China ante Portas?

China ante Portas?

Ergebnisse einer Forschungsreise in die Mongolei, nach Nord-China und entlang der russisch-chinesischen Grenze

Von Kai Ehlers

EM – Gibt es eine „stille Invasion“ über Chinas Westgrenzen in den sibirischen Raum und in die Mongolei? In der Öffentlichkeit, international wie auch in Rußland, besonders in Moskau, sind solche Warnungen heute zu hören: von drei, vier, fünf und mehr Millionen Chinesen ist die Rede, die sich bereits auf russischem Territorium aufhielten, bereits eigene kommunale Strukturen entwickelt hätten etc. Auch die Mongolei wird angeblich von chinesischen Einwanderern überschwemmt. Wer diese Behauptungen vor Ort überprüft, muß sich belehren lassen: Warnungen vor einer unkontrollierbaren, millionenfachen „Expansion“ Chinas gehören in den Bereich der politischen Spekulation. Nicht in Ulan Bator, nicht in anderen Teilen der Mongolei, nicht in den Grenzstädten Sibiriens oder des Fernen Ostens gibt es eine bemerkenswerte chinesische Überfremdung oder gar ein „China Town“. Es gibt keine stille Invasion, vielmehr erhebt sich die Frage, wem Spekulationen darüber nützen.

Unter Führung Chinas ist der asiatische Raum heute der am schnellsten wachsende Wirtschaftsraum

Tatsache ist, daß China wirtschaftlich expandiert: Eine boomende Wirtschaft, ein wachsendes internationales Handelsvolumen, der Beitritt zur WTO, sowie der sichtlich steigende private Wohlstand einer wachsenden Mittelschicht Chinas legen davon beredtes Zeugnis ab. China steht heute mit einem Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 8 – 10 Prozent an der Spitze der zehn Staaten mit den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften – noch vor den USA, die den zweiten Platz belegen. Danach folgen Japan, Indien, Indonesien, Süd-Korea, dann Deutschland. Danach Thailand als weiter asiatischer Staat.

Kurz: Unter Führung Chinas ist der asiatische Raum heute der am schnellsten wachsende Wirtschaftsraum. Chinesisches Kapital sucht Anlagemöglichkeiten. Zugleich wächst die Massenarbeitslosigkeit in China. Mindestens 120 000 Millionen Wanderarbeiter ziehen heute auf der Suche nach Arbeit durchs Land, neun Millionen neue Arbeitsplätze werden zudem jedes Jahr für die immer noch wachsende Bevölkerung benötigt. 1,25 Milliarden Einwohner Chinas stehen 21 Millionen Menschen im gesamten sibirischen und fern-östlichen Rußland und 2,6 Millionen Mongolen gegenüber. Bei Fortsetzung der Ein-Kind-Ehe wird sich der Bevölkerungszuwachs Chinas nicht vor dem Jahr 2050 mit dann 1,5 Milliarden Menschen stabilisiert haben. Diese Fakten mobilisieren Ängste bei Chinas Nachbarn.

Chinas wirtschaftliche Expansion hat bisher nicht zu einer massenhaften Invasion nach Sibirien oder in den Fernen Osten geführt

Analysen örtlicher Spezialisten, die zu den Migrationbewegungen an den chinesischen Grenzen arbeiten, zeigen jedoch, daß von einer Invasion nicht die Rede sein kann. Die Zahl der sich in den Gebieten des fernen Ostens Rußlands offiziell aufhaltenden Chinesen hat sich nach vorübergehendem Anschwellen auf ca. 750.000 im Jahre 1993 inzwischen auf den Stand von ca. 250.000 eingependelt. (Das sind gemessen an der Bevölkerung Sibiriens und des fernen Ostens von 21 Millionen ca. ein Prozent, gemessen an der gesamten russischen Bevölkerung nicht einmal ein Viertel Prozent, weit weniger als etwa Türken in Deutschland, die mit etwa 4 Millionen gut 5 % der deutschen Bevölkerung ausmachen) In den Zahlen sind chinesische Touristen (ca. die Hälfte) mitinbegriffen. Die große Mehrheit der übrigen Zugereisten rotiert zudem noch aus ökonomischen wie kulturellen Gründen, das heißt, die meisten chinesischen Gastarbeiter halten sich nur übergangsweise in den Gastländern auf, aus denen sie regelmäßig zu ihren Familien in China zurückkehren. Chinas wirtschaftliche Expansion hat bisher nicht zu einer massenhaften Invasion nach Sibirien oder in den Fernen Osten geführt – weder chinesischen Kapitals noch chinesischer Arbeitskräfte. Im Gegenteil, nach Wiedereinführung des Visumzwanges durch die Russische Föderation Mitte der 90er Jahre ist die Zahl der Chinesen, die sich auf russischem Gebiet aufhalten, zurückgegangen.

Die Aktivität der Chinesen auf russischem Boden wird von russischen Spezialisten als notwendige Bereicherung ihres Landes gesehen

Die Angaben von drei, vier oder mehr Millionen chinesischer Einwanderer in die nord-westlichen Nachbarländer Chinas sind offenbar Ergebnis von Panik diktierter Hochrechnungen aus der Zeit direkt nach der Öffnung der Grenzen. Die Anwesenheit und die Aktivität der Chinesen auf russischem Boden wird von den örtlichen russischen Spezialisten zudem nicht als Gefahr, sondern als nützliche und sogar notwendige Bereicherung ihres Landes gesehen: Die chinesischen Billigwaren ermöglichten der Bevölkerung zu Zeiten der Perestroika das Überleben. Heute hat sich der Markt differenziert: Die „Neuen Russen“ decken sich mit Westwaren ein, Mitglieder der Mittelschichten kaufen auf dem russischen Markt (dort häufig übrigens chinesische Ware, allerdings besserer Qualität); aber die Mehrheit der Bevölkerung deckt die Grundbedürfnisse ihres täglichen Konsums immer noch über Billigware auf dem chinesischen Markt. Chinesische Gastarbeiter füllen die Lücken auf dem sibirischen, fernöstlichen und auch mongolischen Arbeitsmarkt – hauptsächlich in der Bauwirtschaft und im Agrarbereich. Chinesische Investitionen bewegen sich im Rahmen langfristig geplanter staatlicher Kooperationsverträge bilateraler Art oder auch im Rahmen der Shanghai-Verträge (erstmals 1996). Mongolische Experten machen vergleichbare Angaben für die Mongolei.

Das „chinesische Problem“ besteht somit nicht in einer unkontrollierten Invasion unerwünschter chinesischer Migranten über die Grenzen der Nachbarländer. Die Ein-Kind-Politik Chinas weist zudem darauf hin, daß China keine ungebremste Expansion seiner Bevölkerung will. Das Problem besteht augenblicklich vielmehr in dem massiven illegalen Grenzverkehr mafiotischen und räuberischen Charakters. Die gegenwärtige Situation nützt den Kräften in Rußland und in der Mongolei, die Ressourcen des eigenen Landes (Holz, Wolle, Felle, Edelmetalle, Gas, Öl) in großem Maßstab illegal nach China verschieben. Überdies nützt sie den Grenzkontrolleuren, die gewaltige Schmiergelder einstreichen. Statt den notwendigen Austausch in der Region künstlich einzuschränken und in die Illegalität zu drängen, muß eine Politik, die an der Entwicklung des eigenen Landes interessiert ist, die zur Zeit durch mangelnde Rechtssicherheit illegalisierten Beziehungen in eine legale und offene Wirtschaftsentwicklung des Raumes überführen. Sie sollte daher nicht auf Einschränkung der Verbindungen zu China zielen, sondern im Gegenteil auf den Bau von Brücken über den Amur, von Bahnlinien, von Fern-Trassen, von Pipelines – kurz: auf den Ausbau einer kontrollierbaren ökonomischen und auch kulturellen Infrastruktur des Raumes, wie es die Verträge von Shanghai vorsehen.

In diesem Rahmen kommt der Mongolei zwischen den Giganten China und Rußland eine besondere Rolle als politisch stabilisierender und neutralisierender Faktor zu. Durch das Hinzutreten der Mongolei als neutraler Transitraum zwischen den Giganten Rußland und China, aber auch Japan, erhält die Dualität der chinesisch-russischen, wie auch generell der ost-westlichen Beziehungen einen wesentlichen Impuls zur Entwicklung einer multipolaren Neuordnung des sibirisch-zentralasiatischen Raumes, das heißt auch zu einer echten Alternative gegenüber einer unipolaren Neuordnung internationaler Beziehungen.

Wladimir Putin: Rußland ist ein euro-asiatisches Land

Es ist demnach unsinnig, von einer „chinesischen Gefahr“ zu sprechen. Zu sprechen ist vielmehr von einer Chance zur multipolaren Entwicklung des zentralasiatisch-sibirische Raums, in dem China eine wichtige Rolle spielen kann. Die russische Politik hat dies klar erkannt. Nicht anders sind die programmatischen Worte Wladimir Putins zu verstehen, mit denen er sich kurz nach seiner Amtsübernahme im Internet einführte. Er erklärte seinerzeit, Rußland müsse seine Interessen als euro-asiatisches Land wahrnehmen, indem es Beziehungen nach Westen/Europa wie nach Asien und in den Orient gleichermaßen entwickle. Diese Position hat er seitdem – trotz aller scheinbaren West-Orientierung des „Deutschen im Kreml“ immer wieder bekräftigt und durch Besuche in Sibirien, dem Fernen Osten und China, sowie seiner Haltung zu Korea unterstrichen. Die multipolare Orientierung Rußlands wurde auch unter den Bedingungen der neuen Partnerschaft mit den USA keineswegs aufgegeben, sondern wird weiter aktiv verfolgt. Als Präsident Bush nach dem 11. September in Moskau weilte, trafen sich in St. Petersburg die Mitglieder der Shanghai-Organisation, um ihre Kooperation zu intensivieren und sich eine Charta zu geben. Auch die europäische Politik ist sich der Bedeutung des nord-west-asiatischen Entwicklungsraumes bewußt. Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärte kürzlich, eine multipolare Entwicklung in dieser Region liege im Interesse Europas.

Wem nützt der Mythos von einer „chinesischen Invasion“?

Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, wem der Mythos von einer „chinesischen Invasion“ nützt. Die Frage ist einfach zu beantworten: Er nützt allen den Kräften, die Interesse daran haben, die Entstehung einer wirtschaftlichen und politischen Alternative im sibirisch-asiatischen Raum, die den Keim einer multipolaren Weltordnung in sich trägt, zu stören oder gar zu verhindern. Es ist die Ideologie einer möglichen Konfrontation. Ihr entgegenzutreten liegt im Interesse aller, die an einer friedlichen Entwicklung einer neuen Völkerordnung interessiert sind.

Mehr von Kai Ehlers finden Sie unter http://www.kai-ehlers.de.

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