„Wasser ist ein schwaches Argument gegen Kalaschnikows“PIRATEN

„Wasser ist ein schwaches Argument gegen Kalaschnikows“

Im Golf von Aden treiben Seeräuber seit Jahren ein einträgliches Geschäft mit entführten Schiffen. Millionenbeträge müssen für die Freigabe bezahlt werden. Handelsschiffe sind unbewaffnet, allenfalls mit der Feuerlöschanlage können sie versuchen, sich gegen die schwer bewaffneten Angreifer in ihren Schnellbooten zur Wehr zu setzen. Auch eine ganze Armada internationaler Kriegsschiffe hat bislang das Piratentum nicht stoppen können. Der ukrainische Seeoffizier Jewgenij erzählt, wie sein Schiff gekapert wurde und was er in der Gewalt der Piraten erlebt hat.

Von Juliane Inozemtsev

E s ist etwa ein Uhr mittags am 16. Dezember 2008, als der Brückenoffizier Jewgenij durch sein Fernglas ein verdächtiges Schnellboot sichtet. Rasch nähert es sich dem Mehrzweckfrachter von Steuerbord achtern, also von rechts hinten. Der junge Offizier ruft sofort den Kapitän.

„Wären wir mit der ‚Bosphorus Prodigy’ im Mittelmeer unterwegs gewesen“, sagt Jewgenij, „hätte mich das Boot nicht so stark beunruhigt. Aber wir waren im Golf von Aden.“ Diese Wasserstraße zwischen dem Jemen und Somalia ist berüchtigt für Piratenüberfälle. Zwar fährt der Frachter durch einen Sicherheitskorridor, der von internationalen Militärschiffen überwacht wird, aber die Crew weiß: Eine Garantie ist das nicht.

Notsignale per Funk

Der Kapitän ist binnen einer Minute auf der Brücke. Er wirft einen Blick durch das Fernglas und sieht, dass das Schnellboot mittlerweile parallel zum Schiff fährt. Dann brüllt er, was die Mannschaft schon befürchtet hat: „Piraten!“. Sofort danach löst er  Generalalarm aus und erteilt Jewgenij den Befehl, per Funk Notsignale auszusenden.

Jewgenij ist zum vierten Mal mit einem Handelsschiff auf großer Fahrt. Es ist jedoch seine erste Reise als zweiter Offizier und das erste Mal, dass er den Golf von Aden durchquert. Der 23-jährige Ukrainer hat an der Technischen Universität von Sewastopol Nautik studiert und sein Studium erst Anfang 2008 mit Auszeichnung abgeschlossen. Das Thema seiner Diplomarbeit lautete ausgerechnet: Piraterie auf See. „Ich hätte aber niemals gedacht, dass ich so bald den Ernstfall erleben würde“, sagt er.

Jewgenij weiß, dass es kaum möglich sein wird, das Schiff zu verteidigen, denn Schusswaffen gibt es an Bord nicht. Sie sind auf Handelsschiffen generell verboten. Die Reedereien weisen ihre Besatzungen stattdessen an, die Feuerlöschanlage speziell zu präparieren, bevor sie in unsichere Gewässer vorstoßen. „Man hofft, dass der Wasserstrahl die Piraten daran hindern kann, das Schiff zu entern“, erklärt Jewgenij. „In der Praxis ist Wasser aber ein schwaches Argument gegen Kalaschnikows.“

Das Boot der Piraten ist doppelt so schnell wie der Frachter

Den Angreifern davon zu fahren, ist auch aussichtslos. Während die „Bosphorus Prodigy“ mit 18 Stundenkilometern schon ihre maximale Geschwindigkeit erreicht hat, fährt das Piratenboot knapp doppelt so schnell.

„Die Piraten kamen zuerst von Steuerbord“, erzählt Jewgenij. „Dann haben sie uns aber überholt, sind links um den Bug herumgefahren und haben uns von Backbord geentert.“ Die knapp vier Meter hohe Bordwand ist dabei keine große Hürde für die Seeräuber. „Sie hatten Leitern aus Aluminium dabei, die sie ausgefahren haben“, erinnert sich Jewgenij. „Insgesamt hat es nicht einmal fünf Minuten gedauert, bis sie an Bord waren.“

Die in der Region stationierten Militärschiffe reagieren zunächst überhaupt nicht auf das Notsignal der „Bosphorus Prodigy“. Später funken sie nur, man wisse Bescheid. Von Hilfe ist keine Rede.

„Es war seltsam, die Piraten in meinen Hosen und Shirts zu sehen.“

Indessen entern sieben bewaffnete Männer die Schiffsbrücke, auf der sich bereits die elfköpfige Crew befindet. Zu dieser gehören außer Jewgenij noch sieben weitere Ukrainer und drei Türken. „Die Piraten haben die Brücke gleich in zwei Hälften aufgeteilt“, erzählt er. „Sie blieben dann auf der einen und wir auf der anderen Seite.“

Nach etwa zehn Minuten trifft ein zweites Schnellboot ein. Nun sind etwa 15 Somalier an Bord. Einige von ihnen untersuchen den Frachter und stellen dabei fest, dass er keine Ladung mit sich führt. Die Piraten sind gereizt, denn ein leeres Schiff bringt weniger Lösegeld ein. Sie durchstreifen die Kajüten der Mannschaft und nehmen alles mit, was sich irgendwie zu Geld machen lässt. Jewgenij büßt auf diese Weise sein Notebook, sein Handy und seine Kleidung ein. „Es war seltsam, die Piraten später in meinen Hosen und Shirts zu sehen.“

Der Anführer bedeutet dem Kapitän, Kurs auf die somalische Küste zu nehmen und zeigt auf eine Bucht vor der Stadt Eyl (bedei). „Für den Weg dorthin hatten wir aber keine Seekarten an Bord“, sagt der Offizier. Kleine Riffe oder Sandbänke hätten dem Schiff deshalb leicht zum Verhängnis werden können. „Es war Glück im Unglück, dass wir die Piratenbucht nach zwei Tagen heil erreicht haben“.

Sie kauen Drogen und sind unberechenbar

Die somalischen Seeräuber, unter ihnen viele Ex-Militärs, sind vor Ort erstaunlich gut organisiert. Nachdem das Schiff vor Anker liegt, kommt sogar ein einheimischer Übersetzer an Bord, der Englisch spricht. „Er hat uns darüber aufgeklärt, dass die Piraten von der Reederei acht Millionen Dollar für das Schiff und die Besatzung fordern werden“, sagt Jewgenij. Es stellt sich heraus, dass der Übersetzer eigentlich ein Farmer ist und nicht freiwillig im Dienst der Seeräuber steht. Man habe ihn „mit der Kalaschnikow direkt vom Feld weggeholt“, erzählt er. Trotzdem versichert er, die Somalier seien „friedliche Piraten“, die „nur im Notfall töten“. Was denn ein solcher Notfall sein könnte, sagt er nicht.

Jewgenij fällt auf, dass die Somalier rot unterlaufene Augen haben. Bald erkennt er, dass das von den Blättern kommt, auf denen die Männer ständig herumkauen und die sie selbst „Mirrah“ nennen. Auch der Übersetzer kaut sie und sagt, man fühle danach weder Müdigkeit, noch Kälte. Die pflanzliche Droge macht die Männer aber unberechenbar. „Wenn sie zuviel davon gekaut hatten“, erzählt Jewgenij, wurden sie völlig high und haben mit den Maschinengewehren in die Luft geballert. Wir haben in solchen Situationen versucht, uns so unauffällig wie möglich zu verhalten.“

Trinkwasser und Essen sind ein großes Problem

Seitdem das Schiff vor Anker liegt, hat die Crew ihren alten Wach- und Schlafrhythmus wieder aufgenommen. Im Schiffsinnern darf sie sich frei bewegen, das Deck ist jedoch Tabu. „Unsere Matrosen durften aber am Heck angeln, weil wir kaum noch Vorräte an Bord hatten“, sagt Jewgenij. „Am Anfang haben uns die Piraten zwar noch regelmäßig mit ungekochtem Reis oder Nudeln und rohem Ziegenfleisch versorgt“, erinnert sich Jewgenij. „Im Laufe der Zeit wurde das aber immer seltener und nach einigen Wochen ist kaum noch etwas angekommen.“

Ernsthafte Sorgen bereitet der Crew auch die Situation mit dem Trinkwasser. „Als wir überfallen wurden, hatten wir nur noch etwa zwei Tonnen Trinkwasser gebunkert“, sagt Jewgenij. Da ungewiss ist, wie lange das nun reichen muss, wird es rationiert: Pro Mann gibt es nur einen Liter am Tag. „Gewaschen haben wir uns alle paar Tage mit Meerwasser“, erzählt der junge Mann. „Damit das Salz nicht zu sehr auf der Haut spannt, habe ich immer ein bisschen vom Trinkwasser gespart, um mich ab und zu damit abspülen zu können.“

Sie drohten, die Geiseln an Land der Meute zu überlassen

„Körperlich haben die Piraten keinerlei Gewalt ausgeübt“, sagt Jewgenij, „aber wir standen psychisch unter Druck.“ Immer wieder drohen sie damit, ihre Geiseln an Land zu schaffen und sie dort der Meute zu überlassen, wenn sie sich den Anweisungen widersetzen. „Wir wussten nicht, was das bedeutet, aber wir hatten Angst.“ Um nicht die Nerven zu verlieren, versuchen die Crewmitglieder, sich gegenseitig abzulenken. „Normalerweise spricht man an Bord wenig über Persönliches“, sagt der Offizier. „Aber in dieser Situation haben wir uns viel von zuhause erzählt.“

Je nach Laune der Piraten darf die Crew einmal pro Woche, manchmal auch nur alle zwei Wochen zuhause anrufen. Anfangs müssen sie am Telefon Englisch sprechen, damit der Übersetzer versteht, worum es geht. „Meine Eltern sprechen aber nur Russisch“, sagt Jewgenij. Auch die anderen Crewmitglieder können sich so kaum mit ihren Verwandten verständigen. Die Piraten erkennen, dass auf diesem Wege zu wenig Informationen weitergeleitet werden und dadurch die Lösegeldverhandlungen stocken. Deshalb erlauben sie ihren Geiseln letztlich doch, in der jeweiligen Muttersprache zu sprechen. „Meine Mama hat am Telefon fast nur gewein,t und ich habe mir große Sorgen um sie gemacht“, erzählt Jewgenij. „Mein Vater ist selber Bootsmann und hat versucht, mich aufzubauen.“

In der Piratenbucht von Eyl liegen in jenen Wochen noch fünf weitere gekaperte Schiffe. Gewissensbisse haben die Seeräuber nicht. Der Übersetzer erklärt, dass sie bei der katastrophalen Lage an Land für sich und ihre Familien keinen anderen Ausweg sehen. Es gebe keine funktionierende Wirtschaft, keine Industrie, keine bezahlte Arbeit. Aber alle hätten Frauen und Kinder, die essen wollen. „Ich will die Piraten nicht in Schutz nehmen“, sagt Jewgenij, „aber diese Männer wissen nicht, wie sie anders überleben sollen.“

Die Medikamente gehen zur Neige

Es gibt auch Situationen an Bord, in denen die Seeräuber anders reagieren, als es die Crew erwartet. „Einmal hat ein Pirat nach Wasser verlangt, um sich zu waschen“, erinnert sich Jewgenij. „Aber der Matrose, der ihm das Wasser bringen sollte, war so nervös, dass er den Wasserkanister mit einem transparenten, hoch konzentrierten Flüssigwaschmittel verwechselt hat. Als der Pirat anfing, sich das Gesicht zu waschen, hat es so gebrannt, dass er aufgeschrieen hat.“ Nach diesem Vorfall rechnet die Besatzung schon mit dem Schlimmsten. Aber die Piraten lachen nur darüber.

Die Tage und Wochen vergehen. Mittlerweile gibt es an Bord keine Antibiotika mehr und nichts, womit man Wunden desinfizieren könnte. Die Crew weiß, wenn jetzt jemand von ihnen ernsthaft krank würde, hätte er verdammt schlechte Karten.

Etwa jede fünfte Nacht werden die Piraten über Funk von einer flehenden Kinderstimme aufgefordert, die gekaperten Schiffe freizugeben. Der Übersetzer übermittelt, was das Kind ruft: „Hört auf damit! Wir sind Moslems und Moslems tun so etwas nicht.“ Wessen Kind das ist, bleibt unklar. „Ich habe den Übersetzer gefragt, warum die Piraten, als gläubige Muslime, nicht fünf Mal am Tag beten“, erzählt Jewgenij. „Er hat geantwortet, dass die Männer bei der Arbeit niemals beten. Aber danach gehen sie immer in die Moschee.“

Lösegeld-Abwurf vom Flugzeug aus

Ende Januar teilen die Piraten der Crew mit, dass man sich mit der Reederei einig geworden ist. Man wolle sich nun mit 1,5 Millionen Dollar Lösegeld zufrieden geben. Es vergeht jedoch noch eine weitere Woche, bis am 2. Februar endlich ein kleines Flugzeug über dem Schiff erscheint. „Es hat mehrere Kreise über der Brücke gezogen“, erinnert sich Jewgenij, „und ist dann wieder weggeflogen.“ Die Crew ist verunsichert und die Piraten sind aufgebracht. „Über Funk hat sich dann aber zum Glück herausgestellt“, sagt Jewgenij, „dass nur der Abwurfmechanismus kaputt ist und repariert werden muss.“

Etwa vier Stunden später kommt das Flugzeug zurück und wirft einen kleinen Fallschirm ab, an dem eine Geldkassette hängt. Die Piraten zählen die Scheine sorgfältig, dann sagt der Übersetzer: „1,5 Millionen – die Summe stimmt.“ Noch am gleichen Tag, nach insgesamt 48 Tagen Gefangenschaft, geben die Piraten das Schiff endlich frei. „Wir konnten es gar nicht richtig glauben“, sagt Jewgenij.

Am späten Abend manövriert der Kapitän die „Bosphorus Prodigy“ im Schutz der Dunkelheit, ohne jedes Licht, ins offene Meer hinaus. Dann fahren sie erst einmal, fahren immer weiter. Erst 350 Seemeilen weiter östlich im Indischen Ozean, wissen sie: Wir haben es geschafft.

Ob Jewgenij nach dieser Fahrt jemals wieder ein Schiff besteigen wird? „Ganz sicher“, sagt er. „Garantien gibt es doch im Leben keine. Nicht auf dem Wasser, aber auch nicht an Land.“

Wirtschaft

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