„Wir Türken erfüllen eine Brückenfunktion – das ist unsere eurasische Aufgabe“INTERVIEW

„Wir Türken erfüllen eine Brückenfunktion – das ist unsere eurasische Aufgabe“

Prof. Dr. Mesut Yilmaz war seit 1986 nacheinander Staatsminister, Kultusminister, Außenminister und mehrfach Ministerpräsident der Turkei. Er ist Grundungsmitglied der 1983 ins Leben gerufenen turkischen „Mutterlandspartei“, Teilnehmer am Europäischen Verfassungskonvent und seit 1998 Vizepräsident der „European Democratic Union“

Von Hartmut Wagner

 
Mesut Yilmaz 

Eurasisches Magazin: Die Tendenz zur unipolaren Ausrichtung der Welt auf ein Zentrum hat in jüngster Zeit Gegenreaktionen auf dem eurasischen Kontinent hervorgerufen. Es sieht so aus, als würde sich hier ein politisches Umdenken ankündigen. Könnte die Kooperation eurasischer Staaten zu einer Stärkung der politischen und kulturellen Multipolarität in der Welt führen und wäre das in Ihren Augen wünschenswert?

Prof. Dr. Mesut Yilmaz: Die Europäische Union ist gerade dabei, sich eine Verfassung zu geben. Diese Verfassung wird dazu beitragen, daß die EU stärker als bisher mit einer Stimme sprechen kann und damit als internationaler Akteur auftreten wird. Hieraus ergibt sich zwangsläufig eine Multipolarität. Der Beitritt der Türkei zur EU würde diese Multipolarität in erheblichem Maße stärken. Ich kann einen solchen Prozess nur begrüßen.

Die türkischen Außengrenzen zum Irak, zum Iran, zu Syrien, Armenien, Georgien und Rußland wären eine Bereicherung für die EU

EM: Mit dem Beitritt der Türkei zur EU wäre der eurasische Brückenschlag vollzogen. Die Europäische Union hätte dann direkte Grenzen zu Syrien, zum Irak, zum Iran, zu Armenien, zu Georgien und zu Rußland. Dies wird häufig als Einwand vorgebracht, um die EU-Mitgliedschaft der Türkei zu verhindern. Ist das in Ihren Augen verständlich oder wird hier ein Popanz aufgebaut – sind die Grenzen zu den genannten Ländern für die EU unzumutbar, für die Türkei allein dagegen eher verkraftbar?

Yilmaz: Der Einwand der neuen Grenzen im Falle eines Beitritts der Türkei zur EU ist meiner Überzeugung nach ein Scheinargument. Mit der gleichen Begründung hätte man schon den Beitritt Spaniens wegen seiner besonderen Beziehungen zu Lateinamerika oder den Großbritanniens wegen seiner Beziehungen zu den Ländern des Commonwealth ablehnen müssen. Das Verhältnis der Türkei zu den von Ihnen genannten Staaten wird dazu beitragen, den Einfluß Europas im Sinne der Multipolarität zu vergrößern. Die neuen Grenzen würden keine Gefahr sondern eine Bereicherung darstellen.

EM: Wie schätzen Sie die Rolle des Islams ein – führt eine Aufnahme der Türkei in die EU zur Europäisierung des Islams oder zur Islamisierung Europas?

Yilmaz: Europa wird nicht islamisiert werden, genauso wenig wie die Türkei christianisiert wird. Eine der Gemeinsamkeiten, die wir heute schon mit den Staaten der EU teilen, ist die Trennung von Staat und Religion. Diese Trennung ist einer der Grundpfeiler der modernen Türkei seit ihrer Gründung im Jahre 1923. Wir sind in der Türkei zutiefst davon überzeugt, daß die religiöse Überzeugung eine private, keine öffentliche Angelegenheit ist. Deshalb haben bei uns religiös fundierte politische Bewegungen keinen Erfolg gehabt. Ich halte die Islamisierungsdebatte im Hinblick auf den Beitritt der Türkei zur EU für absolut verfehlt. Diese Debatte schürt Ängste mit einem atavistischen Thema, nämlich dem des Kampfes von Religionen und Kulturen. Im alltäglichen Leben der Menschen sowohl in den Ländern der EU als auch in der Türkei kommt dieser Kampf aber gar nicht vor. Die Menschen haben ganz andere Sorgen. Sie wollen Bildung, sie wollen Arbeit, sie wollen Wohlstand, sie wollen soziale Sicherheit.

„Wir kennen Europa, denn wir sind Teil seiner Geschichte“

EM: Der GUS-Experte Alexander Rahr hat in unserer Umfrage in der Ausgabe 05-03 gesagt: „Von Asien nach Europa kann die eurasische Idee nicht importiert werden – der Anstoß zu einer eurasischen Kooperation müßte von den Europäern kommen.“ Wie ist Ihre Meinung dazu?

Yilmaz: Mir ist bei dieser Frage der Begriff Eurasien zu allgemein. Er umfaßt ja auch Länder, die erst in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts damit begonnen haben, sich mit der liberal-demokratischen Idee anzufreunden und damit auch heute noch einige Schwierigkeiten haben. Ich will nicht sagen, daß die moderne Türkei von Anfang an ein demokratischer Musterstaat war, aber wir haben immerhin ein wenig mehr Erfahrung mit dem parlamentarischen System, das bei uns 1923 eingeführt wurde. Was für mich aber viel wichtiger ist: Europa wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen von Nationen, die sich zum damaligen Zeitpunkt als verschieden, ja feindlich begriffen. Man hat bei der Gründung Europas nach Gemeinsamkeiten gesucht. Und man hat sie gefunden, aber man hat auch die Verschiedenheiten akzeptiert und sie letztlich als eine Stärke begriffen. Wir, die Türken, bringen nun ein neues Element ein. Wir kennen Europa, denn wir sind Teil seiner Geschichte gewesen und werden es demnächst auch wieder sein, wenn auch auf eine wesentlich friedlichere Art. Wir kennen aber auch Asien und damit erfüllen wir eine Brückenfunktion, auf die die EU nicht verzichten sollte. Dies ist unsere eurasische Aufgabe

EM: Wohin würde sich die Türkei orientieren, wenn die türkische Westgrenze auch in Zukunft die Ostgrenze der Europäischen Union bliebe?

Yilmaz: Für diesen Fall bekommen wir eine Schaukelpolitik mit wechselnden Allianzen und so etwas, das hat die Geschichte gezeigt, ist immer äußerst gefährlich. Ich glaube, daß damit in unserer Region ein neuer Krisenherd entstehen könnte. Viel wichtiger aber noch ist die Frage, wohin würden sich die Türken orientieren? Damit meine ich all jene, die nicht in der Türkei, sondern beispielsweise in Deutschland leben. Wie würden sie eine Zurückweisung aufnehmen? Wie würden sie mit dem Umstand umgehen, daß ihnen gesagt wird: Ihr gehört definitiv nicht zu uns, ihr seid Fremde und ihr werdet Fremde bleiben. Für mich hat ein solches Szenario durchaus etwas Bedrückendes.

„Alle türkischen Parteien befürworten einen EU-Beitritt der Türkei“

EM: Sie haben bei Ihrem Antritt als Gastprofessor an der Ruhr-Universität in Bochum erklärt, Sie möchten „die deutsche Öffentlichkeit protürkisch beeinflussen.“ Wissen Sie schon wie, und sind Sie zuversichtlich, daß das gelingen wird?“

Yilmaz: Ganz offen: meine Gastprofessur war und ist in manchen Kreisen nicht unumstritten. Ich habe politische Verantwortung getragen, und das bedeutet, daß ich politische Gegner habe, die sich auch in Deutschland äußern. Das ist ihr gutes Recht, denn so funktioniert nun mal Demokratie. Ich begrüße sogar diese Auseinandersetzung, weil sie die Öffentlichkeit für Fragen der Türkei sensibilisiert.
Meine Aufgabe sehe ich darin, aus der Sicht desjenigen, der Politik praktisch zu vollziehen hatte, die Verhältnisse in meinem Land darzustellen und dies einem deutschen Publikum nahezubringen. Dies scheint zu funktionieren, denn meine Veranstaltungen sind sehr gut besucht. Dies trifft sowohl auf die rein universitären Seminare zu als auch auf die öffentlichen Vorträge, die ich einmal im Monat halte. Auch in den Medien hat meine Gastprofessur und haben meine Vorträge einen deutlichen Widerhall gefunden. Mir liegt im übrigen auch daran, meine Landsleute in Deutschland als Multiplikatoren zu gewinnen, wobei ich sehr stark darauf Wert lege, im universitären Dialog manche propagandistischen Haltungen auf sachlichen Austausch zurückzuführen. Bisher hat sich gezeigt, daß dieses Verfahren sehr gute Ergebnisse zeitigt. Ich bin absolut zuversichtlich, daß meine Gastprofessur einen positiven Einfluß in der Öffentlichkeit hinsichtlich der Haltung gegenüber der Türkei ausüben wird.

EM: Wird die derzeitige türkische Regierung von Abdullah Gül und dessen islamistische „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) weiterhin auf eine EU-Mitgliedschaft der Türkei hinarbeiten?

Yilmaz: Alle Parteien – ohne Ausnahme – befürworten den Beitritt der Türkei zu EU.

EM: Vielen Dank für dieses Gespräch.

EU Interview Türkei

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