Als Leningrad verhungerteZWEITER WELTKRIEG

Als Leningrad verhungerte

Als Leningrad verhungerte

Am 6. Dezember 1941 – kürzlich jährte sich das Ereignis zum 70. Mal – wurde der belagerten Stadt Leningrad mitten im eiskalten Winter die Heizung gekappt und es gab kein Trinkwasser mehr. Deutsche und finnische Truppen hatten die Stadt im Zweiten Weltkrieg 900 Tage lang eingekesselt. Rund eine Million Einwohner starben an Kälte, Hunger und Entkräftung.

Von Mandy Ganske

E in  enger, dunkler Raum empfängt den Besucher. Er befindet sich hinter einer Tür mit der Aufschrift „Museum“. Zu ihr gelangt man direkt an dem von zwei hoch aufragenden Gebäuden flankierten Eingangsportal des Piskarjowskoje-Friedhofs im Norden St. Petersburgs. Das Licht in dem Raum ist gedämpft und er hat schwarze Wände. Bilder des Elends, des Leids und des Todes sind  aufgehängt: Bis auf die Knochen herunter gehungerte Gesichter und Leiber. Darunter sind viele Aufnahmen aus dem Winter 1941 und 1942. Es war der härteste während der 900 Tage dauernden Blockade St. Petersburgs, das damals noch Leningrad hieß und seit September 1941 von deutschen und finnischen Soldaten eingekesselt war.

Diese Bilder erzählen die Geschichte dieses Winters, in dem 40 Grad unter null herrschten und die Menschen systematisch ausgehungert wurden. Die Schlinge um die Stadt hatte sich zugezogen, zwei Monate später war die Stromversorgung am Ende. Am 6. Dezember 1941 – in diesen Tagen vor 70 Jahren – wurde die Heizung gekappt und es gab kein Trinkwasser mehr.

Der langwierige Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung begann, ohne eine Kugel zu verschießen. Hitler  sah die Newa-Metropole beim Versuch, die Sowjetunion einzunehmen, mehr und mehr als Nebenkriegsschauplatz. Sie sollte nebenbei fallen, wie der Bauer auf dem Schachbrett, und die Menschen darin gleich mit. Hauptsache sie würde fallen.

Leningrad sollte fallen, wie der Bauer auf dem Schachbrett

Der Historiker Jörg Ganzenmüller von der Universität Jena spricht von „einem Genozid an der Leningrader Zivilbevölkerung“. Für die Einwohner, von denen in den 900 Tagen eine Million ums Leben kam, war die Blockade jeden Tag ein grauenhafter Überlebenskampf. Das kann der Besucher auf dem großen Gedenkfriedhof im heutigen St. Petersburg nicht mehr nachfühlen, nur erahnen. Bild- und auch Tondokumente im Museum, das erst 2010 nach Restaurierung wiedereröffnet worden war, vermitteln dürftige Eindrücke des Unvorstellbaren: Fluglärm, Glockengeläut, Fußmärsche, Schüsse. Einem Flachbildschirm gegenüber liegt ein Stück Brot in einer kleinen Glasvitrine. Es sind genau 125 Gramm. Das war die tägliche Ration für jeden Leningrader im Hungerwinter. So nimmt das Erinnern Form an. Durch das kleine Mädchen Tanja an der Schautafel daneben erhält es ein Gesicht. Immer wenn einer ihrer Verwandten starb, notierte Tanja sich das Datum auf einem Zettel: Ihre Mutter starb am 13. Mai 1942 um 7.30 Uhr. Sie notierte immer weiter, bis auf einem letzten Zettel steht: Ich bleibe als einzige...

Wer  aus diesem finsteren Raum zurück an die Sonne und an das Gräberfeld tritt, fühlt sich klein. Klein vor der Tragödie, die über diese Stadt und ihre Menschen gekommen war. Davon zeugen 186 Gräberhügel. Darunter liegen auf dem gesamten Friedhof die Gebeine von 470 000 Menschen und 50 000 Soldaten begraben.

Die Blockade hat nach Schätzungen insgesamt  800 000 bis 1,2 Millionen Menschen das Leben gekostet. Etwa eine Million Menschen konnte evakuiert werden und nur noch 700 000 Leningrader lebten in der Stadt, als die Befreiung endgültig gelang.

Die Klänge der Siebten Symphonie von Schostakowitsch

Auf dem hinteren Teil des Friedhofs stehen wenige Namen und Daten von Armeeangehörigen auf Grabsteinen: Sehr viele von ihnen waren, wie man lesen kann, gerade Anfang oder Mitte zwanzig, als sie ihr Leben ließen. Ihnen und den zivilen Opfern zu Ehren brennt eine ewige Flamme.

Es  ist still, nur die Siebte Symphonie von Dimitri Schostakowitsch dringt aus Lautsprechern ans Ohr. Schostakowitsch hatte das Stück dem Kampf gegen den Faschismus sowie seiner Heimatstadt gewidmet. Es erinnert an eines der wenigen Hoffnung spendenden Erlebnisse für die Bewohner dieser damals Stück für Stück regelrecht aussterbenden Stadt:

Im August 1942 hatte das das Symphonieorchester im großen Saal der Leningrader Philharmonie gespielt. Auch zur zentralen Gedenkveranstaltung anlässlich des Überfalls der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion erklang Schostakowitschs Siebte im Sommer dieses Jahres in Berlin. An ihr nahmen Kulturstaatsminister Bernd Neumann sowie die Botschafter der Russischen Förderation, der Ukraine und Belarus teil. Es spielte das RIAS Jugendorchester.

Still und leise plätschert sie auf dem St. Petersburger Gedenkfriedhof aus den Lautsprechern, die das Gräberfeld säumen. Soweit sie zu hören ist, füllt sie die bedrückende Weite auf diesem 28 Hektar großen Areal, welche nur von Bäumen sowie von einer hoch aufragenden Bronzestatue durchbrochen wird, der „Mutter Heimat“. Die Statue steht am Ende einer von Grabhügeln gesäumten Allee.

Vier Befreiungsschläge der Roten Armee misslangen

Bis zum 27. Januar 1944 sollten die Leningrader durchhalten und ertragen müssen, dass die Deutschen sich vor der Stadt festgesetzt hatten. Denn Hitlers Pläne sahen vor, die Newa-Metropole gerade nicht einzunehmen, sondern die Menschen in der Stadt Peters des Großen   einfach sterben zu lassen. Die Vernichtung Leningrads war laut Ganzenmüller fest in den Germanisierungsplänen einkalkuliert und in der Zukunft eines „großgermanischen  Konlonialraum(s) nicht mehr vorgesehen“ gewesen.

Vier Befreiungsschläge der Roten Armee misslangen bis 1943, so dass für die Leningrader immer mehr Tage ins Land zogen, in denen oft nichts anderes galt, als Krankheiten und den quälenden Hunger entkräftet auszuhalten, zur Not Ölkuchen zu essen und immer wieder Wasser aus Eislöchern in der Newa zu schöpfen.

Wer in der Lebensmittelindustrie arbeitete, zweigte ab, was er konnte. Erst das letzte Jahr dieser Blockade hatte den Menschen Erleichterungen gebracht, denn der Roten Armee war es im fünften Anlauf gelungen, den Belagerungsgürtel zu sprengen – die vor der Stadt liegende Festung Schlüsselburg wurde im Januar 1943 befreit. Außerdem war der Ladogasee zur Rettung geworden; über ihn hinweg war es möglich, die Stadt mit Gütern zu versorgen - wenn auch beschwerlich über holprige und schwer zugängliche Wege bis zum See.

Die menschenverachtende Politik Stalins passt nicht zum Pathos

Dem  gewaltigen Kraftakt der Menschen und der Armee setzt der Petersburger Friedhof ein Denkmal. Worüber dieses Denkmal aber nichts erzählt, ist, dass auch Machthaber Stalin während dieser Blockade seine eigene menschenverachtende Politik fortsetzte. Er veranlasste,   Industrieanlagen zu retten, aber als der Diktator Menschen evakuierte, ließ er zunächst nur diejenigen aus der Newa-Metropole herausbringen, die ihm nützlich erschienen, zum Beispiel Arbeiter-Familien ganz im Sinne der Ideologie.

Staatlich ausgeübter Terror blieb an der Tagesordnung – gegenüber „Volksfeinden“ sowie  der finnisch- und deutschsprachigen Minderheit. Die einen wurden verhaftet, die anderen nach Kasachstan oder Sibirien deportiert. Aber diese Details werden in der Gedenkstätte verschwiegen, wahrscheinlich weil sie am Heldenmythos des russischen Volkes und seiner Machthaber insgesamt nagen könnten, der fest im historischen Gedächtnis verankert ist und heute wieder für den Aufbau nationalen Selbstbewusstseins herhält.

Gerade die Blockade steht als leuchtendes Beispiel der heldenhaften Verteidigung einer   Millionen-Metropole und die Inschrift an der Decke des Gedenkmuseums in goldenen Lettern will das dem Besucher mit auf den Weg geben: „Ruhm denen, die ihr Leben für die Stadt geopfert haben – den Helden Leningrads.“

Kein Wort von den gescheiterten Befreiungsversuchen der Roten Armee, deren Einheiten teilweise schlecht ausgestattet und schlecht koordiniert waren. Kein Wort davon, dass der Machtstratege Stalin das letzte Jahr verstreichen ließ, weil die Versorgungslage sehr viel besser geworden war. Dabei litt die Stadt auch in dieser Zeit unter Artilleriebeschuss. Zu gut machte sich das belagerte Leningrad offenbar in Verhandlungen gegenüber westlichen Alliierten, in denen Stalin darauf verwies, welche Lasten man zu tragen habe.

Kein Wort auch von Verfolgung und Deportation.  Stattdessen neben den Massengräbern ein See, mit einer Bauminsel in der Mitte. Bänke unter Bäumen laden am Ufer zum Verweilen ein. Alles ist friedvoll. Es ist die alte Kunst, die Russland so gut beherrscht, die Festveranstaltungen zu Nationalfeiertagen sowie die vielen Gedenkstätten für den „Großen Vaterländischen Krieg“ mit Pathos aufzuladen, und dabei die eigenen Fehler und Gräuel vergessen zu machen. So wie dieser Gedenkfriedhof eben solches Pathos verströmt, auf dem für den Besucher jeder kritische Geist erlöschen und dem reinen Mitgefühl Platz machen soll.

*

Die Autorin Mandy Ganske-Zapf ist Redakteurin der „Volksstimme“ in Sachsen-Anhalt. Sie hat 2003/2004 für ein Jahr in St. Petersburg gelebt und reist seitdem regelmäßig dorthin.

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