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RUßLAND ZWISCHEN NATO UND ESVP
Von Nico Lange
u Beginn einer Konferenz im Rahmen der „NATO-Tage“ in St. Petersburg im Februar 2005 betonte der stellvertretende Generalsekretär der Allianz, Jamie Shea, die hohe Bedeutung, welche die NATO der Partnerschaft mit Rußland beimesse. „Dauerhafter Frieden in Europa und der Welt“, so Shea, sei „nur durch eine enge Einbindung Rußlands in die Strukturen der NATO“ zu gewährleisten. Nur eine Woche zuvor hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder auf seiner umstrittenen Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit nahezu identischen Worten die Integration Rußlands in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und eine Neubestimmung der Rolle der NATO gefordert. Die Äußerungen Schröders und die Rede von einer europäisch-russischen „Schicksalsgemeinschaft“ während des Vierertreffens der Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Rußlands und Spaniens im März erwecken den Eindruck, daß das sogenannte „alte“ Europa mit den Plänen für eine leistungsfähige ESVP unter Mitwirkung Rußlands einen stärkeren Konfrontationskurs gegenüber der NATO eingeschlagen hat. In Reaktion auf die Schröder-Rede waren sogar bereits Stimmen zu vernehmen, die nicht weniger als eine Neuverhandlung des transatlantischen Vertrages forderten.
Wenngleich sowohl die EU als auch die NATO beständig bemüht sind, die weltpolitische Bedeutung Rußlands herunterzuspielen und ein russisches Selbstverständnis als „normalem“ Staat in Abkehr von ehemaligen Großmachtansprüchen fordern, kommt der Russischen Föderation im Spannungsfeld zwischen der NATO und der ESVP offensichtlich eine ganz besondere Rolle zu. Mit einer klaren Richtungsentscheidung könnte Moskau entweder die NATO retten oder der EU zum Durchbruch als globalem Akteur verhelfen.
„Die NATO wird sich zwangsläufig auflösen.“ – diese These wurde unmittelbar nach dem Ende des Ost-West-Konflikts von zahlreichen prominenten Akademikern vertreten, die Anhänger der realistischen Schule der Internationalen Beziehungen sind. Bisher schien es, als hätten sie damit völlig falsch gelegen. Allen Unkenrufen zum Trotz hat sich die NATO in den neunziger Jahren von einer Verteidigungsgemeinschaft zu einer global intervenierenden Sicherheitsorganisation gewandelt und sich dabei nach Osten erweitert. Die aktuellen Entwicklungen legen aber die Vermutung nahe, daß die „ewige Weisheit des Realismus“ am Ende doch recht behalten könnte. Die starken Spannungen innerhalb der transatlantischen Gemeinschaft sind spätestens seit dem Irak-Krieg nicht mehr zu übersehen. Der Riß innerhalb des Nordatlantikpakts verläuft vor allem zwischen dem „europäischen Motor“ Deutschland und Frankreich auf der einen Seite und den USA auf der anderen.
Aus der Sicht der NATO sind langfristig zwei Szenarien wahrscheinlich: Einerseits könnte die Allianz ihren Status als Sicherheitsinstitution erster Wahl verlieren, wenn die führenden Staaten der EU eine politische und institutionelle Stärkung der ESVP erreichen. Sollte es den Europäern gelingen, Rußland eng in die „Schicksalsgemeinschaft“ einzubinden, um fortan europäische und sogar globale Sicherheitsprobleme gemeinsam zu bearbeiten, wäre die NATO bestenfalls noch eine Organisation von mehreren, wenn nicht sogar vollkommen obsolet. Andererseits wäre eine Integration Rußlands in die Strukturen der NATO ein Schritt, um den in den neunziger Jahren beschrittenen Weg des Nordatlantikpakts zu einer globalen Sicherheitsorganisation mit weit definierten Aufgaben und weltweiter Interventionsmacht fortzusetzen.
Militärische Bündnisse leben vor allem von geteilten Bedrohungswahrnehmungen und gemeinsamem Handeln. Die Allianz versucht bereits intensiv, die Perspektive einer dauerhaften NATO-Rußland-Kooperation zu verwirklichen: erstens durch die enge Kooperation mit Rußland im Kampf gegen den Terrorismus; zweitens durch den geplanten Einsatz des sich im Aufbau befindlichen russischen Krisenreaktionsbataillons im Rahmen von NATO-Operationen. Auch die öffentlichkeitswirksame Präsentation der eingangs erwähnten „NATO-Tage“ und die zahlreichen Aktivitäten des im Jahre 2004 gegründeten NATO-Informationsbüros in Moskau verdeutlichen, wie sehr sich die NATO um eine enge Partnerschaft mit Rußland bemüht. Bisher kämpft die Allianz jedoch wenig erfolgreich gegen ihr schlechtes Image in Rußland. Bei den Eliten und der Gesellschaft gilt sie nach wie vor als „verlängerter Arm“ der USA und Gegner Rußlands aus dem Kalten Krieg.
Insbesondere nach der Osterweiterung und den „bunten“ Revolutionen in Georgien und der Ukraine, die in klaren Bekenntnissen zur NATO endeten, lassen sich die von geopolitischem Denken geprägten Russen kaum von den guten Absichten des Bündnisses gegenüber Rußland überzeugen. Auch die russische Regierung fühlt sich umzingelt und reagiert daher mißtrauisch und zurückhaltend auf Kooperationsangebote, weil sie hinter der Rede von der Verpflichtung zu Normen und Werten der Allianz lediglich weitere Schritte zur geopolitischen Entmachtung Rußlands vermutet.
Dabei ist es für Putin nicht unattraktiv mit der USA und der NATO zusammenzuarbeiten. Im Gegensatz zu den Kontakten mit der EU hat Moskau das Gefühl, mit Washington auf gleicher Augenhöhe verhandeln zu können. Auch schwierigere Probleme löst man in den Rußland-USA-Beziehungen pragmatisch und ohne größere Komplikationen. Die sicherheitspolitischen Beziehungen mit der EU gestalten sich weitaus komplizierter, da immer auf komplexe Verflechtungen in unterschiedlichen Politikfeldern Rücksicht genommen werden muß. Zudem war es bisher erklärte Praxis der Europäischen Union, ihre außenpolitischen Kooperationsangebote an Reformziele im Innern Rußlands zu knüpfen.
Im Vergleich zu den etablierten Strukturen der NATO ist die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bisher nicht viel mehr als eine Idee. Es mangelt an militärischen Fähigkeiten und an einer gemeinsamen europäischen Identität. Die Osterweiterung der EU wirkt auf die weitere Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik der Union zudem eher kontraproduktiv. Viele der neuen Mitglieder vertreten in Sicherheitsfragen deutlich andere Auffassungen als beispielsweise Deutschland und Frankreich und haben zusätzlich ein vorbelastetes Verhältnis zu Rußland. Aber auch für die alten EU-Mitgliedstaaten ist die ESVP noch weit davon entfernt, die Sicherheitsinstitution erster Wahl zu sein, auch wenn sich erste Ansätze dafür finden lassen – z. B. die gemeinsamen Einsätzen in Mazedonien.
Die unbestrittene Stärke der ESVP ist jedoch ihre breite Akzeptanz in den europäischen Gesellschaften. Seit dem Amtsantritt der Regierung Bush jr. kennzeichnet die öffentliche Meinung in den meisten EU-Staaten einerseits ein deutliches Unbehagen gegen die von den USA dominierte NATO, andererseits die Forderung, eigene europäische Sicherheitsstrukturen herauszubilden. Zumindest hier ergeben sich starke Berührungspunkte mit Rußland. Denn die Moskauer Konzeption einer „multivektoralen“ Außenpolitik zielt darauf ab, verschiedene Machtzentren zu stärken und langfristig eine multipolare Weltordnung zu schaffen.
Die deutsche Regierung bewegt sich in dieser Frage derzeit deutlich auf Moskau zu. In der neuen Berliner Agenda für die Entwicklung der europäisch-russischen Beziehungen ist das Beharren auf liberalen Veränderungen innerhalb Rußlands einer pragmatischen und konstruktiven Perspektive gewichen. Dies geschah nicht zuletzt deswegen, weil die russischen Öl- und Gasvorkommen wertvolle strategische Ressourcen für den Aufbau einer wirkungsvollen ESVP bieten könnten. Auch im Bereich von Transportflugzeugen, Satellitenkommunikation und militärischer Aufklärung könnte Rußland der EU dringend benötigte Kapazitäten für europäische, von der NATO unabhängige, Militäreinsätze zur Verfügung stellen.
Die EU engagiert sich neuerlich im Süd-Kaukasus, das neue Nachbarschaftskonzept reicht bis weit nach Osten. Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung gemeinsamer Strukturen und ein gemeinsames Krisenmanagement der EU und Rußlands im GUS-Bereich sehr wohl vorstellbar. Die Bereitschaft Moskaus zur Zusammenarbeit mit der EU bei der Lösung des Transnistrien-Konflikts in Moldawien deutet daraufhin, daß eine derartige Kooperation durchaus im Bereich des Möglichen liegt. So könnten die Europäer bereits beim Aufbau erster ESVP-Strukturen Rußland gewinnbringend miteinbeziehen.
Die bisherige außenpolitische Linie der Putin-Regierung möglichst mit allen Partnern konstruktiv zusammenzuarbeiten wird in Zukunft kaum noch verfolgt werden können. Durch die stärkere Vergemeinschaftung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird die EU zunehmend zum Konkurrenzunternehmen für die NATO. Während es anderen Transformationsstaaten Osteuropas noch problemlos möglich war, sich in beide Bündnisse zu integrieren, wird Rußland sich in dieser Frage entscheiden müssen. Die bereits erwähnten Vorbehalte gegenüber der NATO und die multivektorale Konzeption der russischen Außenpolitik legen nahe, daß diese Entscheidung so ausfallen wird, wie Präsident Putin es bereits bei seiner Rede im Deutschen Reichstag im Jahr 2001 formulierte: mit einer „Erweiterung der Europäischen Union nach Eurasien“. Am Ende erhielte das Akronym „EU“ eine völlig neue Bedeutung. Es beschriebe eine Eurasische Union, die sich von der Estremadura bis nach Wladiwostok erstrecken würde.
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Den vollständigen Text der Rede von Bundeskanzler Schröder auf der Münchner Sicherheitskonferenz können Sie hier nachlesen. Zu den Reaktionen auf diese Rede und die Forderung einer Neuverhandlung des transatlantischen Vertrages lesen Sie den Artikel des Politikwissenschaftlers Gunter Hellmann in der FAZ. Einen Kommentar zum Vierertreffen und der europäisch-russischen „Schicksalsgemeinschaft“ finden Sie hier. Der Rußlandexperte Alexander Rahr schrieb im GUS-Barometer 37 der DGAP zu den eurasischen Ambitionen der EU. Das Informationsbüro der NATO in Moskau finden Sie hier im Netz. |
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