Zirkus Upsala – ein kreisrundes MärchenRUSSLAND

Zirkus Upsala – ein kreisrundes Märchen

Zirkus Upsala – ein kreisrundes Märchen

Alle Geschichten im Zirkus Upsala erzählen von kleinen und großen Wundern. Die Artisten sind ehemalige Straßenkinder, die sich in den Hinterhöfen St. Petersburgs mit Betteln durchschlugen, bis ihnen der Zirkus – ein deutsch-russisches Projekt – einen Ausweg aufgezeigt hat. Jedes Jahr ist der Zirkus auch in Deutschland auf Tournee. Die Idee zu dem Projekt, das vor sechs Jahren begann, hatte die Berlinerin Astrid Schorn.

Von Anna Litvinenko

Ehemalige Straßenkinder aus St. Petersburg vermitteln im Zirkus „Upsala“ Lebensfreude pur.  
Ehemalige Straßenkinder aus St. Petersburg vermitteln im Zirkus „Upsala“ Lebensfreude pur.  

E in kleiner Junge mit aufgemalten Augenbrauen, die Erstaunen ausdrücken, und einem charmanten Lächeln fährt Einrad, läuft auf einer großen Kugel und springt so hoch, als ob er Flügel hätte. Und das alles inmitten einer bunten, jonglierenden, tollenden Kinderwelt. „Rundes Märchen“ steht in Deutsch und Russisch auf großen, roten Zirkusplakaten geschrieben.

Aus dem Dunkeln des Zuschauersaals hört man ab und zu Klatschen und Lachen. Es ist nicht leicht, die Zuschauer – Kinder „aus schwierigen Familienverhältnissen“ wie sie offiziell heißen – zum Lachen zu bringen. Doch den Artisten des Zirkus „Upsala“ gelingt es. Sie treten oft in den Kinderheimen, Behinderteneinrichtungen und Familienzentren von St. Petersburg auf. Jeden Sommer geben sie zudem Gastspiele in Deutschland. Sie erzählen den Zuschauern heitere Geschichten von kleinen und großen Wundern, die jedem begegnen können, wenn er nur offen und lebensfroh bleibt. Die Namen ihrer Stücke lassen auch Erwachsene träumen: „Wolken in mir“, „Die Stadt im Koffer“, „Rundes Märchen“.

Die Lebensgeschichten der meisten „Upsala“-Artisten sind dabei alles andere als märchenhaft – es sind vor allem Straßenkinder, die im Zirkus auftreten. Noch vor einiger Zeit beschränkte sich ihre Welt auf Petersburger Hinterhöfe, auf Betteln, Flaschenpfand sammeln und Klebstoff schnüffeln. Die meisten „Upsalaner“ sind nicht wirklich obdachlos. Sie haben theoretisch ein Zuhause: eine verkommene Familie mit alkoholsüchtigen Eltern oder ein unfreundliches Kinderheim. Manchmal hören die Pädagogen grausame Geschichten, die von Gewalt und Drogen erzählen. Doch in dem hellen Schulsportsaal, in dem die „Upsalaner“ täglich trainieren, scheinen sich die Gespenster ihres Alltagslebens nicht hineinzutrauen. Der Zirkus „Upsala“, der vor sechs Jahren in der Newa-Stadt von der Berlinerin Astrid Schorn ins Leben gerufen wurde, will Kindern in Not die Hand reichen.

Jedes Kind hat seine Stärken, man muss sie nur entfalten

Täglich, mit Ausnahme der Wochenenden, kommen die 26 Kinder nachmittags zum Training in die Schule Nr. 25 nahe der Metrostation Tschkalowskaja. Manche, wie zum Beispiel die Brüder Kolja und Mischa, legen dafür täglich einen vierstündigen Weg zurück. Hier bei „Upsala“ lernen sie nicht nur, dass Fluchen unanständig, Klebstoff schädlich und Schuleschwänzen unvernünftig ist – sie lernen auch sich selber kennen. „Jedes Kind hat seine Stärke, seine Talente, man muss sie nur entfalten können“, sagt die junge Regisseurin Larissa Afanasjewa, die den Zirkus zusammen mit Astrid Schorn aufgebaut hat.

Der kleine Kyrill übt seit einer halben Stunde konzentriert Stelzen laufen, während alle anderen Kinder mit dem Akrobaten Jaroslaw Mitrofanow Salti erlernen. Kyrill ist eigenwillig und lässt sich kaum führen. Der wendige Junge ist mit seinen Stelzen schon oft hingefallen, doch jedes Mal steht er lachend wieder auf und übt weiter. Irgendwann ruft er stolz nach Larissa, und die Pädagogin lobt ihn lächelnd: „Gut gemacht. Wenn Du noch dazu jonglieren könntest, das wäre cool!“. Ein paar Minuten später hat sich Kyrill schon Bälle besorgt und macht sich begeistert an die neue Aufgabe.

Suche nach Geld, Essen und Kleidung

Auftritt für den jungen Artisten Kolja – er kommt gut an und ist voller Tatendrang.  
Auftritt für den jungen Artisten Kolja – er kommt gut an und ist voller Tatendrang.  

Obwohl ihnen mit den Kindern so manches Kunststück gelingt, sind die Gründerinnen des Petersburger Straßenkinderzirkus keine ausgebildeten Künstlerinnen. Astrid Schorn hat in Berlin Sozialpädagogik studiert. Durch ein Praktikum in St. Petersburg lernte sie viele sozial benachteiligte Kinder kennen. „Als mein Praktikum zu Ende war, kam ich mit viel Ideen und Enthusiasmus zurück nach Deutschland und begann, Sponsoren für das neue Projekt zu suchen“, erzählt die 30-Jährige. So wurde der Zirkus „Upsala“ geboren.

Der Verein „Upsala“ in Deutschland sichert den Zirkus finanziell ab. Ständig wird Geld benötigt, um Essen und Kleidung für Kinder zu besorgen, Requisiten zu kaufen und den Trainingsraum zu bezahlen. Die Stadt, in der laut Statistik 10.000 Kinder auf der Straße leben, hat das Projekt bislang kaum unterstützt. Die „Upsalaner“ mussten stets neue Trainingsräume suchen „Wir haben aber beschlossen, dass wir keinen Tag Training ausfallen lassen, selbst wenn wir uns unter freiem Himmel sammeln müssen“, erzählt Larissa Afanasjewa.
 
Inzwischen stellt ihnen der Direktor der Schule Nr.25 auf der Petrograder Stadtseite nachmittags drei Räume zur Verfügung, darunter auch ein kleines Büro. Da arbeitet jeden Tag ein Team, bestehend aus der Leiterin Larissa Afanasjewa, der Direktorin Marina Demahowskaja, zwei Sozialpädagoginnen, zwei professionellen Akrobaten und mehreren deutschen und russischen Volontären. Karl Mund ist erst vor wenigen Wochen aus Bayreuth angekommen und hat gleich das Vertrauen der Kinder gewonnen – den ganzen Tag hängen sie bereits an ihm. „Upsala“ hat alle Erwartungen des deutschen Studenten übertroffen: „Ich dachte nicht, dass hier alles auf so einem professionellen Niveau stattfindet“. 

Der Funken in den Augen

Um sieben Uhr abends fängt das Training der zweiten Gruppe an. Es sind Kinder, die schon seit langem im Zirkus sind und eine Mege können. Ihre Flik-Flaks sind atemberaubend. Der 16-jährige Kolja, der im Stück „Rundes Märchen“ die Hauptfigur spielt, gehört zu den alten Hasen. Er ist ein kleiner, etwas schüchterner Junge mit einem sonnigen Lächeln. „Mir gefällt die Gesellschaft hier und das, was wir tun“, sagt Kolja. „Ich bin schon seit sechs Jahren dabei“, erzählt er stolz. „Kolja war einer der schweren Fälle“, erinnert sich Astrid Schorn. Während der ersten zwei Jahre verschwand er immer wieder. Tagelang musste man ihn in den Hinterhöfen und unter den Dächern Petersburgs suchen, immer wieder aufs Neue zur Rückkehr überreden und vom Klebstoff schnüffeln entwöhnen.

„Man kann in den Augen eines Kindes gleich sehen, ob es noch zu retten ist“, sagt die Wahl-Petersburgerin. In den Augen von Kolja fand sie damals anscheinend noch einen Lebensfunken, der inzwischen zu einem kleinen Feuer aufgelodert ist. In diesem Jahr beendet Kolja die Schule und schwärmt schon von einer Zirkus-Ausbildung. „Ich denke daran, Artist zu werden“, erzählt er schüchtern und streicht sich sein schelmisches Pony-Haar aus der Stirn.

Zum guten Menschen werden

„Ich mache mir im Moment Sorgen, was nach dem Zirkus aus ihnen wird“ sagt Larissa Afanasjewa. Sie sitzt im kleinen Büro, das voll gestopft ist mit Requisiten. Es sei schwer für die erwachsenen „Upsalaner“, plötzlich selbständig zu werden. Doch viele schaffen es, ihre Balance auch außerhalb der Bühne zu halten. Die 19-jährige Natascha arbeitet mit Behinderten, der 20-jährige Mischa wird bald seine Lehre als Tischler abschließen. Den 21-jährigen Sergej nennt Astrid Schorn „die Seele von Upsala“. Der Junge galt als aussichtsloser Fall. „Sergej hat sich mit der Zeit als großartiger Schauspieler erwiesen“, erzählt Larissa Afanasjewa. Vor kurzem habe er sogar ein Jahr in Dresden bei einem Zirkusprojekt verbracht. Nun lernt er Buchbinden. „Es ist ja nicht das Ziel, dass sie Schauspieler und Künstler werden. Es sind gute Menschen und das reicht ja“, lacht die gebürtige Sibirjakin überzeugt.

Wenn es in der Newa-Stadt wärmer wird, wollen die „Upsalaner“ endlich ihr stolzes orange-blaues Zirkuszelt bewohnen, das noch im Schulhof gelagert wird, um dann regelmäßig vor dem Petersburger Publikum auftreten zu können. Denn ein gutes Märchen muss ja rund sein: immer weiter gehen, ohne Ende.

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Die Autorin ist Korrepondentin von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen unter www.n-ost.de.

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