen Eisbrecher „50 let pobedy“ (50 Jahre Sieg), einem der stärksten seiner Klasse. Russland rudert unverkennbar zurück. Bodenschätze aus einer Tiefe von vier, fünf Kilometern zu heben, ist eine Aufgabe, die Russland schlichtweg überfordert. „Man muss doch sehen“, erklärte Ende September 2010 Vladislav Inozemcev, Direktor eines Zentrums zur Erforschung der postindustriellen Gesellschaft, „dass Russland objektiv nicht in der Lage ist, einen großen Teil der Reichtümer der arktischen Region zu heben, weil es nicht über die entsprechende Technologie verfügt“.  Zum Beweis führte Inozemcev das 1988 in der Barentssee entdeckte Gasfeld an, das nach dem Ozeanologen Vladimir B. Stokman (1909-1968) benannt wurde. Das Stokman-Feld liegt etwa 350 Meter unter dem Meer, aber bereits „diese ziemlich einfache Fundstätte in geringer Tiefe“ kann von den Russen nur mit Hilfe westlicher Unternehmen und deren ausgefeilter Technologie erschlossen werden. In Südamerika bohrt man bereits in mehreren Tausend Meter Tiefe, und „das heißt, dass wir ernsthaft zurückfallen“.
  
Mit anderen Worten: Russische Besitzansprüche auf große Teile der Arktis waren wirtschaftliche Träumereien und politische Dummheiten, nur geeignet, im Westen altes Misstrauen gegen die Russen zu reaktivieren. Warum wohl ist Norwegen seit 1949 Gründungsmitglied der NATO? Weil es sich von Russland bedroht fühlt und das auch mit aller Deutlichkeit bekundet. Im September 2007 entwarf Sverre Diesen, damals Oberbefehlshaber der norwegischen Armee, ein beunruhigendes Szenario: Russland werde im Kampf  um die arktischen Ressourcen selbst „ernste Konflikte“ mit Norwegen nicht scheuen, aber es sei noch sehr die Frage, ob Norwegen auf NATO-Unterstützung rechnen könne. „Norwegen steht allein gegen Russland“, wurde Diesen von norwegischen Medien zitiert.

Ob die NATO im Krisenfall zu ihrem Mitglied Norwegen stünde oder nicht, wollte Moskau lieber nicht ausprobieren. Der bereits erwähnte Politologe Inozemcev formulierte Ende September 2010: „Ich denke, wir müssen bei Tiefseebohrungen mehr mit westlichen Investoren und westlichen Regierungen kooperieren, nicht aber die gegenseitigen Beziehungen verschärfen“. An diese Perspektive mussten sich Russen erst gewöhnen. Im April 2008 befürwortete Sergej Bogdantschikov, Chef des Ölkonzerns „Rosneft“, einen russisch-norwegischen „gemeinsamen Besitz“ der strittigen Zone in der Barentssee, fand dafür in Oslo aber keine Gegenliebe. Wie recht die Norweger getan hatten, auf die Offerte nicht einzugehen, erwies sich Anfang September 2010, als Bogdantschikow nach zwölf Jahren Leitung des größten staatlichen Ölkonzerns von den „Silowiki“ gestürzt wurde, den „Machtmenschen“ in Politik und Wirtschaft. Aus Erfahrungen mit solchen „Betonköpfen“ ist denkbar, dass sie Offerten wie die Bogdantschikovs von 2008 als „Verrat“ an „vaterländischen Besitztümern“ verurteilten.

Mit Medwedjew kam die Wende

Die eigentliche Wende zum Besseren kam im April 2010, als Präsident Medwedjew  Norwegen besuchte und dabei eine „gemeinsame Erklärung“ unterzeichnete, dass beide Länder zu einem Vertrag über Besitzverhältnisse und Kooperation der Barentssee bereit seien. Norwegens Premier Stoltenberg ließ die Öffentlichkeit einen Blick in die „Werkstatt“ der Verhandlungspartner tun: „Wir fanden eine Lösung für das komplizierteste Problem in den bilateralen Problemen, das uns 40 Jahre lang beschäftigt hat. Die strittige Zone mit einer Ausdehnung von 175.000 Quadratkilometern wird zwischen Russland und Norwegen in zwei gleichwertige Teile aufgeteilt“.

Im April 2010 wurden sogar Probleme geklärt, die noch gar nicht aufgetreten waren. Was geschieht z.B. mit Rohstofflagerstätten, die außerhalb der neuerlich abgesteckten Seegrenzen liegen? Präsident Medwedjew schlug als naheliegende Lösung vor, für diese „gemeinsame Unternehmen“ zu gründen. Das ging den Norwegern wohl zu weit. Terje Riis-Johansen, Oslos Öl- und Energieminister, war für den Augenblick zufrieden und glücklich, dass sein Land in seinem Teil der bislang strittigen Zone eigenständig nach Gas- und Öllagerstätten spüren könne – mit russisch-norwegischen Joint Ventures hatte er wohl nichts im Sinn.

Dabei gibt es diese seit 1975, beispielsweise die „Gemischte Russisch-Norwegische Kommission für Fischfang“, die sich Mitte 2010 noch ein weiteres Jahr Existenz genehmigt hat, aber Mitte 2011 in dem neuen Arktisvertrag, der dann in Kraft tritt, aufgehen wird. An ihre Stelle werden vermutlich andere Gemeinschaftsunternehmen treten, da der Vertrag vor allem zeigen wird, wie sehr die Vertragspartner aufeinander angewiesen sind. Dmitrij Absalov, „leitender Experte“ eines politologischen Forschungszentrums, erwähnte naheliegende Möglichkeiten: „Zum einen verfügen die Norweger über sehr gute Technologien für Schelfbohrungen, die sie im Nordmeer unter schwierigen Klimabedingungen getestet haben. Die russische Seite hat bedeutsame Finanzmittel und eine große Flotte zur Sicherstellung von Transporten in dieser Region. Zudem besitzt Russland ein weitverzweigtes System von Rohrleitungen, das ebenfalls genutzt werden kann“.

In der Arktis kann man ohne die NATO auskommen

Moskau hat in der arktischen Angelegenheit ein paar bittere Lehren einstecken müssen: Es lohnt sich nicht, Maximalforderungen zu erheben und Großmacht-Attitüden einzunehmen, wenn man ohne technische Hilfe aus dem Westen absolut hilflos ist und mit dem eigenen Auftreten nur böse Assoziationen bei der Gegenseite weckt. Spitzzüngig ließ der norwegische Premier Stoltenberg bei der Vertragsunterzeichnung anklingen, dass sein Land sich in der NATO sicher fühle,  egal ob es im „Kalten Krieg“ mit der Sowjetunion oder jetzt mit dem postsowjetischen Russland verhandelt habe. Etwas gequält schwenkte Präsident Medwedjew die Friedensfahne: „In der Arktis kann man ohne die NATO auskommen, weil es da um unsere gemeinsamen Reichtümer geht, die mit militärischen Aufgaben nichts zu tun haben“. Militärs braucht man nicht, denn die „schaffen immer nur zusätzliche Probleme. Wir möchten, dass die Zone der arktischen Kooperation friedlich bleibt“. Und zwar für mindestens zwei Jahrzehnte, denn der Vertrag ist auf eine Laufzeit von 15 Jahren angelegt, mit der Möglichkeit einer sechsjährigen Verlängerung“.

Als krönender Abschluss fand am 22./23. September in Moskau das Forum „Arktis – Territorium des Dialogs“ statt, das viel zu improvisiert war, um effizient zu sein: Im Präsidium Prominente wie Premier Putin, Albert II. Fürst von Monaco etc., im Saal 287 Teilnehmer aus 15 Ländern, darunter 58 aus den direkt betroffenen Arktisstaaten Island, Kanada, Finnland, Norwegen, USA, Schweden und Dänemark. Immerhin wurde wenigstens ein konstruktiver Gedanke diskutiert: Die norwegisch-russischen Arktisverhandlungen fielen mit der Weltwirtschaftskrise zusammen, die Russland besonders hart getroffen hat. Nicht einmal diese Krise hat die Frage der arktischen Rohstoffressourcen zu einem aggressiven Interessenskampf aller Beteiligten werden lassen. Jetzt wird die Krise mehr und mehr überwunden und alle merken, dass ihre Interessen gar nicht so sehr betroffen waren: Die Rohstoffpreise gehen zurück, der Rohstoffbedarf ist nicht so rasch wie erwartet gestiegen – was selbst Russland gelassen hinnimmt, das außer Rohstoffen auf dem Weltmarkt praktisch nichts zu verkaufen hat.

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