Der Fluch und die Hoffnung von KatynPOLEN - RUSSLAND

Der Fluch und die Hoffnung von Katyn

Laut Umfragen vom April 2010 betrachten 38 Prozent aller Polen das polnisch-russische Verhältnis als „ganz schlecht“ oder „eher schlecht“. Vor zwei Jahren waren nur 27 Prozent der Polen dieser Ansicht. 81 Prozent der Polen meinen, dass „die Verbrechen von Katyn“ das Verhältnis zu Russland belasten, 14 Prozent mehr als 2008. Dennoch bot sich gerade im April 2010 die Chance, dass aus dem Tiefstpunkt des bilateralen Verhältnisses - Katyn und die Ermordung von 21.768 polnischen Offizieren am 5. März 1940 - eine polnisch-russische „pojednanie“ (Versöhnung) erwachsen könnte.

Von Wolf Oschlies

D er Pole Donald Tusk und der Russe Wladimir Putin gaben sich in Katyn die Hand und bekundeten ihren ehrlichen Willen zur Versöhnung. Damit ist die Chance gegeben, die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Hintergrund eines Verbrechens 

Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 hatte den Sowjets freie Hand gegeben, sich an Hitlers Zerschlagung Polens aktiv zu beteiligen. Am 17. September 1939 annektierte die Rote Armee die ostpolnischen Regionen, wobei zahlreiche polnische Offiziere in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten. Am 5. März 1940 schlug Innenminister Lavrentija Berija Stalin vor – das Schriftstück blieb erhalten -, 14.700 polnische Offiziere und 11.000 polnische „Mitglieder von verschiedenen konterrevolutionären Gruppen“ zu erschießen. Stalin und die anderen Mitglieder der sowjetischen Führung stimmten zu, und von April bis Mai 1940 fanden in Smolensk, Charkov, Kiev und anderen Städten die Erschießungen statt. Die meisten Leichen verscharrte man in den Wäldern von Katyn bei Smolensk, etwa 250 Kilometer westlich von Moskau.

Die ganze Aktion sollte streng geheim bleiben, aber natürlich erfuhren die russischen Einwohner der Region davon. Nach Beginn des deutschen „Unternehmens Barbarossa“ gegen die Sowjetunion, als Smolensk von deutschen Truppen besetzt war, informierten die Russen polnische Zwangsarbeiter des deutschen Bauzugs Nr. 2005. Dadurch erfuhren dann auch die Deutschen von dem Verbrechen. Anfänglich waren sie freilich eher desinteressiert. Erst am 13. April 1943 berichtete der deutsche Rundfunk, bei Katyn seien die Leichen polnischer Offiziere gefunden worden, die von Truppen des sowjetischen Innenministeriums (NKWD) ermordet worden waren. Aufgrund zahlreicher aufgefundener Dokumente seien sie zweifelsfrei identifiziert worden.

Diese Befunde wurden später vom Internationalen Roten Kreuz bestätigt, an dessen Arbeit sogar polnische Experten beteilig waren. Laut deutschen Protokollen wurden 4.143 Leichen exhumiert und identifiziert. Diese Zahl erhöhte sich später durch sowjetische Dokumente auf 11.000. Bis etwa 1990 war offizielle sowjetische Version, dass Deutsche die Morde begangen hätten, was die Sowjets auch erfolglos im Nürnberger Prozess 1945/46 zu beweisen suchten. Erst durch Gorbatschows „Perestrojka“ kam die volle Wahrheit allmählich ans Licht.

70 Jahre später: Russische und polnische Annäherung

Anfang 2008 kam Andrzej Wajdas erschütternder Film „Katyn“ in die Kinos, auch in die russischen.  Zum 7. April 2010, dem 70. Jahrestag des Massakers von Katyn, lud Putin neben Premier Tusk auch Wajda und andere polnische Prominente – Ex-Premier Mazowiecki, Ex-Präsident Walesa etc. – nach Smolensk ein, um mit klaren Worten ein historisches Unrecht als solches zu kennzeichnen. Das war mutig von ihm, denn laut Umfragen des russischen Levada-Zentrums wissen die Russen wenig über Katyn, wollen auch keine Verantwortung ihres Staates dafür sehen, weil das Verbrechen von Katyn ja bekanntlich von Deutschen verübt worden ist.

Da war Putin eine positive Ausnahme, wenn er die „ermordeten Polen“ als „Opfer von Stalins Totalitarismus“ bezeichnete und versprach: „Wir sind verpflichtet, das Gedenken an die Vergangenheit zu bewahren, und wir werden das tun, mag die Wahrheit auch noch so bitter sein“. Ein kleines Schlupfloch behielt er sich offen, indem er das russische Lügenmärchen wiederholte, die Polen hätten im Krieg gegen die Sowjets 1920 etwa 32.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet, wofür sich Stalin 1940 gerächt habe.

Ganz anders, nämlich härter und ergreifender war die Ansprache des Polen Tusk, der Katyn als „versuchten Mord an einem ganzen Volk“ bezeichnete. „Die Wahrheit über Katyn ist der Gründungsmythos des unabhängigen Polens“, sagte er, „denn wir Polen sind alle eine große Katyn-Familie“. Das kam an, auch und gerade bei russischen Medien: „Unsere gemeinsamen Opfer müssen unsere beiden Völker verbinden“ – war der Tenor der russischen Presse.

Putin kann den „Ruhm“ verbuchen, eine der größten Dummheiten der Gegenwart ausgesprochen zu haben, als er am 25. April 2005 in der Duma ausführte, der Zerfall der Sowjetunion sei „die schwerste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen. An solche verqueren Urteile erinnerten auch die „Siegesfeiern“ von 2010. Davor aber war Putins Rede in Katyn, in welcher er erklärte, dass Stalins „Verbrechen in keiner Weise gerechtfertigt werden können“. Und: „In unserem Land wurde eine klare politische, rechtliche und moralische Verurteilung der Verbrechen des totalitären Regimes vorgenommen. Diese Verurteilung unterliegt keiner Revision“.  

Kaczynski: Held oder Verleumder?

Was bei den Gedenkfeiern so hoffnungsvoll begonnen hatte, endete in unerwarteter, unfassbarer Weise: Am Sonnabend, dem 10. April, stürzte um 8.56 Uhr bei Katyn  das Flugzeug des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski ab und riss 96 Personen in den Tod, die „Elite der Nation“, wie es Lech Walesa formulierte. Das will etwas heißen, denn zur „Elite“ zählte auch der Präsident, den Walesa aus tiefster Seele und gegebenem Anlass hasste.

Walesa war 1980 Führer der regimefeindlichen Gewerkschaft „Solidarnosc“ (der zeitweilig jeder vierte Pole angehörte). 1983 wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen. Von 1990 bis 1995 war Lech Walesa Staatspräsident Polens und bis heute dessen bester Repräsentant in der Welt. Doch im Jahr  2007 wurde er von Slawomir Cenckiewicz und Piotr Gontarczyk vom „Institut Nationales Gedächtnis“ (IPN) - polnisches Pendant der deutschen Birthler-Behörde - in einem Buch beschuldigt, unter dem Tarnnamen „Bolek“ als Agent des kommunistischen „Sicherheitsdienstes“ (SB) gearbeitet zu haben.

Ausgerechnet Walesa, dem General Jaruzelski, 1981 Zerstörer der „Solidarnosc“, noch im Mai 2005 in einer Fernsehsendung bestätigte, er habe wie kein anderer zum Sturz des Regimes beigetragen. Walesa nahm das gelassen hin, davon überzeugt, er werde nach dieser Verleumdung so untadelig dastehen wie am 13. Dezember 2006, als der polnische Sejm des 25. Jahrestages von Jaruzelskis „Kriegszustand“ und dessen 56 Todesopfern gedachte und den anwesenden Walesa mit lang anhaltendem und dankbarem Beifall feierte.

Hurensöhne und Dummschwätzer

Hinter dem Gerücht, Walesa sei Zuträger kommunistischer Menschenjäger gewesen, steckten Walesas Erzfeinde Jaroslaw und Lech Kaczynski, Ex-Premier und Präsident Polens, die er so oft und drastisch als „Idioten“, „Hurensöhne“, „Dummschwätzer“ etc. beschimpft hatte. Lech Kaczynski bekundete unlängst, er habe „Walesa von Anfang an nicht ausstehen“ können und sich auch dem „Kult“ um diesen verweigert. Walesa konterte, die Zwillingsbrüder hätten eingangs der 1990-er Jahre Führungspositionen im Sicherheitsapparat Polens innegehabt und ihn zur Überwachung politischer Gegner missbraucht. Aber das hatte keinen Erfolg, und bereits im September 2002 war Lech Kaczynski von einem Danziger Gericht wegen Verleumdung Walesas zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden.

Ende 2007 kündigte Walesa an, er wolle Präsident Kaczynski gerichtlich verklagen. Im Februar 2007 hatte Walesa Lech Kaczynski als „duren“ (Dummkopf) bezeichnet und ihn samt Bruder Jaroslav ärztlicher Fürsorge empfohlen, denn „die sind krank vor Dummheit“. Solche Ausfälle hätte ihm gerichtlichen Ärger wegen Beleidigung des Präsidenten einbringen können, worauf er, der erste Staatspräsident des postkommunistischen Polens, sich regelrecht freute: „Für meine ehrlichen Worte sitze ich mit Freude im Gefängnis“. 

Diese Dinge sind in Polen natürlich nicht vergessen, unter der Schockwirkung der Flugkatastrophe von Smolensk aber für den Moment ausgemustert. Nach Jahren hasserfüllten Streits und tiefer Gräben zwischen politischen Lagern vereint die Trauer alle Polen. Wobei um Kaczynski kaum Trauer zu herrschen schien: Wenig Bilder in den TV-Gedenksendungen, kein Originalton von ihm, dem reaktionären, bigotten, xenophoben und europafeindlichen Provinzler, unter dem Polens Image so sehr gelitten hat.

Eine unfassbare Opferliste

Bis zum 16. April bestand in Polen Staatstrauer, binnen 14 Tagen muss die Neuwahl eines Präsidenten ausgeschrieben, binnen 60 Tagen abgehalten sein. Danach wird die Abrechnung folgen, die am Abend des Unglückstags General Waldemar Skrzypczak, ehemaliger Chef der polnischen Luftlandetruppen, anmahnte: Dieses Unglück konnte nur geschehen, weil bei dem Flug elementarste Regeln verletzt wurden.

Unter den Toten von Smolensk waren auch Jacek Surowka, Leiter der Präsidialkanzlei, und Jerzy Szmajdzinski, ehemaliger Verteidigungsminister und dann Parlamentsvizepräsident. Kanzlei und Ministerium wählen die zivilen und militärischen Teilnehmer von Staatsreisen aus und müssen darauf achten, dass nicht zu viele hohe Staatsbedienstete in einem Flugzeug reisen. Das gilt in Polen generell und verstärkt seit dem Januar 2008, als bei einem Flugzeugunglück die 16 höchsten Luftwaffenoffiziere umkamen. Aber was nützen Gebote, wenn sie so gröblich wie jetzt missachtet werden?

Unter den Toten von Smolensk waren Generalstabschef F. Gagor, Luftwaffenchef A. Blasik, Marinechef A. Karweta, Kommandeur der Garnison Warschau K. Gilarski, nationaler Sicherheitschef A. Szczyglo etc. Diese Toten erinnerten polnische Kommentatoren an den 4. Juli 1943, als bei einem Rückflug von Gibraltar General Wladyslaw Sikorski, Chef der polnischen Exilregierung in London, unter ungeklärten Umständen tödlich verunglückte. Wenige Monate zuvor waren die sowjetischen Verbrechen, begangen an polnischen Offizieren in Katyn, entdeckt worden, weswegen der Verdacht nie ruhte, Sikorski sei einem sowjetischen Anschlag erlegen.

In Smolensk verstarb jetzt auch Ryszard Kaczorowski, geboren 1919 und 1989/90  letzter Präsident der polnischen „Exil-Republik“. Zu betrauern waren zudem Präsidentengattin Maria Kaczynska, Ombudsman Janusz Kochanowksi, Nationalbank-Präsident Slawomir Skrzypek, Solidarnosc-Heldin Anna Walentynowicz (gegen die, wäre sie im Macho-Land Polen ein Mann gewesen, Lech Waldesa keine Chance gehabt hätte), 18 Parlamentarier, darunter drei Vizepräsidenten des „Sejm“, Geistliche usw. bis hin zu den sieben Mitgliedern der Crew.
 
Wer hat diese „Blüte Polens“, wie es in ersten Nachrufen hieß, pflichtwidrig in ein Flugzeug steigen lassen? Das ist nur eine von vielen Fragen, die noch am Tag des Unglücks General Waldemar Skrzypczak und mit ihm Journalisten, Kommentatoren etc. stellten. In nächster Zukunft werden sie Gegenstand ernsthafter Untersuchungen sein, wobei zu klären ist:
•          Wieso flog Polens Präsident in einer bejahrten Maschine des sowjetischen Typs Tupolew-154?
•          Warum vernachlässigte die Armee den Auftrag, sich um die Modernisierung des Flugparks der Regierung zu kümmern?
•          Wer wenn nicht der Präsident selber, hat dann Flugkapitän Arkadiusz Protasiuk gedrängt, trotz übelster Wetterbedingungen vier Landeanflüge in Smolensk zu wagen?
•          Drängte der Präsident auf eine sofortige Landung, um mit seiner Begleitung nicht zu spät zu der polnisch-russischen Gedenkfeier für Katyn zu kommen?
•          Ist Kaczynski allein schuld, der  schon 2008 einen Piloten wegen „Befehlsverweigerung“ feuerte, als dieser eine riskante Landung in Georgien ablehnte?
•          Warum ignorierten die polnischen Piloten die Anordnungen der russischen Flugkontrolle, einen anderen Flughafen anzusteuern?
•          Konnte Kapitän Protasiuk nur schlecht oder sehr gut Russisch? Warum hat der Flughafen Smolensk seine Anordnungen auf Russisch gegeben, wo der dortige Funkverkehr generell auf Englisch abliefe? 
•          Wieso folgten die Polen nicht dem Beispiel einer russischen Maschine, die 30 Minuten vor ihnen einen Landeversuch abbrach und nach Moskau zurückflog?   

Der Fluch von Katyn

„Katyn ist ein verfluchter Ort“, sagte fassungslos Ex-Präsident Aleksander Kwasniewski, „1940 ist dort die Elite Vorkriegspolens ermordet worden, nun starb dort die Elite der jetzigen Republik. Das ist wie ein Messerstich ins Herz“.

Diese Elite war auf dem Weg zu Gedenkfeiern des 70.Jahrestags der Ermordung von über 20.000 polnischen Offizieren durch Stalins Geheimdienst. Das geschah im April 1940 in Katyn und die Parallelität der Ereignisse ist in der Tat unglaublich. Aber das Flugzeugunglück hat alles geändert: Russen trauerten mit Polen, halfen bei allen Untersuchungen, Putin hat seinen polnischen Partner Tusk mitfühlend umarmt? Hat es das in der Geschichte polnisch-russischer Beziehungen schon einmal gegeben?
 
Das Medienecho auf das Treffen von Katyn war mehr als positiv, auch wenn manche Polen eine förmliche „Entschuldigung“ Putins vermissten. Aber auch ohne sie war spürbar: Russen zeigten „pokajanie“ (Reue), Polen Bereitschaft zu „pojednanie“ (Versöhnung), beide konstruktive Nachbarschaftlichkeit: Putin sagte Tusk russische Gaslieferungen bis 2037 und weitere Energievorhaben bis 2045 zu. Tusk war rundum zufrieden: „Russen und Polen wünschen bessere Beziehungen, und ich bin überzeugt, dass wir heute einen Durchbruch erreicht haben, einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Aussöhnung.“

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