KASACHSTAN
Von Hartmut Wagner
ralsk war bis vor etwa 50 Jahren die größte Hafenstadt am Aralsee. Frachter fuhren täglich ein und aus, Kräne löschten die Ladung, Fischer verarbeiteten ihren Fang. Heute ist Aralsk immer noch eine Hafenstadt. Aber: Der Hafen führt keinen Tropfen Wasser mehr. Der See ist weg.
Aralsk ist ein gespenstischer Ort. Ein Städtchen in der riesigen Steppe Kasachstans. 35.000 Einwohner, geduckte Häuser, holprige Straßen, klapprige Sowjetautos, freilaufende Kühe. Nichts unterscheidet die Stadt von anderen kasachischen Provinzstädten – nur der Hafen.
Dort, wo früher der Aralsee an die Hafenmauer von Aralsk schwappte, wuchert heute Gras. Schiffswracks liegen am Hafenrand, aufgebahrt wie Leichen. Kräne rosten vor sich hin, niemand braucht sie mehr. Das Ufer des Sees ist inzwischen 20 Kilometer entfernt, vor ein paar Jahren waren es sogar noch 100 Kilometer.
Der Aralsee stirbt. Sein Wasser wird jeden Tag weniger, die Salzwüste an seinen Ufern jeden Tag größer. Einst war er der viertgrößte See der Erde, der zweitgrößte in Eurasien. Heute sind nur noch ein paar kleine Gewässer von ihm übrig. Seit den 60er-Jahren schrumpfte die Fläche des Sees um gut 75 Prozent. Sein Wasserspiegel senkte sich um 22 Meter, seine Wassermenge ging um 90 Prozent zurück.
Neue Debatte über einen tollkühnen Plan | |
Einer der tollkühnsten Pläne zur Rettung des Aralsees stammt aus Sowjetzeiten. Jetzt hat ihn der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew aus der Mottenkiste gekramt. Er will einen Tausende Kilometer langen Kanal bauen, der die Flüsse Sibiriens anzapfen und die Steppe rund um den Aralsee mit Wasser versorgen soll. Seit Jahrzehnten wird der Plan diskutiert – und immer wieder verworfen. Weil er die Aralsee-Katastrophe zwar beenden könnte, aber unabsehbare Risiken birgt. Trotzdem: Nasarbajew schlug seinem russischen Amtskollegen Dmitri Medwedew im September vor, den Plan zu realisieren. Der zeigte sich zumindest verhandlungsbereit. |
Im April kreiste UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon mit einem Hubschrauber über den Resten des Sees. Sein Urteil: „Das Austrocknen des Sees ist eine der schockierendsten Katastrophen des Planeten.“ Dann tat er, was er in solchen Situationen tun kann: Er appellierte. „Ich rufe alle Staats- und Regierungschefs auf, eine Lösung herbeizuführen.“
Schuld am Sterben des Sees ist die einstige Sowjetregierung in Moskau. Sie machte die zentralasiatische Steppe zum Zentrum des Baumwollanbaus. Man baute riesige Bewässerungskanäle und speiste sie mit dem Wasser aus Amudarja und Syrdarja – den beiden Zuflüssen des Sees. In Turkmenistan entstand ab 1956 der Karakum-Kanal, der größte Bewässerungskanal der Welt. In ihn wird etwa ein Viertel der Wassermenge des Amudarja abgezweigt.
Die Folge des Baumwollanbaus: Im Aralsee kam immer weniger Wasser an. Zwischenzeitlich verbrauchte man sogar das gesamte Wasser der beiden Flüsse für wirtschaftliche Zwecke. Der Amudarja erreichte Mitte der 80er-Jahre den Aralsee nicht mehr, ebenso der Syrdarja von 1974 bis 1986.
Durch den Baumwollanbau gerieten giftige Pestizide in die Flüsse und ins Trinkwasser. Die Menschen erkrankten überproportional häufig an Typhus, Hepatitis und Krebs. Die Sterblichkeitsrate bei Kindern wurde eine der weltweit höchsten. Das Schrumpfen des Sees ließ den Salzgehalt im Wasser steigen. Fische starben, die Fischerei brach zusammen, Zehntausende Menschen wurden arbeitslos.
Ban Ki-Moon weiß gewiss, dass sein Appell an die Welt utopisch war. Denn der Aralsee ist ein trauriges Beispiel dafür, wie internationale Kooperation scheitern kann, obwohl sie angeblich alle Staaten wollen. Seit dem Ende der Sowjetunion schlossen Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan gut 150 Verträge über den Aralsee ab. Gebracht hat es nichts.
Kasachen sprechen vom Aralischen Meer | |
Der Aralsee war mit einer Fläche von 66 000 Quadratkilometern einst der viertgrößte See der Erde. Größer waren nur der Victoriasee (Ostafrika, 69 000 Quadratkilometer) und der Obere See (Nordamerika, 82 000 Quadratkilometer). Als größter See der Erde gilt das Kaspische Meer (Westasien, 394 000 Quadratkilometer), weil es nicht mit den Weltmeeren verbunden ist. Für Russen, Kasachen und Usbeken ist der Aralsee ein Meer. Sie sprechen in ihrer Sprache bis heute vom Aralischen Meer. Der Präsident des kasachischen PEN-Clubs, Äbdischämil Nurpeissow, verarbeitete die Tragödie zu einem Roman: „Der sterbende See“, 100% Seiten, 29,90 Euro, J&D Dagyeli Verlag. |
Inzwischen versucht Kasachstan, seinen Nordteil des Sees allein zu retten. In den Jahren 2003 bis 2005 baute man mit 86 Millionen Dollar der Weltbank den 13 Kilometer langen Kokaral-Damm – dort, wo der Syrdarja in den See mündet. Der Kanal wurde ein großer Erfolg: Der Wasserspiegel stieg, der Salzgehalt im Wasser sank. Der See rückte wieder näher an die Stadt Aralsk heran.
Der deutsche Aralsee-Kenner Professor Ernst Giese beurteilt den Damm positiv: „Der Damm rettet wenigstens den Nordteil des Sees. Es gibt keine Alternative zu ihm, da sich die Staaten Zentralasiens nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können.“
Derzeit läuft noch viel Wasser aus dem Syrdaria durch ein Überlaufwehr in das riesige, ausgetrocknete Becken des Aralsees und verdunstet dort. Darum wollen Anwohner des Sees den Damm um acht Meter erhöhen. Doch es würde mehrere Jahrzehnte dauern, bis der Pegel im Nordteil des Sees so weit steigt, dass das Wasser zurück in den Hafen von Aralsk käme.
Das hat der Internationale Fonds zur Rettung des Aralsees mit Sitz im kasachischen Almaty berechnet. Darum will der Fonds, den die zentralasiatischen Staaten 1993 gegründet haben, einen zweiten Damm bauen. Dann würde alles schneller gehen. In jedem Fall kostet die Rettung des Aralsees viele Millionen Euro – Geld das erst noch beschafft werden muss.
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Siehe auch EM 03-09 Gelesen: „Tagebuch der Aralsee-Expedition 1848/49“ von Aleksej Ivanovic Butakov. EM 10-07 Kasachstan: Hoffnung am Aralsee – Das Meer kommt zurück und EM 08-04 Zentralasien: Der Aralsee – Die Zerstörung eines orientalischen Märchens.