09.08.2023 13:11:56
EUROPÄISCHER REGIONALISMUS
Von Julia Scharfreiter-Carrasco
ie war schon immer eine der Fußballhauptstädte Europas: die Metropole Barcelona im Nordosten Spaniens, die den größten Fußballverband der Welt in ihren Mauern birgt. Jetzt ist Barcelona auch Hauptstadt einer eigenen Nation. So mancher Urlauber an der felsigen Costa Brava oder in den Altstadtcafés der Touristenorte mag sich verwundert die Augen gerieben haben, als die Zeitungen das neue Motto Kataloniens auf ihren Titelseiten zitierten: „Som una nació“ - Wir sind eine Nation.
Und doch ist es wahr. Madrid hat ein neues Autonomie-Statut für Spaniens wirtschaftlich zweitstärkste Region (sechs Millionen Einwohner) verabschiedet, in dem dies festgeschrieben ist. Das Oberhaus des Madrider Parlaments verabschiedete am 11. Mai eine neue Landesverfassung für die Region in Nordostspanien mit 128 zu 125 Stimmen bei sechs Enthaltungen. Die 6,8 Millionen Katalanen sollen im Juni in einem Referendum über den Text abstimmen. Das Statut gewährt der Region eine größere finanzielle und politische Eigenständigkeit als bisher. Nach dem jetzt erzielten Kompromiss dürfen sich die Katalanen künftig als „Nation“ bezeichnen. Das Vorhaben wird vor allem von den Sozialisten (PSOE) des spanischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero unterstützt und von den katalanischen Nationalisten (CiU), die er für seine Regierungsmehrheit braucht. Die neue Regelung räumt der Region einen größeren Anteil des Steueraufkommens bei der Einkommensteuer sowie der Benzin- und Tabaksteuer ein. Außerdem soll Katalonien mehr Einfluss auf die Justiz erhalten.
Nach Ansicht des katalanischen Regierungschefs Pascual Maragall zieht Katalonien damit lediglich mit anderen europäischen Regionen gleich. Er verweist darauf, dass sich die deutschen Bundesländer Bayern und Sachsen beispielsweise als „Freistaat“ bezeichnen.
Aber in Katalonien - katalanisch Catalunya, spanisch Cataluña - ist doch alles ein bisschen anders. Amtssprachen sind zum Beispiel zuerst Katalanisch, dann Spanisch. Die katalanische Sprache ist mit der lateinischen verwandt. Sie hat sich eigenständig entwickelt, seit die römischen Besatzer der iberischen Halbinsel das Gebiet von Katalonien im 19. Jahrhundert n. Chr. zu ihrer Provinz Hispania Tarraconensis erhoben.
Im virtuellen Raum sind die Katalanen ebenfalls vielen ihrer europäischen Nachbarn weit voraus. Sie haben im September 2005 durch die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers ICANN die Internetendung (Top Level Domain, TLD) „.cat“ für Katalonien genehmigt bekommen. Es ist die erste TLD überhaupt, die eine regionale Sprache und Kultur repräsentiert.
Die Autonomiebestrebung in Katalonien ist ungeheuer virulent. Tausende Menschen haben in diesem Frühjahr in Barcelona für die Anerkennung Kataloniens als Nation demonstriert. Ein Meer von Flaggen mit den Symbolen Kataloniens überschwemmte immer wieder das Zentrum von Barcelona. Und überall wurde das Motto skandiert und auf Transparenten gezeigt: „Som una nació“.
An der Spitze der Bewegung marschierte stets Josep Lluís Carod, Chef der Esquerra Republicana (ERC), der Partei, die am eifrigsten die Nationalen Autonomiebestrebungen unterstützt. Eine der Kundgebungen mit etwa 5.000 Menschen, die von der „Campaña Unitaria por la Autodeterminación“ organisiert war, verlangte sogar die völlige Unabhängigkeit von Spanien und den Status einer eigenständigen Nation, die in Brüssel vertreten sein soll.
Nicht zuletzt unter diesem Eindruck war es zur Entscheidung des Oberhauses im spanischen Parlament gekommen, den Katalanen ein neues Autonomie-Statut zu gewähren. „Wir müssen endlich einsehen, dass die Pluralität der spanischen Gesellschaft eine Bereicherung und keine Bedrohung darstellt, und dieser Tatsache Rechnung tragen“, hatte Regierungschef Zapatero seine Verhandlungsbereitschaft mit der im katalanischen Barcelona regierenden Dreierkoalition aus Sozialisten, Nationalisten und Ökosozialisten begründet. Jeder weiß natürlich, dass er ohne dieses Entgegenkommen keine Regierungsmehrheit hätte.
Von der oppositionellen Volkspartei brachte ihm seine Bereitschaft, einer starken katalanischen Autonomie das Wort zu reden, heftige Attacken ein. Sie warnte eindringlich vor einem Auseinanderdriften des spanischen Staates. Bei der Volkspartei fürchtet man insbesondere, dass das Statut andere Regionen wie das Baskenland oder Galicien zu neuen Forderungen nach mehr Unabhängigkeit verleiten wird. Auch aus dem spanischen Militär hatte es einzelne Stimmen gegen die Ausweitung der Autonomie gegeben.
Die Befürchtungen der Volkspartei scheinen keineswegs aus der Luft gegriffen: Die sozialistische Regierung Andalusiens hat schon klargestellt, dass sie ebenfalls eine eigene „nationale Realität“ sei. In Galizien reden die mit den Sozialisten regierenden Lokalnationalisten sogar drohend von „Reparationsforderungen“ an den spanischen Staat und beziffern sie auf 24 Milliarden Euro. Die Regierungen der Inseln von den Kanaren bis zu den Balearen überlegen, ob nicht auch sie einen autonomen Status durchsetzen könnten. Und im Baskenland kündigen die dort regierenden Nationalisten nach dem „permanenten Waffenstillstand“ der baskischen Terrororganisation Eta schon einmal an, dass der Frieden nur dann dauerhaft sein werde, wenn das „baskische Volk“ endlich seine politische Zukunft selbst bestimmen könne.
Hauptziel der katalanischen „Nation“ ist nach Ansicht vieler spanischer Politiker nicht so sehr die nationale Anerkennung, sondern ein viel nüchterner Aspekt: Es geht wohl vor allem um die Transferzahlungen für ärmere Regionen, sowie die Verteilung der Steuergelder. Katalonien ist nach Madrid die zweitreichste Region Spaniens, und viele Katalanen ärgern sich, wenn sie die Haushalte ärmerer Gebiete wie der spanischen Estremadura mit ihren Steuern finanzieren sollen. Der Amtsvorgänger von Zapatero, José María Aznar vom konservativen Partido Popular (PP) war in seiner Regierungszeit (1996-2004) auch auf die Unterstützung katalanischer und baskischer Nationalisten angewiesen. Er erhöhte unter dem Druck der Regionalparteien den Anteil der Regionen am Aufkommen der Mehrwert- und Einkommensteuer von 15 auf 30 Prozent. Zapatero will nun sogar auf 50 Prozent aufstocken. Er hat außerdem versprochen, die staatlichen Investitionen in Katalonien entsprechend seinem Anteil am spanischen Brutto-Inlandsprodukt zu bemessen.
Dennoch sind nicht alle politischen Kräfte in Katalonien mit dem neuen Autonomiestatut einverstanden. Unzufrieden ist vor allem die ERC. Sie möchte die absolute Steuerhoheit sowie die Amtsgewalt über Häfen, Flughäfen und die nationalen Luxushotels Paradores für die katalanische „Nation“. Außerdem fordert sie eigene nationale katalanische Sport-Teams, also im Prinzip eine katalanische Fußball-Nationalmannschaft. Die Auseinandersetzung geht mithin weit über den auch in anderen Ländern herrschenden Sprachenstreit hinaus. Bei dem für den 18. Juni angesetzten katalanischen Reformreferendum, in dem die Bevölkerung über das neue Autonomiestatut entscheidet, dürfte es dennoch eine Mehrheit geben, denn derzeit kann Katalonien mehr einfach nicht erreichen.
Schon lange gibt es äußerst skurrile Auswüchse des katalanischen Nationalbewusstseins. So wurde unlängst bekannt, dass die katalanische Regionalregierung in neun Krankenhäusern Barcelonas ohne Einwilligung der Betroffenen fast tausend Patientengeschichten auf die verlangte Anwendung der katalanischen Sprache überprüfen hat lassen. Nationalstolz geht vor Datenschutz.
Es gibt auch so etwas wie eine Sprachenpolizei in Katalonien. Sie hat ihre Aktivität in den letzten Jahren deutlich erhöht und unterwirft die Bevölkerung einer strengen Überwachung. Wer als Unternehmer in Geschäften, Bars und Restaurants das Angebot nicht in katalanischer Sprache angibt, muss Strafe bezahlen. Besonders penible Katalanen können sich bei der Sprachpolizei beschweren, wenn das Katalanische nicht zumindest ebenbürtig zum Spanischen gebraucht wird. Wer nur Spanisch spricht, hat in Barcelona und im übrigen katalanischen Gebiet schlechte Karten, auch wenn Katalonien noch immer in Spanien liegt.
Zur Taufe der Tochter des spanischen Kronprinzenpaars im Januar verlangte eine „Organisation für Vielsprachigkeit“, dass der Name des Taufkindes bei allen Verlautbarungen in vier Versionen wiederzugeben sei. Das heißt außer auf Spanisch auch auf Katalanisch, Galizisch und Baskisch. Das Töchterchen heißt auf Spanisch Leonor de Borbón y Ortiz. Auf Katalanisch müsste sie Leonor de Borbó i Ortiz benannt werden, auf Galizisch Leonor de Borbón e Ortiz und auf Baskisch Leonor Borboiko eta Ortiz.
Als im letzten Frühjahr bekannt wurde, dass Katalonien Gastregion der Frankfurter Buchmesse 2007 wird, gab es sofort Krach. Die Katalanen und ihre Kultusbürokratie wollten ausschließlich Bücher in katalanischer Sprache vorstellen. Dabei schreibt kaum ein bedeutender spanischer Autor auf Katalanisch. Auch die international erfolgreichen Schriftsteller Kataloniens selbst bedienen sich überwiegend des spanischen Idioms. Der Streit ist noch nicht ausgestanden. Im Vorfeld der Buchmesse wird er wohl wieder lautstark werden.
Der Regionalismus galt in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Hoffnungsfaktor der Regionen, die fürchteten im heraufziehenden Europa unterzugehen. Er bezeichnete das Bestreben einer Region das durch Abgrenzung von anderen Gebieten danach trachtete, seine landschaftliche, historische oder ethnische Besonderheit zu bewahren. Auch gegen die eigenen starken zentralistischen Staaten, wie etwa Frankreich, wo das übermächtige Paris versuchte alles zu regeln. Regionalismus war die Hoffnung der Südtiroler, der Flamen, der Elsässer, der Korsen, der Katalanen, der Basken etc. Sie strebten nach größerer Selbstverantwortung und Autonomie gegenüber der staatlichen Zentralmacht. Es bildeten sich regionale Bewegungen, die in den vergangenen Jahren nicht selten sehr viel für ihre Regionen erreichten.
Eine dieser regionalen Bewegungen ist auch die bis heute bestehende ARGE ALP, die Arbeitsgemeinschaft der Alpenländer. Sie wurde am 12. Oktober 1972 auf Initiative des damaligen Tiroler Landeshauptmannes Eduard Wallnöfer in Mösern gegründet. Heute gehören der ARGE ALP zehn Länder an: Tirol, Salzburg, Vorarlberg, Südtirol, Trentino, Lombardei, Bayern, Graubünden, St. Gallen, Tessin. Die ARGE ALP hat das Ziel, gemeinsame Probleme und Anliegen der Mitgliedsländer, insbesondere auf ökologischem, kulturellem, sozialem und ökonomischem Gebiet, durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu lösen. Die Alpen sollen als starker und selbstbestimmter Wirtschafts-, Lebens- und Kulturraum für die dort lebende Bevölkerung erhalten bleiben.
Die ARGE ALP ist eine inzwischen auf allen politischen Ebenen bis hin zur Europäischen Union akzeptierte und teils sogar geschätzte Institution. Vergessen ist, dass das Motto ihrer militanteren Vertreter in den 70er Jahren lautete: „Los von Bonn, los von Wien, los von Rom!“
Inzwischen ist der regionale Nationalismus aber in einigen EU-Mitgliedsländern zu einem drängenden Problem geworden. Nicht nur für Spanien, wo der katalanische und der baskische Nationalismus an den Fundamenten des Gesamtstaates rütteln. In einer aktuellen Studie untersucht die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik die Vorgänge in den europäischen Regionen. Sie stellt fest: „Die italienische Lega Nord bekräftigt ihre Forderung nach einer Abspaltung Norditaliens, Bürgermeister Südtirols rufen das benachbarte Österreich zur Wahrnehmung seiner ‚Schutzmachtrolle’ auf, und die autonomen Regionen Katalonien und das Baskenland haben ihre Autonomiestatuten mit der spanischen Zentralregierung gekündigt.“
Was sich in den einzelnen Ländern abspielt wird in der Studie „Regionaler Nationalismus - Aktuelle Gefahren für die Europäische Integration“ von der Autorin Sabine Riedel auf 40 Seiten akribisch aufgelistet. Sie schreibt u. a: „Bezeichnenderweise sind es oft die reicheren Regionen, in denen der regionale Nationalismus Erfolg hat. Selbst die Anhänger eines pro-europäischen ‚demokratischen Nationalismus’ wollen ihre wirtschaftlichen Ressourcen nicht mit anderen Regionen teilen, am wenigsten mit denen des eigenen Nationalstaats. Ihren separatistischen Kurs begründen sie mit kulturalistischen Argumenten, die intolerant und teils offen fremdenfeindlich sind. Ihre Zusammenarbeit in Euroregionen, mit der sie ihre pro-europäische Haltung unterstreichen, erweist sich als eine Vereinigungsstrategie mit angrenzenden Territorien.“
Die Regionalisten der verschiedenen Länder arbeiten auch mit anderen Regionen zusammen, um ihre Interessen besser vertreten zu können. „Diese Entwicklungen werden von Regionalparteien angestoßen“, schreibt Sabine Riedel, „die mittlerweile in allen Fraktionen des Europaparlaments mitwirken.“
Immer wieder werden auch Versuche unternommen, Regionalsprachen in den Rang einer offiziellen EU-Sprache erheben zu lassen. Auch die Katalanen haben dies mehrfach versucht, bisher ohne Erfolg. In solchen Vorstößen zeigt sich auch etwas vom regionalen Dilemma Europas. Der Anspruch Kataloniens erscheint bei Lichte betrachtet nämlich gar nicht so ganz aus der Luft gegriffen. Denn während alle Sprachen der zehn Millionen Belgier – Niederländisch für die Flamen, Französisch für die Wallonen und Deutsch für die Minderheit der Rheinfranken - in den Gremien der Europäischen Union benutzt werden können, ist das von mehr als acht Millionen Menschen gesprochene Katalanische nicht repräsentiert.
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